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1. Der historische Jesus nach dem Bericht
der Bibel
1.1 Hat er
wirklich gelebt? Was wir sicher über ihn wissen
Hat Jesus wirklich
gelebt? Ist er eine Erfindung des Christentums? Eine solche Frage wird in der
heutigen Bibelwissenschaft nicht mehr gestellt und die vielen Jesus-Bücher, die
es heute gibt, stellen eins nicht in Zweifel – dass er wirklich gelebt hat.
Trotzdem lohnt es sich, religiösen Zweifel ernst zu nehmen und sich auch dieser
Frage zu stellen. Gibt es unanfechtbare Beweise, dass er wirklich gelebt hat?
Ja! Wenn sich seine Freunde wie seine erklärten Gegner darin einig sind, dass er
gelebt hat, dann kann man eigentlich seine Existenz nicht bezweifeln. Über Jesus
gibt es, wenn man an die historischen Quellen zu seinem Leben und seiner
Botschaft denkt, nicht nur die Evangelien, die vom christlichen Standpunkt über
ihn berichten. Auch Nicht-Christen, die an sich keinen Grund hätten, über ihn zu
berichten, erwähnen Jesus, seine Taten und seine Botschaft und setzen
selbstverständlich voraus, dass er gelebt hat. Das gilt für einen jüdischen
Geschichtsschreiber, Flavius Josephus, der über ihn und das Judentum seiner Zeit
berichtet hat, und das gilt auch für erklärte Gegner des Christentums, wie zum
Beispiel den römischen Geschichtsschreiber Tacitus, auch wenn diese Quellen von
einigen Autoren angezweifelt werden. Es gibt noch einen weiteren eher
psychologischen Grund. Dass Jesus am Kreuz den Tod eines politischen Verbrechers
gestorben ist und keine höhere Macht und keine Macht der Welt eingriff, hat
seine Anhänger in tiefe Zweifel gestürzt. Vielleicht war doch nichts dran an ihm
und seiner Botschaft? – so haben viele gedacht. Dann aber entsteht aus kleinen
Anfängen eine Weltreligion und seine ersten Anhänger setzen sich furchtlos für
seine Sache ein. Sie hätten dies bestimmt nicht getan, wenn dieser Jesus ein
Phantom, ein Phantasiegebilde gewesen wäre, wenn nicht seine Person, sein Leben,
seine Botschaft eine Spur hinterlassen hätten, die eine einzigartige Wirkung
hinterließ. Auch der Jude Flavius Josephus zieht dies nicht in Zweifel, wenn er
nach seiner Jesus-Darstellung abschließend notiert: „Als ihn auf Anklage unserer
vornehmen Männer Pilatus mit dem Kreuzestod bestraft hatte, ließen sie nicht von
ihm ab, die ihn früher geliebt hatten. Noch bis heute hat das Geschlecht derer
nicht aufgehört, die nach ihm Christen genannt werden.” Die Evangelien wie auch
die jüdischen und römischen Quellen, die über Jesus berichten, schildern Jesus
als einen Mann einfacher Herkunft mit einer erstaunlichen Anziehungskraft. Seine
Gegner haben ihn deshalb für einen Betrüger und Volksverhetzer gehalten. Seine
Freunde und die frühesten Berichte über ihn, die Evangelien, betonen seine
Menschlichkeit. Bis heute ist jeder, der sich mit Jesus befasst, aufgerufen,
sich seine eigene Meinung zu bilden.
Jörg Bohn
1.1.1
Die frühesten Quellen –
Aus einem Religionsbuch
Über
Jesus gibt es sehr unterschiedliche Meinungen.
Können wir irgendetwas Nachprüfbares über ihn
wissen? Es gibt einen Weg, um hier weiterzukommen. Suche nach den ältesten
Nachrichten, also nach Quellen über Jesus. Aber suche nicht nur nach den
ältesten, sondern auch nach verschiedenen Quellen mit einem unterschiedlichen
Blickwinkel oder Vorverständnis. Ein bisschen ist diese Suche einem Kriminalfall
vergleichbar, den du aufklären möchtest. Da musst du Zeugen befragen, die
möglichst nahe „dran sind” am Geschehen, und du solltest möglichst verschiedene
Zeugen
befragen. An die Punkte, in denen die Aussagen der Zeugen oder Quellen
übereinstimmen, kannst du dich halten. Kurz und gut – es gibt drei einfache
Regeln. Regel eins lautet: Suche nach den ältesten Quellen. Regel zwei lautet:
Vergleiche die Quellen und prüfe, in welchen Punkten sie übereinstimmen. Regel
drei lautet: Versuche, möglichst viel über den Menschen, seine Umgebung und
seine Zeit herauszufinden, von dem diese Quelle stammt. Dann kannst du sein
Vorverständnis oder seinen besonderen Blickwinkel besser einschätzen. [...] Eine
der wichtigsten Quellen stammt von einem römischen Geschichtsschreiber [...]. Er
heißt Tacitus [Publius
Cornelius Tacitus (55–120 n. Chr.)]
und hat
von 55 bis 120 n. Chr. gelebt. [...] Er hatte Zugang zu wichtigen Informationen,
die den römischen Staat und seine Tätigkeit betrafen. In seinem Buch „Annales”,
das du mit „Jahrbücher“ oder „Bericht über die laufenden Ereignisse“ übersetzen
kannst, erzählt er auch über die Regierung des Kaisers Nero, der für die erste
größere Christenverfolgung verantwortlich war. Der Zeitpunkt, auf den Tacitus in
seiner Quelle eingeht, ist der Brand Roms im Jahre 64 n. Chr. Der wichtigste
Abschnitt aus der römischen Quelle über Jesus und das Christentum, die von
Tacitus stammt, lautet folgendermaßen:
Um dieses Gerücht
(der Kaiser habe Rom selbst anzünden lassen) zu unterdrücken, gab er andere als
schuldig an und bestrafte mit ausgesuchten Martern jene, die das Volk allgemein
Christen nennt und die wegen ihrer Schandtaten verhasst waren. Dieser Name hat
seinen Ursprung in Christus, welcher unter der Regierung des Tiberius durch den
Landpfleger Pontius Pilatus mit dem Tode bestraft worden war. Ihr zunächst
zurückgedrängter Aberglaube brach aufs Neue hervor, nicht bloß in Judäa, wo
dieses Übel entstanden war, sondern auch in Rom.
Beim Lesen dieser
Quelle wirst du auf einen wichtigen
Namen
gestoßen sein, der auch im Neuen Testament vorkommt: „Pontius Pilatus”. Er war
[...]
„Provinzgouverneur” und damit der ranghöchste römische
Offizier
in dem Teil Israels, der direkt unter römischer
Verwaltung
stand. Dazu gehörte auch die
Hauptstadt
Jerusalem. Die römischen [...] „Prokuratoren”
in Israel
hatten ihren Regierungssitz in Cäsarea,
einer
großen und prächtigen Stadt an der Mittelmeerküste. Bei Ausgrabungen in
Cäsarea ist man auf einen Beweis gestoßen, dass es Pilatus gegeben hat und dass
er Präfekt oder Prokurator unter dem Kaiser Tiberius in dem römischen Verwaltungsgebiet „Judäa” war. Eine wichtige – allerdings umstrittene – jüdische
Quelle über Jesus stammt von Flavius Josephus [Flavius
Josephus (37–97 n. Chr.)].
Er schrieb in Rom um 93 n. Chr. die „Antiquitates” oder
„Jüdischen
Altertümer”, in denen er die jüdische Geschichte von ihren Anfängen bis in seine
Lebenszeit hinein darstellt. Flavius Josephus hat die wichtigsten religiösen
Gruppen oder Parteien zur Zeit Jesu aus eigener Anschauung gekannt.
Zu dieser Zeit lebte
Jesus, ein weiser Mann (wenn man
ihn
überhaupt einen Menschen nennen darf). Er tat
wunderbare
Werke (und war ein Lehrer der Menschen,
die mit
Freuden die Wahrheit aufnahmen). Viele Juden
und Heiden
zog er an sich. (Er war der Messias.) Und
als ihn
auf Anklage unserer vornehmen Männer Pilatus
mit dem
Kreuzestod bestraft hatte, ließen sie nicht ab von ihm, die ihn früher geliebt
hatten. (Er erschien ihnen nämlich am dritten Tag wieder lebendig, wie
gottgesandte Propheten von ihm verkündet hatten.)
Noch bis
heute hat das Geschlecht derer nicht aufgehört,
die nach ihm
Christen genannt werden.
Natürlich
müssen wir auch nach den ältesten christlichen Quellen
über Jesus
suchen.
Die
zeitlich früheste Nachricht stammt aus dem Brief des Paulus an die Gemeinde in
Thessaloniki (Nordgriechenland) aus dem Jahre 49/50 n. Chr. Sie lautet:
„Ich möchte euch
aber über das Geschick
der Toten
nicht im Unklaren
lassen,
denn ihr sollt nicht trauern
wie die
anderen, die keine Hoffnung
haben.
Wenn wir nämlich glauben,
dass Jesus
gestorben und auferstanden
ist, dann
wissen wir auch, dass Gott die Toten mit Jesus aus dem Tode holen und mit ihm
ins Leben führen wird.”
Eine zweite wichtige
Nachricht
stammt aus
dem Brief des Paulus
an die
Gemeinde von Korinth aus
dem Jahre
56 n. Chr. Sie lautet:
„Denn ich habe Euch vor allem das weitergegeben, was ich selbst empfangen habe:
Dass Christus für unsere Sünden gestorben ist, dass er begraben worden und am
dritten Tag von den Toten auferstanden ist, wie die Propheten ankündigten. Dass
Petrus ihn sah und nach ihm alle Zwölf, dass er später von mehr als fünfhundert
Brüdern zugleich gesehen wurde, von denen viele noch leben und einige andere
inzwischen verstorben sind. Dann sah ihn Jakobus, dann sahen ihn alle Apostel.
Zuletzt erschien er auch mir, der viel zu spät zum Glauben und zum Leben kam.”
1. Kor.
15,3ff.
Jörg Bohn: Jesus
verstehen, Religion 10. Schuljahr, ILS, Hamburg 1999, S. 11ff.
1.1.2
Was wir heute über Jesus wissen, oder:
Das Bild eines jungen Juden
Wie sah Jesus aus?
Vielleicht so Es handelt sich um ein auf Holz gemaltes Bild eines Juden (etwa
1.–3. Jahrhundert n. Chr.), das sich in einer Grabstätte bei einer Mumie befand.
