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3. MENSCH
Sachgemäß ist es zu sagen:
l Wie auch bei
anderen Religionen stehen die Belange des Menschen im Vordergrund des Islam.
l Der Islam
sieht den Menschen – wie viele (mono-)Theistische Religionen, insbesondere
Judentum und Christentum – als „Geschöpf Gottes“ und Statthalter Gottes auf
Erden.
l Der
Erschaffung des Menschen geht nach dem Koran der Einspruch der Engel voraus, die
im Menschen ein Geschöpf sehen, das Unfrieden stiftet und Blut vergießt. Gott
begegnet diesem Widerspruch, indem er dem Menschen/Adam Kenntnisse über die
gesamte Schöpfung gibt und ihm damit über die Engel setzt:
Er (Gott) sagte:
„Fürwahr, Ich weiß, was ihr nicht wisst.“ Und Er brachte Adam alle Namen bei,
dann
brachte er diese vor
die Engel und sagte: „Nennt mir die Namen dieser Dinge, wenn ihr wahrhaftig
seid!“ Sie sprachen:
„Gepriesen seist Du. Wir haben kein Wissen außer dem, was Du uns gelehrt hast;
wahrlich, Du bist
der Allwissende, der Allweise.“ Er sprach: O Adam, nenne ihnen ihre Namen!“ Und
als er ihnen ihre
Namen nannte, sprach Er: „Habe Ich nicht gesagt, dass Ich das Verborgene der
Himmel
und der Erde weiß,
und dass Ich weiß, was ihr offenbart und was ihr verborgen gehalten habt.“ (Sure
2,30 -
33).
l Zum Zeichen
ihrer Unterordnung forderte Gott von den Engel, sich vor Adam niederzuwerfen.
Alle außer dem Großengel Iblis, der sich für höherrangig als der Mensch hielt,
folgten dieser Aufforderung. Als Konsequenz wird eine Feindschaft zwischen Iblis
und den Menschen abgeleitet, die jeden Menschen ein Leben lang bedroht.
l Als eine der
ersten Versuchungen Iblis´/des Teufels berichtet der Koran von der Verführung
des Urelternpaares zum Bruch des Gottesgebotes im Paradies, sich einem
bestimmten Baum zu nähern. Dieser Ungehorsam Adams hat die Vertreibung des
Menschen und Satans aus dem Paradies zur Konsequenz. Adam bereut seine Sünde und
Gott verzeiht ihm. Dieses Verhältnis von Reue und Vergebung ist bestimmend für
das koranische Verhältnis zwischen Mensch und Gott.
l Das Wesen des
Menschen als Geschöpf Gottes ist also gekennzeichnet von einer direkten,
unmittelbaren Beziehung zu Gott.
l Der Mensch
übernimmt die Verantwortung für die übrige Schöpfung. Er soll seine
Mit-Schöpfung (Umwelt, besser: Mitwelt, zu der auch die himmlischen Wesen
gehören) bewahren und nicht zerstören.
l In diesem
Sinne wird der Mensch als ḫalĩfa (= Vertreter) Gottes
charakterisiert.
l Bei der
Beschreibung des Schöpfungsaktes demonstriert der Koran in aller Klarheit die
Willensfreiheit des Menschen als unerlässliche Voraussetzung der Beziehung
zwischen Gott und Mensch. (Vgl. Sure 2,30 ff.; 20,116 ff.; 7,11 ff.)
l Nach dem
Koran ist der Mensch wegen seiner Unzulänglichkeit ständig den Versuchungen
Satans ausgesetzt. Er ist daher jederzeit auf die raḥma (Barmherzigkeit)
Gottes und dessen Bereitschaft zur Vergebung angewiesen.
l Die Größe des
Menschen liegt darin, dass er sich aufgrund der ihm gewährten Willensfreiheit
für Gott oder Satan entscheiden kann bzw. mit Hilfe der raḥma Gottes
seine ihm bei der Erschaffung mit auf den Weg gegebenen Anlage der
Gottausgerichtetheit (dĩn al-fițrah – vgl. Sure 30,29) entfalten kann.
l Gottes
Barmheizigkeit manifestiert sich auch in seiner Fürsorge für den Menschen in
allen Bereichen. Diese Fürsorge wird mit dem Begriff rabb (Herr)
gekennzeichnet und bestimmt das faktische Verhältnis Gottes zum Menschen, der
als ʽabd (Diener) charakterisiert wird.
l Der Begriff
rabb implizieret auch den Gedanken der Erziehung und Rechtleitung (vgl.
das hebrähische Wort „Rabbi“). Nur in dieser Relation zu rabb ist das
Wort ʽabd richtig zu verstehen. ʽAbd meint nicht „Knecht“ oder
„Diener“, der zugunsten seines Herrn handelt, sondern jemanden, der zur
Entfaltung seiner von Gott gegebenen Anlagen dessen umfassende Fürsorge in
Anspruch nimmt.
l Das Vertrauen
in den von Weisheit getragenen, fürsorglichen Willen Gottes hilft dem Muslim,
sich vor den Ängsten gegenüber allen anderen „Mächten“ zu schützen.
l Eines der
hauptsächlichen Missverständnisse gegenüber dem Islam gründet sich auf einer
unsachgemäßen Gegenüberstellung von göttlichem und menschlichem Willen.