In Ägypten lebten ca. 1 Million Juden, von denen viele die Sitte der
Mumifizierung übernahmen. In der Trockenheit der Grabkammer hat dieses Porträt
aus der Zeit Jesu die Zeiten überdauert. Dieses Bild soll dazu anregen, ein
erstes grundlegendes Arbeitsergebnis der modernen Jesus-Forschung zur Kenntnis
zu nehmen. Es könnte so formuliert werden: Wer Jesus verstehen will, muss ihn
als Juden und Orientalen verstehen. Wer Jesus schätzt oder schätzen möchte,
sollte auch das Judentum, den „Wurzelgrund” seines Lebens und seiner
Auffassungen, schätzen lernen. Der Weg zu Jesus wäre demnach ein Weg zu seinen
jüdischen Wurzeln und in seinen Lebensraum, die Wüste.
Jörg Bohn: Der
historische Jesus, ILS, Hamburg 2004, S. 26f
Unser europäisches
Jesus-Bild ist oft anders. Wir sehen Jesus eher als Europäer, als „einen von
uns”. Ein Beispiel hierfür könnte ein moderner Jesus-Film sein. Er stammt von
dem italienischen Regisseur Zeffirelli. Sein Jesus-Darsteller hat deutliche
europäische Züge. Auch in früheren Zeiten haben Menschen sich Jesus so
vorgestellt, wie sie ihn gern sehen wollten. Er sollte ihren Vorstellungen
entsprechen und die Eigenschaften haben, die ihnen selbst besonders sympathisch
waren.
Jörg Bohn
1.2 Jesus und seine Zeit
Jesus lebte in einer
Zeit, die von heftigen Konflikten geprägt war. Es herrschten Unfreiheit,
Ausbeutung und Gewalt, und die große Mehrheit der jüdischen Bevölkerung sehnte
sich nach einer Zeitenwende, die wieder Freiheit, soziale Gerechtigkeit und
Frieden bringen sollte. Die Unfreiheit war bedingt durch die Herrschaft des
Römischen Reiches über Israel. Das Land war aufgeteilt in ein größeres Gebiet,
das direkt unter römischer Herrschaft stand und in mehrere kleinere Gebiete, die
von Herrschern aus der Familie des Herodes regiert wurden, die von Rom und dem
Kaiser abhängig waren. Das große Problem, unter dem das Volk, genauer die Masse
der Landbevölkerung, litt, war eine unerträgliche Steuerlast. Neben diesem
wirtschaftlichen Druck, den das Römische Reich ausübte, kamen noch Übergriffe
der römischen Prokuratoren ( = hohe Beamte, die im Auftrag des Kaisers in Rom
über eine Provinz herrschten), die die religiösen Gefühle der Bevölkerung
verletzten. Der Prokurator Pilatus, der nach dem Bericht der Evangelien für den
Tod Jesu verantwortlich war, ging so grausam gegen die jüdische Bevölkerung vor,
dass der Kaiser Tiberius ihn wegen Unfähigkeit absetzen und verbannen ließ. Es
gab also zwei große Konflikte, unter denen die jüdische Bevölkerung zu leiden
hatte. Der erste Konflikt war der zwischen dem jüdischen Volk und der römischen
Besatzungsmacht. Etwa 40 Jahre nach dem Tod und der Auferstehung Jesu entlud
sich dieser Konflikt in einem großen Aufstand, den Rom und der Kaiser nur unter
erheblichen militärischen Anstrengungen niederschlagen konnten und der gewaltige
Opfer unter der jüdischen Bevölkerung kostete. Der zweite Konflikt war ein
Konflikt zwischen einer kleinen und sehr reichen jüdischen Oberschicht und der
Masse der sehr armen jüdischen Bevölkerung, vor allem der Landbevölkerung im
Norden Israels, in Galiläa, wo Jesus lebte und wirkte. Die Sehnsucht der
jüdischen Bevölkerung nach Freiheit, sozialer
Gerechtigkeit und Frieden konzentrierte sich in der Hoffnung auf das Kommen des
Reiches Gottes. Unter dem Reich Gottes stellte sich die jüdische Bevölkerung
eine Gesellschaft oder einen Staat vor, in dem das Volk sich selbst regierte und
in dem nur noch die Gesetze Gottes, also die Gebote der Tora, herrschen sollten.
Diese würden soziale Gerechtigkeit und Frieden gewährleisten und über diese
Gesetze würde Gott selber, aber nicht mehr der Kaiser in Rom herrschen.
Natürlich wurde die Hoffnung auf das Reich Gottes von der römischen
Besatzungsmacht mit größtem Misstrauen betrachtet und wer sich unter der
jüdischen Bevölkerung für das Kommen des Reiches Gottes engagierte, wurde als
Staatsfeind betrachtet. Für Jesus und seine Bewegung war das Reich Gottes der
Mittelpunkt ihrer Hoffnungen und ihres Engagements.
Jörg Bohn
1.2.1
Die Macht Roms und der Fuchs auf dem
Herrscherthron
Das Römische Reich
zur Zeit Jesu war ein Weltreich, dessen Gebiet sich über drei Kontinente
erstreckte. Große Teile Europas, Nordafrika und der Nahe Osten waren römisch.
Rom herrschte direkt, indem die beherrschten Gebiete Teil einer römischen
Provinz waren, die direkt von einem Statthalter bzw. Prokurator oder Präfekten
beherrscht wurden. Oder es herrschte indirekt über örtliche Herrscher, die im
Auftrag Roms herrschten. In Israel, der Heimat Jesu, gab es beide Systeme. Ein
Teil des Landes, vor allem der Süden, war Teil einer Provinz und wurde von einem
Prokurator, dem schon in der Bibel genannten Pilatus regiert. Die Herrschaft
über die anderen Gebiete teilten sich zwei Söhne aus der Familie des Herodes.
Dieser Herrscher, Herodes der Große genannt, hatte ursprünglich die Herrschaft
über fast alle Gebiete bis zu seinem Tod inne. In der Zeit, in der Jesus
öffentlich wirkte, waren Galiläa, seine Heimat, und ein weiteres Gebiet im Osten
(Peräa) unter der Herrschaft eines Sohnes von Herodes des Großen. Er hieß
Herodes Antipas und war Tetrarch. Den Titel „Tetrarch” könnte man frei übersetzt
mit „Fürst” wiedergeben. Sein Bruder Philippus beherrschte ein weiteres Gebiet
im Norden und Osten. Herodes Antipas wird mehrfach in den Evangelien erwähnt. Er
galt als grausam und verschlagen. Jesus nannte ihn deshalb einen „Fuchs”. Jesus
wurde einmal von den Pharisäern vor Herodes gewarnt. Dieser, so die Pharisäer,
wolle ihn töten und er, Jesus, solle schleunigst das Land verlassen, was Jesus
auch tat.
Jörg Bohn
1.3 Die Botschaft Jesu
Alle Welt träumte
damals von einer besseren Welt und einer besseren Zukunft. Genauer gesagt galt
das für die große Mehrheit des jüdischen Volkes, für die Armen, für die kleinen
Leute! Manche hatten auch die Hoffnung aufgegeben und meinten, die Macht des
Bösen, die Macht Satans, sei viel zu groß, und man könne gegen das Unrecht, die
Unterdrückung und den Unfrieden nichts machen. Eine kleine Schicht, die reichen
Unternehmer, die Großgrundbesitzer und die mächtigen Priester am Tempel in
Jerusalem hatten sich mit den Römern arrangiert. Man hielt still, riskierte
keinen Aufstand und hoffte, dass man in Ruhe gelassen würde. Die Hoffnung auf
eine bessere Zukunft hatte einen Namen. Man nannte diesen Zustand, den man
herbeisehnte, „Reich Gottes”. Das alte deutsche Wort „Reich” bedeutet Staat. Das
Reich Gottes war also ein Staat, in dem niemand anders regierte als Gott oder
seine Gesetze, also die Gebote, die in der Tora standen, wodurch dann
gewährleistet war, dass endlich Frieden und Gerechtigkeit herrschten und der
Kaiser in Rom seine Macht verlor. Das Reich Gottes muss man sich also als das
genaue Gegenteil des Römischen Reichs und seiner Verwaltung vorstellen. Im Reich
Gottes hatte auch Herodes nichts mehr zu sagen und die große Kluft zwischen Arm
und Reich würde es nicht mehr geben. Es gab viele Gruppen im jüdischen Volk, die
gut organisiert waren und praktisch etwas für das Reich Gottes tun wollten. Sie
wollten das jüdische Volk bessern. Solche Gruppen, die die Erneuerung oder
Besserung des jüdischen Volkes im Auge hatten, kann man auch, da sie im
jüdischen Volk arbeiteten, innerjüdischen Reformbewegungen nennen. Auch Jesus
und seine Anhänger, seine Jünger, muss man sich in historischer Sicht als eine
innerjüdische Reformbewegung mit dem Ziel des Reiches Gottes vorstellen.
Zwischen den verschiedenen Reformbewegungen gab es große Unterschiede in der Art
und Weise, wie man für das Kommen des Reiches Gottes arbeiten wollte. Die eine
schon erwähnte Gruppe der Pharisäer wollte das jüdische Volk dazu erziehen, die
Gesetze und Gebote der Tora genau einzuhalten. Damit würde man die Menschen
besser machen und das Kommen des Reiches Gottes beschleunigen. Wer dazu nicht
bereit war, also die Gruppe der Sünder, musste aus der Gemeinschaft des Volkes
ausgeschlossen und/oder streng ermahnt und kritisiert werden. Eine andere
Gruppe, die Zeloten (= Eiferer, Fanatiker) genannt wurde, wollte mit der Waffe
in der Hand gegen die Römer kämpfen. Man muss sich diese Gruppe wie heutige
fanatische Gotteskrieger vorstellen, die mit Attentaten gegen die verhasste
Macht des Römischen Reiches losschlagen wollten um dann so etwas wie einen
Gottesstaat zu errichten. Jesus und seine Gemeinschaft, die Jesus-Gruppe, dachte
und verhielt sich anders. Sünder sollten nicht ausgegrenzt oder diskriminiert
werden, wie sein Verhalten gegenüber dem Oberzöllner Zachäus zeigte. Er wollte
auch keine Gewalt gegenüber Fremden, den Römern, sondern wollte, dass jeder
Mensch als Mensch respektiert würde, dass man seinen Feind überzeugen, das heißt
„entfeinden” und nicht umbringen sollte. Jesus hielt auch nicht viel davon, sich
auf den Opfergottesdienst im Tempel in Jerusalem zu konzentrieren, wie es die
mächtige Gruppe der Tempelpriester wollte. Diese waren der Meinung, dass man
Gott durch Opfer, genauer durch Tieropfer, milde stimmen könnte und dass über
den Gottesdienst im Tempel das Volk wieder mit Gott versöhnt werden könnte.
Jesus dachte anders. Seine Auffassung war diese: Gott will nicht das Opfer,
sondern Menschlichkeit, genauer, ein menschliches Verhalten gegenüber allen
Mitmenschen. Wenn wir lernen würden, unserem Mitmenschen zu verzeihen, dann
würde Versöhnung und Frieden ganz von selbst entstehen. Jesus dachte sich den
Weg zum Reich Gottes als einen Weg vieler konkreter Schritte und vor allem hatte
er ein großes Vertrauen darin, dass Gott selber eingreifen und die Welt zum
Besseren wandeln würde, dass die Macht des Bösen gebrochen wäre und dass sich
Menschen mit Gottes Hilfe selbst befreien würden. Dazu müssten sie konkrete
Schritte unternehmen. Erstens müsste man damit anfangen, eine neue Gemeinschaft
in kleinen Schritten zu schaffen. Gemeinschaften, in denen die Menschen
friedlich, gerecht und in gegenseitiger Rücksichtnahme zusammenleben würden. Er
benutzte als Bild oder Modell für solche Gemeinschaften das Bild eines großen
Festes oder einer Hochzeit, wo man fröhlich, friedlich und gleichberechtigt
zusammen feiern würde. Zweitens müssten Menschen lernen, ihr Verhalten zu
verändern, also wirkliche Friedensstifter und Freunde der Gerechtigkeit werden.
Drittens ginge dies nicht anders als durch ein neues Bewusstsein, durch ein
Umdenken. Alle drei, Gemeinschaftsbildung, Verhaltensänderung und die Bildung
eines neuen Bewusstseins, müssen eine Einheit, einen inneren Zusammenhalt,
bilden. Und diese Idee vom Kommen des Reiches Gottes durch eine neue
Gemeinschaft, durch ein neues Verhalten und durch ein neues Bewusstsein hat
Jesus in vielen Geschichten, so genannten „Gleichnissen”, verdeutlicht und er
hat diese Idee im Kreise seiner Anhänger und durch sein konkretes Verhalten
vorgelebt.
Jörg Bohn
1.4 Die Ethik Jesu
Das Wort „Ethik” stammt aus
der griechischen Philosophie und bedeutet so etwas wie „Lehre vom richtigen
Verhalten”. In der Ethik geht es also letztlich um die Frage, wie ich mich
meinem Mitmenschen gegenüber verhalten soll. Die Mehrzahl der Worte Jesu handeln
vom Tun, vom richtigen Verhalten. Sie sind Gebote, also Hinweise auf Dinge, die
man unbedingt tun soll. Die beiden wichtigsten Gebote Jesu, auf die er immer
wieder zurückgekommen ist, sind das Gebot der Nächstenliebe und das der
Feindesliebe. Was sie genau bedeuteten, wird in den folgenden Materialien
erklärt. Genau so wichtig wie die genaue Kenntnis dieser beiden Gebote ist die
Art und Weise, wie Jesus gelebt hat, sein Verhalten anderen Menschen gegenüber.
Das, was er gefordert hat von sich und von anderen Menschen, hat er auch gelebt,
so dass man seine Lehre eigentlich an seinem Verhalten ablesen kann. Richtig
leben, das hat Jesus sehr deutlich gemacht, fängt damit an, dass ich mich
selbst ändere und mein Verhalten überprüfe. So etwas nennt man Selbstkritik oder
Bescheidenheit. Er hat auch Menschen immer wieder zum Nachdenken aufgefordert.
Zum Nachdenken über die Zeichen der Zeit, zum Lernen aus Erfahrungen. Er nannte
es Klugheit und hat Klugheit sehr geschätzt. Seid so klug wie die Schlangen und
seid ehrlich und ohne Hintergedanken wie die Tauben – das hat Jesus einmal
gesagt. Zum ehrlichen Handeln ohne Hintergedanken gehörte für Jesus auch, keinen
Menschen auszugrenzen, zu diskriminieren. Mit diesen Verhaltensweisen,
Bescheidenheit, Klugheit und der Weigerung, auch nur irgend jemanden zu
diskriminieren, hat Jesus viele Zeitgenossen beeindruckt. Aber er hat sich auch
viele Feinde geschaffen. Das aber hat er in Kauf genommen und auch seine
Mitmenschen und vor allem Anhänger aufgefordert, mutig zu sein, nicht vor
Feindschaft und Verfolgung zurückzuschrecken und Dinge, die nicht in Ordnung
sind, öffentlich zu kritisieren. Er nannte diese Bereitschaft zur Kritik und
Auseinandersetzung den Willen und die Bereitschaft, „sein Kreuz auf sich zu
nehmen”: Seine Ethik könnte man also in wenigen Grundsätzen zusammenfassen: Gib
ein Beispiel, vor
allem für Menschlichkeit. Dies wäre ein erster Grundsatz. Besser Unrecht
erleiden, als selber welches zu tun. Das wäre ein zweiter Grundsatz. Lass
niemals zu, dass ein Mensch in seinen Menschenrechten und seiner Menschenwürde
verletzt wird und scheue dich nicht, einzugreifen. Dies wäre ein dritter. Dass
Jesus diese Grundsätze gelebt hat, macht die Bedeutung seiner Ethik aus.
Jörg Bohn
1.5 Konflikte und Gegner
Jesus konnte Menschen
für sich gewinnen. Er war, wie moderne Jesusforscher hervorheben, eine
charismatische, andere Menschen anziehende Persönlichkeit. Aber auch das
Gegenteil gilt. Er starb – ganz im Gegenteil zu anderen Religionsstiftern wie
Buddha oder Mohammed – eines gewaltsamen und einsamen Todes. Auch seine Jünger
und Anhänger haben ihn allein gelassen und einige haben ihn verraten, wenn man
an Petrus und Judas denkt. Er hat sich viele und mächtige Gegner gemacht, so
dass sein gewaltsamer Tod als politischer Aufrührer verständlich wird, wenn man
die historischen Tatsachen berücksichtigt. Die Hauptkonflikte spielten sich mit
drei Gruppen ab: mit radikal gesetzestreuen Kreisen im Judentum, die die Tora
besonders ernst nehmen wollten und darüber oft zu religiösen Fanatikern wurden.
Gemeint sind nicht die Pharisäer, mit denen Jesus zum Teil gute Beziehungen
hatte, sondern – modern gesprochen – ultra-orthodoxe oder fundamentalistische
Kreise innerhalb des Judentums seiner
Zeit. Die zweite Gruppe, die für seinen Tod mitverantwortlich war, sind die
Tempelpriester am Tempel in Jerusalem, die ihn an die Römer auslieferten. Die
dritte Gruppe bildete die römische Staatsmacht, die in der Person des
Statthalters Pontius Pilatus direkt für seinen Tod verantwortlich war. Neben diesen drei
Hauptkonflikten mit den ultraorthodoxen und fundamentalistischen Frommen, den
Tempelpriestern und der römischen Staatsmacht gab es noch einen vierten Aspekt,
der hinzugerechnet werden muss, wenn man den Tod Jesu historisch verstehen will.
Jesus hat mit äußerster Schärfe die sozialen Ungerechtigkeiten seiner Zeit, den
Egoismus der Reichen und Mächtigen, kritisiert. Er war – modern gesprochen – so
etwas wie ein Sozialrevolutionär, wie es auch Johannes der Täufer war, der
ebenfalls einen gewaltsamen Tod starb. Diese scharfe Sozialkritik machte ihn zu
einem Unruhefaktor in den Augen der Mächtigen seiner Zeit und schuf auf der
anderen Seite den Grund dafür, dass Jesus unter den Armen Galiläas und unter den
Menschen, die sich nach einem radikalen Umsturz zum Besseren sehnten (Hoffnung
auf das Reich Gottes), viele Anhänger hatte. Diese Menschen, so berichten die
Evangelien, „hörten ihn gern”.
Jörg Bohn
1.5.1
Konflikt mit den religiösen Fanatikern
und Fundamentalisten seiner Zeit – Jesus und die Ehebrecherin (Johannes 8,1–11)
Jesus war ein
gesetzestreuer Jude, der die Gesetze und Gebote der Tora ernst nahm und klar und
deutlich machte, er sei nicht gekommen, die Gebote aufzulösen, sondern zu erfüllen.
Trotzdem gab es Konflikte mit religiösen Gegnern. Den genauen Konflikt kann man
so beschreiben: Jesus stellte ein Gebot der Tora in den Mittelpunkt, die
Nächstenliebe, die Menschlichkeit, Solidarität auch mit den Sündern und
Außenseitern forderte. Gab es einen Konflikt zwischen diesem Gebot und einem
Einzelgebot der Tora, musste man nach seiner Auffassung nach der Hauptsache,
also im Sinne der Menschlichkeit, entscheiden. Das andere Gebot war dann weniger
wichtig. Zweitens traute Jesus dem Menschen zu, selbständig zu denken und zu
entscheiden und die Gebote so auszulegen, dass sie dem Menschen und dem Leben
dienten. Die ultra-orthodoxen Kreise, die religiösen Fanatiker und
Fundamentalisten, die keineswegs mit den Pharisäern und Schriftgelehrten
gleichzusetzen waren, sahen dies anders. Nicht der Mensch sollte über die Gebote
nachdenken und selbständig entscheiden, sondern die Gebote sollten als unbedingt
verpflichtende Lebensregel und
göttliches Gesetz über den Menschen herrschen. Wer wie Jesus anders dachte und
entschied, war in ihren Augen ein Gotteslästerer. Zweitens waren in ihren Augen
alle Gebote gleich wichtig. Ein Mensch durfte sich nicht anmaßen, zwischen wichtigen und weniger wichtigen Geboten zu unterscheiden. Wer ein Gebot brach,
musste unbedingt im Namen der Gerechtigkeit zur Verantwortung gezogen werden.
Das galt auch für besonders brutale und unmenschliche Strafen, wie zum Beispiel
die Steinigung bei erwiesenem Ehebruch. Die Idee, die dahinter steckte, war die
folgende: Wer ein so zentrales Gebot wie die Verpflichtung zur ehelichen Treue
gebrochen hatte, war in den Augen der Frommen ein Mensch, der Sünde aufgehäuft
und sich außerhalb der Gemeinschaft gestellt hatte. Um nicht von dieser Sünde
angesteckt zu werden, musste die Gemeinschaft des Dorfes oder die Gemeinschaft
der Familie und der Angehörigen den Sünder selber, das heißt persönlich,
richten. Jeder musste also seinen Stein werfen und der dann Gesteinigte wurde
außerhalb des Dorfes begraben. Die Situation, die der folgende biblische Text
widerspiegelt, schildert eine unmittelbar bevorstehende Steinigung. Die
Ehebrecherin ist beim Ehebruch ertappt worden, also im Sinne des Gesetzes
schuldig und die Gemeinschaft will zur Steinigung schreiten. Jeder hat seinen
Stein schon in der Hand. Nach dem Bericht von Menschenrechtsorganisationen
kommen Steinigungen auch noch in unserer Zeit vor.