Tatsächlich bezieht sich die göttliche Allmacht und ihr Wille auf Gottes
ständige fürsorgliche Schöpferkraft, während der freie Wille des Menschen die
unabdingbare Voraussetzung für die Erfüllung der ihm übertragenen Verantwortung
gegenüber Gott, Mitmenschen und Mitwelt ist.
l Mit der
Bewertung des Verhältnisses zwischen der Willensautonomie Gottes und dem freien
Willen des Menschen hängt ein weiterer Problemkomplex zusammen, der zu
Missverständnissen über das koranische Menschenbild Anlass gibt: das islamische
Phänomen al-qaḍã´wa l-qadar (Entscheidung und Ausführung). Islamisch
verstanden bedeutet dies ein ständiges Anwesendsein Gottes, das die
Entscheidungen des Menschen begleitet. Es wird oft negativ als
freiheitsberaubende Vorherbestimmung interpretiert und mit Fatalismus und
Schicksalsgläubigkeit gleichgesetzt. Muhammad verkündete aber kein impersonales
Schicksal, sondern einen personalen Schöpfergott, der sich seinen Geschöpfen
fürsorglich zuwendet.
l Ein häufig
als Beleg für das islamische Prädestinationsprinzip zitierter Koranvers (17,13)
lautet im vollen Zusammenhang:
Und jeden
Menschen – befestigt haben wir ihm sein țã´ír
(d. h. durch seine Taten bzw. Untaten
entstandenes Omen, Los) an seinem Hals, und heraus wollen wir für ihn holen am
Tage der
Auferstehung ein Buch, das ihm geöffnet vorgelegt werden soll (und wir werden zu
ihm sprechen):
Lies Dein Buch, du selbst sollst Rechenschaft über dich ablegen. Wer
rechtgeleitet ist, der ist nur
rechtgeleitet zu seinem eigenen Besten, und wer irregeht, der geht irre allein
zu seinem Schaden;
und nicht soll tragen eine beladene Seele noch eine andere Last. Und wir strafen
nicht eher, bevor
wir einen Gesandten schickten.
Unmissverständlich zeigt dieser Koranvers, dass hier nicht
von einem vorherbestimmten Schicksal/Kismet die Rede ist, das Gott dem Menschen
aufgezwungen hat, sondern von einem durch das eigene Verhalten des Menschen mit
voller Verantwortung erworbenen Los. Aus diesem Koranvers geht klar hervor, dass
jedem einzelnen Menschen als einzigem Geschöpf die Verantwortung für seine freie
Wahl zwischen Glaube (Rechtleitung) und Unglaube (Irrweg) übertragen worden ist.
Der Vers widerspricht damit einer Erlöser-Erwartung und auch einem besonderen
Priestertum.
l Das im
Volksglauben anzutreffende Wort Kismet kann seine theologische Grundlage
und Erfahrungshintergrund nur in Ereignissen haben, über die der Mensch keine
Macht hat: Leben, Tod, Naturkatastrophen usw., also Ereignissen, die eine
säkulare Sicht als „Zwänge“, „Zufälle“ u. ä. deutet. Der Muslim sieht sich bei
Ereignissen, deren Beeinflussung nicht in seiner Macht steht, in Gottes Hand und
kann so im Vertrauen auf ihn sein seelisches Gleichgewicht wahren und ohne Angst
leben.
Unsachgemäß ist:
l das Verhalten
des Menschen zu Gott als ein Knecht-Herr-Verhältnis zu deuten, bei dem der Herr
für seinen eigenen Vorteil seinen Diener mit – für diesen nicht immer
einsichtigen – Aufgaben betraut;
l aus diesem
Herrn-Knecht-Verhältnis darüber hinaus ableiten, dass ein mächtiger Herr den
Menschen unterwirft, ihm seine Kleinheit ständig vor Augen führt und als eine
Marionette seine Macht missbraucht;
l dass sich im
Islam alles um die beherrschende Macht Gottes gegenüber einem bedeutungslosen
Menschen dreht. Stattdessen bezieht sich die häufige Betonung der göttlichen
Macht im Koran in erster Linie auf Gottes Macht gegenüber feindlichen Mächten:
zum Beispiel anderen angeblichen Gottheiten und Satan, die aus dem
Wirkungsbereich des menschlichen Lebens ausgeschaltet werden müssen;
l aus der
Beziehung rabb-ʽabd abzuleiten, dass der Mensch durch eine eigene
Leistung Anspruch auf göttlichen Lohn bzw. göttliche Strafe erwirbt
(Paradies/Hölle);
l dass der
Islam eine Gesetzesreligion bzw. eine Religion der Werkgerechtigkeit im
protestantischen Sinne sei. Das Gegenteil ist zutreffend: Islam ist eine
Religion der Barmherzigkeit/raḥma;
l dass der
Mensch als unfreies Wesen der beherrschenden macht eines Willkürgottes
ausgeliefert ist;
l der Islam zu
einer Prädestinationsreligion zu machen;
l aus dem
Vertrauen des Menschen in den fürsorglichen Gott Passivität und mangelnde
Verantwortung der Muslime für die Welt abzuleiten;
l aus einem
unterstellten Herrn-Sklaven-Verhältnis dem Menschen die Verantwortung gegenüber
der Mitschöpfung abzusprechen;
l dem Islam
Sorglosigkeit gegenüber dem Phänomen Sünde/Böses zu unterstellen und zu
behaupten, dass der Mensch ohne göttliche Hilfe durch eigene Kraft das Heil
erreicht. Tatsache dagegen ist, dass jeder überzeugte Muslim sich ständig seiner
eigenen Unzulänglichkeit Gott gegenüber bewusst ist.
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