Jörg Bohn
Text (Johannes 8,1–11)
und Kommentar
Die Strafe der
Steinigung war nach den Geboten der Tora bei besonders schweren Vergehen wie
Gotteslästerung oder Ehebruch vorgeschrieben und wurde zur Zeit Jesu durchaus
praktiziert. Sie kam auch in anderen Völkern und Kulturen außerhalb Israels vor.
Die Tötung des beschuldigten Menschen, der solange, meist bis zur Hüfte
eingegraben, mit Steinen beworfen wurde, bis er starb, galt nicht einfach nur
als Strafe, sondern als ein Akt, mit dem die Angehörigen oder die
Dorfgemeinschaft sich selbst von der Sünde reinigte. Wer das Böse nicht aus
seiner Mitte vertilgte, wurde selbst zum Sünder. Das setzte von der Idee her
voraus, dass der verurteilte Mensch absolut böse und die ihn Steinigenden
absolut frei von Sünde wären. Darauf spielt Jesus an, der hinzugeholt wird, von
den Frommen, um sein Urteil zu fällen.
Jörg Bohn
Johannes 8,1–11:
Jesus aber ging
hinaus an den Ölberg (um dort zu übernachten). In der Morgenfrühe begab er sich
wieder in den Tempel und setzte sich dort nieder, um die Schrift auszulegen, und
das ganze Volk drängte sich um ihn. Da brachten die Schriftgelehrten und die
Pharisäer eine Frau, die man beim Ehebruch ergriffen hatte, stellten sie
zwischen sich und Jesus in die Mitte und fragten ihn: Hochwürdiger Lehrer, diese
Frau wurde auf frischer Tat im Ehebruch überrascht. Mose hat uns im Gesetz
vorgeschrieben, dass sie zu steinigen sei. Was sagst du? Das fragten sie aber
nur, weil sie ihm eine Falle stellen wollten, und um ihn wegen seiner Antwort
anzuklagen. Jesus bückte sich nieder und schrieb mit dem Finger auf die Erde.
Als sie ihn nun weiter fragten und nicht abließen, richtete er sich auf und
antwortete: Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe als erster seinen Stein auf
sie. Dann bückte er sich wieder und schrieb auf die Erde. Die Männer aber gingen
hinaus, als sie das hörten, einer nach dem andern, bei den Ältesten angefangen,
und Jesus blieb allein, und die Frau war bei ihm. Da richtete er sich auf und
fragte sie: Frau, wo sind sie? Hat dich niemand verurteilt? Sie antwortete:
Niemand, Herr. – Ich verurteile dich auch nicht, schloss Jesus. Geh und sündige
von nun an nicht mehr!
Das Neue Testament
übertragen von Jörg Zink,
© Kreuz-Verlag,
Stuttgart 199213,
S. 226
1.6 Prozess und Tod
Die historisch
zuverlässigste Überlieferung über den historischen Jesus ist neben den
Grundaussagen seiner Botschaft und seinen Heilungen der Tatbestand von Prozess
und Tod Jesu, also seiner Hinrichtung durch die römische Staatsmacht. Der äußere
Ablauf der Ereignisse lässt sich nach dem übereinstimmenden Bericht aller vier
Evangelien in fünf hauptsächlichen Geschehnissen zusammenfassen.
Erstens:
Jesus wird vor dem
Passah-Fest nachts im Garten Getsemane, einem Olivenhain vor den Toren
Jerusalems, durch die Tempelpolizei im Auftrag der Tempelpriester festgenommen
und zum Haus des Hohen Priesters gebracht. Die Festnahme erfolgt bewusst nachts,
da man wegen der Beliebtheit Jesu im Volk eine öffentliche Verhaftung am Tempel,
wo Jesus sich tagsüber in der Regel aufhielt, nicht wollte. Man fürchtete
Proteste des Volkes. Den Aufenthaltsort hatte vermutlich einer seiner Jünger,
Judas, an die Tempelpriester verraten.
Zweitens:
Jesus lässt sich
widerstandslos festnehmen. Vorher hat er nach dem Bericht der Evangelien heftig
und in großer Angst mit sich gerungen, ob er die bevorstehende Verhaftung und
den damit bevorstehenden Tod, mit dem er rechnete, auf sich nehmen solle. Er
entschloss sich zu bleiben, also standzuhalten und nicht zu fliehen. Trost bei
seinen Jüngern fand er nicht, vermutlich, weil sie ihn nicht verstanden.
Drittens:
Das nächtliche Verhör
durch den Hohen Priester Kaiphas erbringt zunächst keine verwertbaren
Ansatzpunkte für eine Anzeige bei Pilatus. Die Aussagen Jesu gegen den Tempel
erbringen nichts, da sich die Zeugen in ihren Aussagen widersprechen. Nur
übereinstimmende Zeugenaussagen sind nach jüdischem Prozessrecht der damaligen
Zeit für eine Anklage verwertbar. Der Hohepriester versucht ein Geständnis zu
erreichen, indem er Jesus direkt fragt, ob er der Sohn Gottes, der Messias, sei.
Jesus antwortet: „Du sagst es.” Darauf zerreißt der Hohe Priester sein Gewand,
schließt das Verhör und lässt Jesus an Pilatus überstellen.
Viertens:
Pilatus findet bei
seinem Verhör, das man sich als kurzen Prozess vorstellen muss, kaum
Anhaltspunkte, da Jesus weitgehend schweigt. Auf die direkte Frage, ob er der
Messias, der König der Juden sei, antwortet Jesus wiederum: „Du sagst es”. Als
Pilatus die anwesenden Juden – es dürften nicht viele Menschen gewesen sein, da
das Verhör entweder im Palast des Herodes oder in der römischen Festung Antonia
stattfand – vor die Wahl stellt, entweder Barabas, einen überführten Mörder, der
einen römischen Soldaten umgebracht hatte, oder Jesus freizulassen, fordern die
Anwesenden, Barabas freizulassen. Pilatus lässt daraufhin Jesus auspeitschen und
befiehlt die Kreuzigung Jesu.
Fünftens:
Nachdem Jesus von den
römischen Soldaten in entwürdigender Weise verspottet wurde, führte man ihn zur
Hinrichtungsstätte Golgata vor den Stadtmauern ab und kreuzigte ihn. Zur
Beurteilung der Ereignisse von Prozess und Tod Jesu sind aus heutiger
historischer Sicht zwei Aspekte hervorzuheben. An der Verurteilung Jesu durch
die römische Staatsmacht wegen Hochverrat (Anmaßung der Königswürde) besteht
kein Zweifel. Das gilt auch für seinen Tod am Kreuz, der von seinen Anhängern
als ein äußerstes Ärgernis empfunden wurde. Sie sahen ihn als Propheten und
Beauftragten Gottes und konnten sich dieses grausame Ende, ohne dass Gott
rettend eingriff, nicht vorstellen. Dieser Tod am Kreuz wird von den Evangelien
wie auch von nichtchristlichen Quellen übereinstimmend berichtet. Rechtlich
verantwortlich für den Tod Jesus war die römische Staatsmacht. Die Handhabe für
Anklage, Prozess und Tod lieferten die Tempelpriester. Das jüdische Volk kann
man keineswegs verantwortlich machen. Die wenigen beim Verhör vor Pilatus
anwesenden Juden kann man nicht als repräsentativ für das ganze jüdische Volk
ansehen. Es waren Anhänger der Tempelpriester. Dass die Evangelien von dem
schrecklichen Tod Jesu am Kreuz und der Mutlosigkeit und dem Entsetzen der
Jünger ungeschminkt berichten, ist ein Zeichen historischer Zuverlässigkeit der
Evangelien. Bei einer mehr erfundenen Berichterstattung wäre es nahe liegender
gewesen, die Ereignisse zu schönen. Es folgt ein Bericht der letzten Ereignisse
im Leben Jesu, der sich auf die Evangelien und die genannten historischen
Quellen stützt. (Dokument 15).
Jörg Bohn
1.6.1
Das Ende: Prozess und Tod Jesu
Pilatus
Am Morgen fassen die
Tempelpriester und ihre Anhänger einen Beschluss und der Gefangene wird
gefesselt, abgeführt und Pilatus überstellt. Pilatus war 26 n. Chr. von Kaiser
Tiberius zum Präfekten der Provinz Judäa gemacht worden. Zu seinem Gebiet
gehörten eigentlich nur Jerusalem und sein Umfeld, aber wegen der vielen
Aufstände war es wesentlich, dass der Kaiser hier unmittelbare Herrschaftsgewalt
hatte. Der Präfekt als ranghöchster Offizier und Vertreter des Kaisers hatte das
alleinige Recht, im Rahmen der in Rom festgelegten Richtlinien nach eigenem
Ermessen verhaften, geißeln oder hinrichten zu lassen. Da die Tempelpriester den
Tod Jesu wollten, musste ihm der Fall übergeben werden. Pilatus galt als
hartherzig, grausam und als ein Mann ohne Rücksicht gegenüber der Religion des
jüdischen Volkes. Durch Schilde und Feldzeichen mit dem Bild und dem Namen des
Kaisers, die er öffentlich aufstellen ließ, zeigte er seine Missachtung der
Gebote der Tora, die jedes Bildnis eines Menschen und seine Verehrung als Gott
verboten. Und all dies gegen bestehendes römisches Recht, das den Präfekten
anwies, die Besonderheiten der jüdischen Religion zu achten. Bei jedem Anzeichen
einer Volksbewegung, die durch die überall gegenwärtige Hoffnung auf den Messias
verursacht sein konnte, schickte er sofort seine Soldaten und oft gab es ein
Blutbad.
Die Verhandlung
Die Verhandlung gegen
Jesus fand wahrscheinlich vor dem Palast des Herodes statt. Dort hielt sich der
Präfekt auf, wenn er in Jerusalem weilte. Der Ablauf der Verhandlung war
festgelegt. Klage wurde von den Klägern selbst erhoben, hier also von den
Tempelpriestern und Ältesten. Zeugen waren notwendig. Der Angeklagte konnte sie
ins Kreuzverhör nehmen, um sich zu verteidigen. Er erhielt drei Mal Gelegenheit,
für seine Sache zu sprechen. Nahm er dies nicht wahr, wurde er schuldig
gesprochen. Die Gerichtsverhandlungen fanden im Freien statt, die Zuschauermenge
konnte sich also äußern. Vielleicht aber wurde Jesus Pilatus in der Antonia
vorgeführt, der römischen Festung, die den Tempelberg beherrschte und wo das
römische Militär lag, das zum Passah-Fest verstärkt wurde, um Unruhen sofort
niederzuschlagen. Dann wird inmitten der römischen Kaserne eher ein kurzes
Verhör mit Pilatus, den Anklägern und einigen Zeugen und Anhängern der
Tempelpriester stattgefunden haben. Das Verhör, wie es der älteste Bericht der
Evangelien darstellt, ist kurz. Pilatus fragt sofort: „Bist du der König der
Juden?” Für ihn, als Vertreter der römischen Staatsmacht, sind religiöse Fragen
unwesentlich. Hier zählt nur, ob der Gefangene ein Verbrechen gegen den Staat
begangen hat. Darum fragt er nicht wie der Hohepriester: „Bist du der Messias,
der Sohn des Hochgelobten?”, sondern: „Bist du der, den die Juden für ihren
König halten?” Jesus sagt in diesem ganzen Verhör nur einen einzigen Satz als
Antwort auf diese Frage: „Du sagst es.” Die Antwort war je nach Betonung
mehrdeutig, sie kann als Bestätigung verstanden werden oder als Widerspruch.
Auch die Ankläger werden dies so empfunden haben, denn sie „brachten viele
Anklagen gegen ihn vor”, heißt es in den Evangelien. Jesus schweigt von nun an,
und Pilatus, heißt es, verwunderte sich. Eile ist geboten. Es ist Freitag, ein
Tag vor Beginn des Sabbat und des Passah-Festes. Dann stehen sich zwei Welten
direkt gegenüber. Rom, der Präfekt und seine Soldaten, die oben auf den
Säulenhallen Aufstellung nehmen, um jeder Unruhe sofort entgegenzutreten und das
Volk und die Festung zu bewachen, die drohend im Hintergrund aufragt, wo Jesus
vor seinem Richter steht. Die andere Welt, das sind die festlich gekleideten
Menschen, die Männer im Tallit, im weißen Gebetsmantel, die ihre
Gebetsriemen angelegt haben und das Stirnband mit einem kleinen Lederkästchen,
das einen Text aus der Tora enthält, um immer daran zu denken, was das Wort
Gottes von jedem Israeliten fordert, ein Volk, das Jesus gern hörte, als er noch
frei und offen im Tempel lehrte. Seine Ankläger, die Tempelpriester, die
mächtigen herrschenden Familien, wollten seinen Tod noch vor dem Fest, und
Kaiphas hatte den Grund für ihren Todesbeschluss in der entscheidenden Sitzung
vor der Verhaftung Jesu offen ausgesprochen: „Es ist besser, ein Mensch stirbt
für das Volk, als dass alle umkommen.” Ließ man den Rabbi aus Nazareth
weiterlehren, war ein Aufstand nicht auszuschließen, denn viele hielten ihn für
den Messias oder einen Propheten. Kam es dazu, würde Pilatus eingreifen, und man
kannte Pilatus. Einmal, erzählt das Lukas-Evangelium, wurde Jesus berichtet, wie
Pilatus seine Soldaten gegen wehrlose Pilger losgeschickt hatte.
Das Urteil
Die weiteren
Ereignisse an diesem Freitag vor dem Passah-Fest werden im Markus-Evangelium
rasch berichtet. Aus Anlass des bevorstehenden Festes kann der Präfekt einen zum
Tode verurteilten Gefangenen freilassen. Pilatus hat einen bekannten Gefangenen,
Barabas, einen Zeloten, der in Jerusalem einen Aufstandsversuch organisiert hat
und dabei einen Mord begangen hat. Mit ihm wurden zwei Anhänger verhaftet. Das
Volk zieht vor die Festung und fordert einen Gefangenen. Pilatus will Jesus
freigeben, wahrscheinlich hält er Barabas für weitaus gefährlicher. Das Volk
fordert, Barabas herauszugeben, und dabei haben die Tempelpriester ihre Hand im
Spiel. Sicherlich aber hat auch Barabas eigene Anhänger, die ihn unterstützen,
und Jesus ist allein, von all seinen Freunden verlassen. Hier, an diesem Ort ist
nicht einmal mehr Petrus bei ihm, der ihn vor dem Palast des Kaiphas verriet.
Dreimal versucht Pilatus, Jesus dem Volk anzubieten, aber sie schrieen:
„Kreuzige ihn!” Da befiehlt er, Jesus auszupeitschen und kreuzigen zu lassen.
Ein Urteil wird nicht gesprochen. Danach führen die Soldaten Jesus in die
Festung und rufen die ganze Kohorte zusammen, die dort stationiert war. Sie
werfen ihm einen Offiziersmantel um. Er ist rot. Rot wie der Purpur der Könige.
Dann wird eine Krone aus dornigen Zweigen geflochten und Jesus aufgesetzt.
Grölend fallen die Soldaten auf die Knie und begrüßen ihn: Heil dir, König der
Juden! Und dann schlagen sie ihn auf den Kopf und spucken ihm ins Gesicht. Als
alles vorüber ist, reißen sie ihm den Mantel von den Schultern und legen ihm
wieder seine eigenen Kleider an. Seine Bewacher und Peiniger waren Soldaten, die
Juden hassten. Meist wurden die Besatzungstruppen in Judäa bewusst aus Gegenden
ausgesucht, wo es heftige Spannungen zwischen Juden und Nichtjuden gab, also zum
Beispiel Syrien oder Ägypten. Oft mussten sie von ihren Vorgesetzten mit Gewalt
davon zurückgehalten werden, gegen die jüdische Bevölkerung vorzugehen. Der
Hass, der Jesus entgegenschlägt, gilt nicht nur ihm, sondern auch seinem Volk
und vor allem den Hoffnungen seines Volkes auf den Befreier, den Messias. Auf
den Steinplatten des inzwischen freigelegten Appellplatzes der Antonia kann man
heute in Jerusalem im Kloster der Zionsschwestern, die diesen Ort hüten,
eingeritzte Markierungen eines Würfelspiels erkennen. Manchmal spielten die
Soldaten dieses Spiel um einen Gefangenen. Der Gewinner durfte dann mit dem zum
Tode verurteilten Gefangenen machen, was er wollte. Dann wird Jesus
hinausgeführt, um vor der Stadt gekreuzigt zu werden.
Die Kreuzigung
Die Römer kreuzigten
in Israel wegen der ständigen Unruhen so viele
Juden, dass das Holz knapp wurde. Während der
großen Aufstände sollen es täglich fünfhundert gewesen
sein. An den Hinrichtungsstätten standen meist Pfähle
oder Bäume, die das Längsholz bildeten.
Der Verurteilte trug das schwere Querholz, an das er
dann gebunden oder genagelt wurde. Jesus konnte
es nicht mehr tragen, wahrscheinlich wegen der furchtbaren
Wunden, die die Auspeitschung
hinterlassen hatte. Die Römer benutzten Lederpeitschen mit
eingeflochtenen Bleistücken, die die Haut
aufrissen. Jesus bricht auf dem
Weg zur Hinrichtungsstätte außerhalb der Stadt
zusammen. So zwingt das Hinrichtungskommando einen Juden, der
gerade vom Feld kommt, für Jesus
das Kreuz zu tragen. Wir kennen seinen Namen: Simon
von Kyrene. Es war ein
Zwangsgesetz, das hier angewendet wurde. Für eine Meile
konnte ein Angehöriger der römischen Besatzungsmacht einen
Juden zwingen, ihm eine Last zu tragen.
Jesus erwähnt dieses Zwangsgesetz in einer großen Rede,
die man später die Bergpredigt nannte: „Und wenn
dich jemand zwingt, mit ihm eine Meile zu
gehen, so gehe mit ihm zwei.” Dann wird Jesus zu
einem Hinrichtungsplatz gebracht, der Golgatha,
Schädelstätte, hieß. Es war vermutlich ein Steinbruch. Es
kann sein, dass ein Felsen am Rand dieses
Steinbruchs von fern besehen wie ein Totenschädel wirkte
und dass so dieser Name entstand. Einen
Betäubungstrank, den man dem Verurteilten manchmal reichte,
weist Jesus zurück. Die Soldaten kreuzigen ihn und
verteilen unter sich seine Kleider, um die sie
vorher gewürfelt haben, dies geschah zur dritten Stunde,
am Nachmittag. Über dem Kreuz wird
eine Tafel angebracht, die in den drei
gebräuchlichen Sprachen angibt, warum dieser Mensch gekreuzigt
wurde. Dies war damals üblich. Pilatus lässt in
Lateinisch, Griechisch und Hebräisch schreiben: „Jesus aus
Nazaret, König der Juden”. Die lateinische
Abkürzung ist überliefert: INRI, Jesus Nazarenus, Rex
ludaeorum. Damit wird festgehalten: Dieser hat sich die
Königswürde angemaßt, und darauf stand nach römischem
Recht die Todesstrafe. Damit war auch gemeint:
Seht, dieser qualvoll und schändlich sterbende
Mensch ist euer Messias. Was Pilatus hier tat, war
also eine bewusste Herausforderung der Juden von ganz
ähnlicher Art, aber noch größerer Schärfe als
die Verspottung Jesu durch die römischen Soldaten in
der Antonia. Dies wird besonders deutlich, wenn man
sich vergegenwärtigt, wie die hebräische
Abkürzung des Hinrichtungsgrun- des auf der Tafel
über dem Kreuz gelautet haben muss: Jeschu Hanozri
W(u)melech Hajehudim. Setzt man nämlich die vier
Anfangsbuchstaben zusammen, ergibt sich der
vierbuchstabige hebräische
Gottesname: JHWH. Der Evangelist
Johannes berichtet, dass die Juden, die die
Kreuzigung Jesu mit ansahen, diese Herausforderung ihres
Glaubens und ihrer Hoffnungen durch Pilatus sehr
wohl verstanden: „Diese Inschrift lasen viele von den
Juden, denn der Platz, wo Jesus gekreuzigt
wurde, war nahe bei der Stadt; und es war auf Hebräisch,
auf Lateinisch, auf Griechisch geschrieben. Da
sagten die Hohen Priester der Juden zu Pilatus:
‚Schreibe nicht: Der König der Juden, sondern
dass jener gesagt hat: Ich bin der König der
Juden.‘ Pilatus antwortete: ‚Was ich geschrieben habe,
das habe ich geschrieben.‘“ Mit Jesus werden zwei
Räuber gekreuzigt, vielleicht Zeloten, vielleicht
aber auch Straßenräuber, die hier neben dem Mann
sterben, den seine Anhänger für den Messias
gehalten haben. Am Kreuz starben Schwerverbrecher,
Hochverräter und Sklaven. Ein römischer Bürger wurde mit dem
Schwert hingerichtet. Nach neueren Funden
aus der Umgebung von Jerusalem wissen wir, dass die
Kreuzigung etwa so vorgenommen wurde: Die Arme
wurden über dem Handgelenk angenagelt
oder angebunden. Am Längsholz war ein
schmaler Holzklotz, auf den sich der Gekreuzigte
setzen konnte. Die Beine wurden nach oben geschoben
und an den Fersen ans Längsholz genagelt. Unter dem
Gewicht des Körpers rissen die Unterarme bis zum
Handgelenk ein. Wollte man den Tod
beschleunigen, wurden die Beine gebrochen.
Einem Gekreuzigten wurde meist auch das allerletzte
Maß an Menschenwürde verweigert. Er wurde entkleidet
und aller Welt nicht nur in seinen Qualen,
sondern auch seiner Nacktheit als Verbrecher zur Schau gestellt.
Ein Gekreuzigter starb langsam. Den Abgrund zwischen
den unendlichen Hoffnungen, die viele in den
Menschen Jesus setzten, der in Jerusalem als Messias einzog, und seinem
furchtbaren Ende, haben die, die das Sterben Jesu mit ansahen, gespürt. Die
Vorübergehenden, heißt es im Bericht der Evangelien, lästerten ihn, schüttelten
die Köpfe und sagten: Ha, der du den Tempel zerstörst und in drei Tagen
aufbaust, rette dich selbst und steige vom Kreuz herab! Ebenso spotteten auch
die Hohen Priester und sagten: Andere hat er gerettet, sich selbst aber kann er
nicht retten. Der Messias, der König Israels, steige jetzt vom Kreuz herab,
damit wir sehen und glauben!
Der Tod Jesu
Jesus starb nach
sechs Stunden, unter furchtbarem Geschrei, wie der
Evangelist Markus vermerkt. Vor seinem Tod vergab
er allen, die an diesem Tod Anteil hatten: „Vater
vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun!” Drei letzte Worte am
Kreuz sind überliefert. Nach dem Bericht des
Evangelisten Markus rief Jesus mit lauter Stimme in
seiner Muttersprache, dem Aramäischen, einer dem Hebräischen
eng verwandten Sprache, die das Volk in
Israel sprach: „Elohi, Elohi, lama sabachthani?” Das
heißt übersetzt: Mein Gott, mein Gott, warum hast du
mich verlassen? Nach dem Bericht des Lukas-Evangeliums
spricht Jesus: „Vater, in deine Hände befehle
ich meinen Geist!” Der Evangelist Johannes lässt Jesus
sprechen: „Es ist vollbracht.“ Kaum einer seiner
Freunde ist bei ihm. Ausdrücklich ausgenommen sind die
Frauen unter seinen Jüngern, die ihm, als er noch
in Galiläa war, folgten und dienten. Ein einziger
Jünger, sein Lieblingsjünger Johannes, wird erwähnt. Ihm
vertraut Jesus in seiner Todesstunde seine Mutter an,
damit er für sie sorgt. In der Todesstunde
eines Israeliten spricht sein Sohn oder einer
seiner Freunde für ihn das Kaddisch, das Totengebet. In
der Todesstunde Jesu ist keiner seiner Jünger da, um
für ihn dieses Gebet zu sprechen. Nach der Bibel ist
trotzdem einer da, ein Fremder, der römische
Hauptmann, der wahrscheinlich das Hinrichtungskommando
führte, der in dem qualvoll Sterbenden den
leidenden Gerechten erkennt. Dieser Mensch, spricht er,
ist in Wahrheit Gottes Sohn. Es ist Abend
geworden. Bald, wenn der erste Stern am Himmel erscheint,
beginnt nach jüdischer Sitte der neue Tag, der
Sabbat, denn die Kreuzigung war an einem Freitag
geschehen. Diesmal fiel der
Beginn des Passah-Festes auf einen Sabbat. Ein zum Tode
Verurteilter und Hingerichteter aber musste vor dem
Sabbat- und Festtag beerdigt sein.
Die Bestattung
Da wagt es Joseph von
Arimathäa, ein angesehener Ratsherr, zu Pilatus
zu gehen. Er bittet den Präfekten um die Erlaubnis,
Jesus bestatten zu dürfen. Joseph von Arimathäa war ein
heimlicher Anhänger Jesu und hatte bei
der Sitzung, in der der Tod Jesu beschlossen wurde,
nicht für seine Auslieferung an die Römer und seinen
Tod gestimmt. Pilatus lässt feststellen, ob Jesus
schon tot ist, und als ihm dies bestätigt wird, gibt er den
Leichnam zur Bestattung frei. Joseph von Arimathäa
besaß ein Felsengrab, in dem noch kein Toter
aus seiner Familie begraben war. In diesem
Felsengrab lässt er Jesus bestatten. Vorher hatte er mit
Nikodemus, einem weiteren Mitglied des Hohen Rats, Jesus
vom Kreuz abnehmen und in eine Leinwand
hüllen lassen, wie es die Begräbnissitte vorschrieb. Als der Tote
bestattet ist, wird ein schwerer Rollstein vor das Grab gewälzt.
Bevor der Sabbat beginnt, kehren beide nach
Jerusalem zurück. Zwei Jüngerinnen
Jesu, Maria aus Magdala und Maria die Frau des
Joses, waren mitgegangen und nahmen sich vor, nach
dem Sabbat zur Gruft zu gehen und den Leichnam mit
wohlriechenden Salben und Ölen zu salben,
wie es ein frommer Brauch vorsah.
Jörg Bohn
2. Jesus und der Islam
2.1 Vom historischen Jesus zum Jesus-Bild
im Koran
Einführung
Die „heiligen
Schriften” der Religionen – und das gilt auch für Bibel
und Koran – entstanden in einem religiösen
Zusammenhang. Diesen Zusammenhang oder Kontext muss man
kennen, wenn man einzelne wichtige Aussagen
oder gar das Bild einer wichtigen Persönlichkeit wie
Jesus genauer verstehen will. Der frühe Islam und
der Koran entstanden in einem ganz bestimmten
historischen und religiösen Kontext, der den
Blick des Koran auf Jesus entscheidend geprägt hat. Zu
diesem Kontext gehören die politische Situation
im Vorderen Orient oder Nahen Osten im 7.
Jahrhundert, das orientalische Christentum und die dort
existierenden jüdischen Gemeinden. In diesem Rahmen
entstand der Islam, der Koran und mit ihm das dort
vorkommende Jesus-Bild. Zu diesem Kontext
gehören drei Einzelmerkmale, auf die man besonders achten
muss.
Erstens:
Machtpolitisch gab
es, wenn man die politische Karte des Nahen Ostens
betrachtet, zwei große Machtzentren. Auf der einen Seite
das Byzantinische Reich mit der Hauptstadt
Konstantinopel (heute: Istanbul). Hier war das Christentum,
das weite Teile des Nahen Ostens beherrschte,
Staatsreligion. Zu diesem Reich gehörten neben seinem
Kerngebiet, der heutigen Türkei mit Anatolien, vor
allem Ägypten und Syrien. Daneben gab es das Persische
Reich der Sassaniden mit der Hauptstadt
Seleukia-Ktesiphon. Im persischen
Großreich der Sassaniden war die altpersische
zoroastrische Religion vorherrschend, die stark monotheistisch
geprägt war, also in vielen Zügen eine
Ein-Gott-Religion war. Das Byzantinische und Persische Reich
wetteiferten um die Vorherrschaft im Nahen Osten.
Arabien und vor allem sein nordwestlicher Teil,
der Hidschas, also die Heimat Mohammeds, wo dann um Medina und
später Mekka die erste islamische
Gemeinschaft (Umma) entstand, lag zwischen den beiden
Machtblöcken und konnte sich relativ unabhängig
entwickeln. Aber, Kontakte zu den beiden Machtzentren
existierten, und in dem Augenblick, wo im Hidschas ein
islamischer Staat entstand, musste dieser sich
mit dem byzantinischen und persischen Staat auseinander
setzen, und genau in Kerngebiete dieser beiden Staaten
dehnte sich dann auch der neu gegründete
islamische Staat aus (vgl. Ausdehnung des Islam, mit roten
Pfeilen auf der Karte markiert). Hierbei
ist zu bedenken, dass die dort von den Persern und
Byzantinern beherrschten Völker nach Unabhängigkeit
strebten und deshalb jede Gelegenheit begrüßten (z. B. den
Angriff einer äußeren Macht), um ihre
Selbständigkeit zu erringen.
Zweitens:
Religiös war der Nahe
Osten vom Christentum (Byzanz) und der Religion
Zarathustras (Persien) bestimmt, die beide im
Grundsatz Ein-Gott-Religionen waren. In Arabien und
vielen anderen Gebieten des Nahen Ostens gab es
zum Teil einflussreiche jüdische Gemeinden. Arabien
selbst war religiös im Umbruch. Neben der
angestammten altarabischen Religion gab es Gruppen, die
so genannten Hanifen, die dem Ein-Gott-Glauben
anhingen, mit denen Mohammed in engem Kontakt stand.
Bedenkt man dies, so lag in der Zeit, als Mohammed
auftrat, auch in Arabien der Monotheismus in der
Luft. Diese Zeit, die Frühzeit des Islam, und dieser
Raum, der Nahe Osten, waren reif für einen religiösen
Umbruch.
Drittens:
Der neu entstehende
Islam musste sich gegen seine
„Vorgängerreligionen”, Judentum und Christentum, durchsetzen, wenn er
in diesem Raum, dem Nahen Osten, Fuß fassen
wollte. Mit beiden Religionen gab es deutliche
Gemeinsamkeiten, den Monotheismus, aber vor allem mit
dem Christentum, das den Nahen Osten religiös
beherrschte, gab es deutliche Glaubenskonflikte. In Mohammeds Augen
und nach der Vorstellung des Koran
war das Christentum kein wirklicher und echter
Monotheismus! Der Glaubenskonflikt mit dem Christentum
betraf vor allem die Sicht der Person und der
religiösen Bedeutung Jesu Christi. Der Koran hatte hier
einen sehr klaren und unwandelbaren Standpunkt: Jesus war
Mensch und nicht der Sohn Gottes oder eine
Person, die Gott gleich oder Gott ähnlich war. Das
damalige orientalische Christentum – der Orient war in
dieser Zeit das Zentrum des Christentums! –
dachte hier völlig anders. Es war von der Göttlichkeit
Jesu Christi überzeugt und es kam hinzu, das es in
zahlreiche religiöse Parteien zersplittert war, die sich darum
stritten, wie man die Göttlichkeit Jesu
Christi und das Verhältnis seiner göttlichen zu seiner
menschlichen Natur am deutlichsten fassen und
herausstellen könnte. Hierbei gab es im orientalischen
Christentum eine Vielfalt unterschiedlichster Auffassungen, die
sich zum Teil auch deutlich
widersprachen. Es gab Gruppen, die, wie schon erwähnt, die
Göttlichkeit Jesu Christi auf das schärfste betonten,
und es gab andere Gruppen, die die menschliche Rolle
und Stellung Jesu herausstellten. Für sie war Jesus vor
allem ein Mensch, der nach dem Willen Gottes
gelebt hatte und den Gott, weil er so gelebt hatte, zu
sich geholt oder erhöht hatte. Zwischen diesen christlichen
Gruppen und dem entstehenden Islam und der Gruppe
um Mohammed gab es durchaus Kontakte und
Beziehungen, die in der heutigen historischen
Forschung noch lange nicht genügend geklärt sind. Zu
beachten ist, dass das byzantinische Reich mit dem Kaiser
an der Spitze seine religiöse Auffassung
zur Bedeutung der Person Jesu (seine Göttlichkeit
wurde betont!) in den Provinzen, also in Ägypten und
Syrien, teilweise gegen andersgläubige christliche Gruppen
mit brutaler Gewalt durchzusetzen
versuchte.
Der entstehende Islam
fand also eine in heftigen Glaubenskonflikten um
die Person Jesu zersplitterte Christenheit vor und
hat in diesem Glaubenskonflikt Stellung genommen.
Darum ist das Jesus-Bild des Koran nicht einfach eine
Nacherzählung oder schlichte Wiedergabe des
Jesus-Bildes der Bibel, sondern eine heftige
Auseinandersetzung mit dem Jesus-Bild des orientalischen
Christentums, das Mohammed vorfand.
Erstens:
Ein erstes
Grundmerkmal der Jesus-Darstellung im Koran ist die strenge
Betonung der Menschlichkeit Jesu. Für den Koran war
Jesus Mensch und Prophet, der die Botschaft von dem
einen Gott (Monotheismus) seinem Volk, den
Juden, überbrachte.
Zweitens:
Da er nach Auffassung
des Koran Mensch und nur Mensch war, musste
folglich die christliche Auffassung, Jesus sei Mensch und
gleichzeitig auch „wahrer“ Gott oder „Sohn
Gottes”, eine krasse Verfälschung der religiösen
Wahrheit, ein Angriff auf den reinen Monotheismus
sein, den der Islam vertrat. In aller Schärfe betont
der Koran: Jeder, der Allah, Gott, eine zweite Person,
also Jesus als „Sohn Gottes”, beigesellt, begeht eine
Gotteslästerung! Von daher ist das Jesus-Bild des
Koran nicht nur religiöse Information oder Belehrung,
sondern auch scharfe Mahnung und Polemik.
Drittens:
Die Aussagen des
Koran über Jesus haben darum auch eine ganz andere
Textgestalt. Sie wollen nicht von Anfang an eine
Geschichte erzählen, die der Hörer oder Leser bisher
noch nicht kennt, sondern sie setzen voraus – und
können das auch! –, dass die Hörer und Leser die
Überlieferung im Prinzip schon kennen. Darum ist der Bericht
des Koran Erinnerung und Kommentar,
Stellungnahme, wobei diese Stellungnahme oft Ermahnung und
Abgrenzung ist. Der historische Hintergrund dieser
Korantexte, ist demnach der Versuch einer neu
entstehenden Religion, ein bereits existierendes
christliches Jesus-Bild „zurechtzurücken”, die „Wahrheit” über
Jesus herauszustellen und sich damit als
neu entstehende Religion gegenüber dem christlichen
Umfeld oder christlichen Kritikern abzugrenzen und
religiös Position zu beziehen. Teilweise greift der
Koran hier nicht allein schon existierende Jesus-Überlieferung
aus den Evangelien auf, sondern zitiert
Jesus-Überlieferung, die es damals im Nahen Osten gab und
die sich nicht in den vier von der christlichen
Kirche als echt und authentisch anerkannten Evangelien befand,
sondern in anderen Evangelien oder
Schriften, die es neben den Evangelien gab und in der Welt
des Nahen Ostens unter Christen und
Nicht-Christen durchaus verbreitet waren. Man nennt diese Texte
„apokryphisch” im Sinne von „nicht echt” oder
„nicht anerkannt”, wobei es sich bei diesen Schriften,
die nur noch in Bruchstücken erhalten sind, um teilweise
durchaus wertvolle und interessante
Jesus-Überlieferung handelt.
Jörg Bohn
2.1.1
Die politischen und religiösen
Verhältnisse im Vorderen Orient
Ein moderner
Historiker berichtet über die politische und religiöse
Situation im Nahen Osten im 7. Jahrhundert. Die politischen
Verhältnisse, in denen der Islam entsteht, waren
verwickelt. Eine verwirrende Fülle von Namen und Zahlen!
Drei Länder standen unter der Herrschaft des
griechisch-byzantinischen Reichs und seiner Hauptstadt
Konstantinopel: Syrien und Palästina (mit aramäischer
Bevölkerung) sowie Ägypten (hier lebten Kopten).
Dagegen wurde das ebenfalls aramäisch bevölkerte
Assyrien von der zweiten Weltmacht, dem sassanidischen
Perserreich (Hauptstadt: Seleukia-Ktesiphon)
beherrscht. Die Dynastie der Sassaniden hatte die Herrschaft
über das Perserreich im 3. Jh. n. Chr.
übernommen. Die eingeborenen Volksgruppen aller vier Länder
versuchten das Joch der griechischen bzw.
persischen Besatzer abzuschütteln, die ihre Herrschaft
über Beamte und Militärs ausübten. Ihr Ziel war die
Unabhängigkeit. [...] Die Staatsreligion
der Byzantiner war das orthodoxe Christentum. Der
offizielle Kult des Sassanidenreichs bestand im Mazdaismus
(nach dem Gründer Zarathustra auch
Zoroastrismus genannt). Andersgläubige wurden in beiden
Reichen verfolgt. [...] Anfang des 7. Jh. war
das Christentum im Vorderen Orient tief gespalten
– das Ergebnis von Brüchen, die zwei Jahrhunderte
zuvor durch die ökumenischen Konzilien von Ephesus
431 und Chalkedon 451 vollzogen worden waren. Hier
hatte man sich mit der Frage beschäftigt, wie
Christus zugleich Gott und Mensch sein konnte. Seither
gab es zur Einheit der Göttlichkeit und Menschlichkeit in
Christus drei verschiedene Lehren: (1) der
Nestorianismus unterschied in Christus eine menschliche und
eine göttliche Person; (2) der Monophysitismus sah
in Christus nur eine göttliche Natur. Und (3) der
Chalkedonismus unterschied in Christus eine
menschliche und eine göttliche Natur in einer Person. [...] Während [...] [sich
die verschiedenen christlichen Richtungen – Red.]
über die Anzahl der zu unterscheidenden Personen, Naturen und
Handlungen in Christus stritten, tauchte im
Westteil der arabischen Halbinsel eine neue Religion
auf: im Hidschas, dessen wirtschaftliches
Zentrum Mekka war. Die heidnischen
Araber der Region waren Polytheisten. Ihren Göttern
brachten sie Tieropfer dar und verehrten deren
Statuen im Tempel der Ka'aba in Mekka. Dieses
Heiligtum war alljährlich das Ziel der Pilger aller
zentralarabischen Stämme. Neben diesem Kult – die drei
Hauptgötter waren al-Lat, al-'Ussa und Manat – setzte sich
unter den Arabern allerdings bereits der Glaube an einen
einzigen Gott durch: Unter Berufung auf die
ursprüngliche Religion Abrahams verehrten die so
genannten Hanifen (vorislamische „Rechtgläubige”)
ausschließlich Allah. Später verkündete Mohammed einen
absoluten Monotheismus. Die Offenbarung, die er
seinen Anhängern [...] verkündete, sollte Arabien zur
religiösen Einheit führen. Von dort aus trat sie
ihren Siegeszug als Weltreligion an.
G. Troupeau: Die
politischen und religiösen Verhältnisse im Vorderen Orient, in: Der Koran und die
Bibel, Welt und Umwelt der Bibel, Heft 15, 2000, S. 7ff.
2.2 Jesus im Koran – seine Taten, seine
Botschaft und seine Erhöhung zu Gott
Einführung
Die entscheidenden
Aussagen des Koran über Jesus finden sich in Sure
3, 4 und 5, die alle in Medina offenbart wurden. Das
Thema, das sich wie ein roter Faden durch alle drei
Suren zieht, ist die Auseinandersetzung mit den anderen
„Schriftbesitzern”, also Juden und Christen, und die
Ermahnung an die eigenen Gläubigen, in ihrer
eigenen Religion, dem Islam, fest zu bleiben. Die Form
der Auseinandersetzung ist Erinnerung auf der einen und
Ermahnung beziehungsweise Polemik auf der
anderen Seite. Mit „Erinnerung” ist die
Vergegenwärtigung von Ereignissen und die Anspielung an
Geschehnisse gemeint, die in der Vergangenheit liegen und in denen
Gott seine Macht und Güte gezeigt hat
und sich durch seine Gesandten oder Propheten
offenbart hat. In diesem Zusammenhang wird auch an Jesus
erinnert. Die Auseinandersetzung und Polemik betrifft
Glaubensauffassungen christlicher und
jüdischer Art, von denen sich der Koran abgrenzt, die er als
Verfälschungen der wahren Botschaft Gottes
bezeichnet. Die folgenden Texte aus dem Koran über Jesus
sind damit kein unparteilicher Bericht, sondern Teil
einer religiösen Botschaft mit der der Islam an
seine Vorgängerreligionen, das Judentum und das Christentum,
anknüpft, Gemeinsamkeiten, aber auch
Unterschiede scharf betont und den eigenen absoluten
Wahrheitsanspruch deutlich herausstellt. Die Aussagen des
Koran über Jesus betreffen inhaltlich einmal seine Taten,
die nicht näher beschrieben, sondern erwähnt und
erinnert werden und die die Hochschätzung
Jesu im Islam widerspiegeln, der zu den fünf
bedeutendsten Gesandten Gottes zählt. Dann wird auf seine
Botschaft eingegangen und seine Stellung vor Gott
verdeutlicht. Ein dritter sehr entscheidender Aspekt der Aussagen
des Koran über Jesus ist die Botschaft von
seiner Erhöhung zu Gott.
Jörg Bohn
2.2.1
Die Erinnerung an die Taten Jesu im
Koran
Ein zentraler Text
des Koran über die Taten Jesu findet sich in Sure
5, 110-115. Gott, so wird berichtet, versammelt am Ende
der Tage, beim Jüngsten Gericht, seine Gesandten oder
Propheten um sich, zu denen auch Jesus
gehört. An Jesus gewandt, erinnert er diesen an das, was
er, Jesus, im Auftrag Gottes getan hat.
Jörg Bohn
Sure 5, 110–115
Sure [110]: An einem
gewissen Tage wird Allah die Gesandten versammeln und
sagen: „Was hat man euch geantwortet, als ihr
predigtet?” Sie aber werden antworten: „Wir haben keine
Kenntnis davon, du aber kennst alles
Verborgene.” [111] Darauf sagt Allah: „O du Jesus, Sohn der
Maria, gedenke meiner Gnade gegen dich und deine
Mutter, ich habe dich ausgerüstet durch den heiligen
Geist, damit du schon in der Wiege, und auch als du
herangewachsen warst, zu den Menschen reden konntest; ich
lehrte dich die Schrift und die Weisheit, die
Thora und das Evangelium. Du schufst mit meinem
Willen die Gestalt eines Vogels aus Ton; du hauchtest in
ihn, und mit meinem Willen wurde er ein wirklicher
Vogel”. Mit meinem Willen heiltest du einen
Blindgeborenen und einen Aussätzigen, und mit meinem Willen
ließest du Tote aus ihren Gräbern treten. Ich hielt
die Kinder Israels ab, Hand an dich zu legen, als du mit
deutlichen Beweisen zu ihnen kamst und sie, welche
nicht glaubten, sagten: >Dies ist alles offenbare
Täuschung.< [112] Als ich den Aposteln befahl, dass sie an mich und
an meinen Gesandten glauben sollen, da
antworteten sie: „Wir glauben, bezeuge du es uns, daß wir
ganz dir ergeben sind.“
Der Koran, übersetzt
von Ludwig Ullmann, München 1959; © Die Rechte an der Übersetzung von
Ludwig Ullmann liegen beim Wilhelm Goldmann Verlag, München, einem Unternehmen der
Verlagsgruppe Random House GmbH
Erläuterungen
Gott erinnert Jesus
zunächst an die ihm und seiner Mutter geschenkte
Gnade und erwähnt die Gabe des „heiligen Geistes”,
mit der er Jesus ausgerüstet habe. Dieser „heilige
Geist”, den man sich als eine besondere Kraft oder Vollmacht
Jesu vorstellen muss, habe ihn, Jesus befähigt,
seine Botschaft an die Menschen zu richten. Als
Beauftragter Gottes hatte Jesus Kenntnis von der „Schrift”, d.
h. er kannte und lehrte bereits den Koran, die
eigentliche und in islamischer Sicht einzig wahre und
ewige Botschaft Gottes an die Menschen. Er, Jesus, lehrte
auch die Tora, das heilige Buch der Juden und das
Evangelium, das heilige Buch der Christen. Damit ist
eine erste Seite der Tätigkeit Jesu beschrieben, die
eines Schriftgelehrten oder besser Propheten, der in der
Sicht des Koran eine Botschaft an sein Volk, die
Juden, gerichtet habe. Es folgt zweitens die Aufzählung seiner
Taten, die fast sämtlich Wundertaten sind:
Blinde werden sehend gemacht, Tote auferweckt und
aus tönernen Vögeln wirkliche Vögel gemacht. Hier
nimmt der Koran eine Wundergeschichte aus einem nicht im
Neuen Testament vorkommenden Evangelium auf. Wie
alle Propheten wird auch Jesus verfolgt –
von den Juden! – wobei Gott diese durch sein
Eingreifen daran hinderte, Jesus zu töten. Hier erinnert
der Koran an eine dritte Seite des Lebens und der Taten
Jesu, seine Verfolgung und sein Ende. Dies aber wird
vom Koran bestritten. Jesus wurde auf wunderbare Weise
gerettet
Jörg Bohn
2.2.2
Die Bedeutung Jesu in der Sicht des
Koran
Der zentrale Text
hierzu steht in der 3. Sure. Es ist ein längerer
Abschnitt über mehr als zehn Verse (Sure 3, 43-55). Dieser
Text weist einige Besonderheiten auf, die bei einem
Vergleich mit entsprechenden Aussagen in den Evangelien
beachtet werden müssen. Der Text weist auf die
herausragende Bedeutung Jesu hin. Er wird als ein
Mensch geschildert, der ein „Gottnaher” war. Er wird als „Erfüller”
der Tora dargestellt, also als jemand, der die
Gesetze und Gebote der Tora ernst nahm und
lediglich einige besonders schwere Gebote den Gläubigen
erließ. Vor allem ist er ein Diener Gottes, der sich Gott
unterstellte und ganz und gar seinen Willen
erfüllte. Jesus werden einige Titel oder Bezeichnungen
zugeschrieben, die seine besondere Bedeutung als Diener
Gottes hervorheben sollen. Er wird „Wort Gottes”
genannt, „Zeichen”, „Messias” sowie „Gesandter”
oder „Prophet“. Seine Nähe zu Maria, einer
„Erwählten” aus allen Frauen der Welt, wird deutlich
hervorgehoben.
Jörg Bohn
Sure 3, 43–55
[43] Und die Engel
sprachen: Maria, Gott hat dich erkoren, gereinigt und
bevorzugt vor allen Frauen der ganzen Welt. [44]
Maria, sei deinem Herrn ganz ergeben, verehre ihn und
beuge dich mit denen, die sich vor ihm beugen. [45]
Dies ist ein Geheimnis; dir, Mohammed, offenbaren wir es.
Du warst nicht dabei, als sie das Los warfen,
wer von ihnen die Sorge für Maria übernehmen sollte;
warst auch nicht dabei, als sie sich darum stritten. [46]
Die Engel sprachen ferner: O Maria, Gott verkündet dir
das fleischgewordene Wort. Sein Name wird sein
Messias Jesus, der Sohn der Maria. Herrlich wird er in
dieser und in jener Welt sein und zu denen gehören,
denen des Herrn Nähe gewährt wurde. [47] Er wird
in der Wiege schon und auch im Mannesalter zu den
Menschen reden und wird ein frommer Mann sein.
[48] Maria erwiderte: Wie soll ich einen Sohn gebären,
da mich ja kein Mann berührte? Der Engel
antwortete: Der Herr schafft, was und wie er will; wenn er irgend
etwas beschlossen hat und spricht: „Es werde!”
– dann ist es. [49]. Er wird ihn auch in der Schrift und
Erkenntnis, in der Thora und dem Evangelium
unterweisen, [50] und ihn zu den Kindern Israels senden. Er
spricht: Ich komme mit Zeichen von euerem Herrn zu euch. Ich will euch aus Ton
die Gestalt eines Vogels formen,
in ihn hauchen, und er soll, auf Allahs Gebot,
ein beschwingter Vogel werden. Die Mutterblinden und
Aussätzigen will ich heilen und mit Allahs Willen Tote
wieder lebendig machen und euch künden, was ihr
essen und was ihr in eueren Häusern bewahren sollt. Dies
alles werden euch Zeichen sein, wenn ihr nur glaubt.
[51] Ich bestätige die Thora, die ihr vorlängst
erhieltet, erlaube aber einiges, was verboten war. Ich komme mit
Zeichen eueres Herrn zu euch. Fürchtet ihn
und folgt mir. [52] Allah ist mein und euer Herr. Ihn
verehrt! Das ist der Weg! [53] Als Jesus sah, dass viele von
ihnen nicht glauben wollten, sprach er: „Wer will
mir für Allahs Sache beistehen?” Darauf erwiderten
die Jünger: „Wir wollen Allahs Sache verfechten; wir sind
Allahs Helfer; wir glauben an Allah, bezeug es
uns, dass wir Gläubige sind. [54] O Herr, wir glauben an
das, was du offenbart hast, wir folgen deinem
Gesandten, darum schreibe uns in die Zahl der Zeugen ein.” [55] Sie, die Juden,
ersannen Listen, allein Allah
überlistete sie, denn Allah übertrifft die Listigen an
Klugheit.
Der Koran, übersetzt
von Ludwig Ullmann, München 1959; © Die Rechte an der Übersetzung von
Ludwig Ullmann liegen beim Wilhelm Goldmann Verlag, München, einem Unternehmen der
Verlagsgruppe Random House GmbH
Erläuterung
Auch bei diesem Text
fällt die besondere Nähe Jesu zu Maria auf. Bei
anderen Propheten, die der Koran kennt, fehlt ein
Hinweis auf die Familie beziehungsweise Abstammung. Dass dies
bei Jesus anders ist, hängt sicherlich mit
der besonderen Wertschätzung Marias im Koran
zusammen. Auch die Geschichte der wunderbaren Begegnung
mit dem Engel und der Empfängnis Jesu wird
wiederum erwähnt. Zu beachten ist die ablehnende
Haltung der Juden gegenüber der Botschaft Jesu.
Dies ist hier grundsätzlich und verallgemeinernd gesagt. Jesus wurde
also in der Sicht des Koran von seinem
Volk, den Juden, abgelehnt. Lediglich
seine Jünger sind seine Helfer in
Gottes Sache. Jesus stritt also als Prophet für
Gottes Sache, für den geraden Weg.
Andere Seiten seines Handelns, so zum
Beispiel seine Zuwendung zu den Sündern und
Außenseitern seiner Zeit bleiben
unerwähnt. Trotzdem sind sie in der
Tradition des Islam bekannt, wie es das folgende
Bild belegt, das Jesus im Gespräch
mit einem Sünder und einem Frommen zeigt.
Jörg Bohn
2.2.3
„Wort Gottes” und „Messias” – Was bedeuteten diese Aussagen des Koran über Jesus in damaliger christlicher Sicht?
Die bei den
entscheidenden Aussagen des Koran über Jesus
in Sure 3, 43–55, Jesus sei „Wort
Gottes” beziehungsweise „Geist Gottes” und
„Messias” bedürfen einer
näheren Klärung. Es sind Begriffe, die der
Koran bereits vorfindet und die im damaligen
orientalischen Christentum eine ganz
bestimmte Bedeutung haben und hinter
denen ganz bestimmte religiöse
Vorstellungen über die Bedeutung Jesu
stehen. Der Koran nimmt diese Begriffe
auf und setzt ihnen und den dahinter stehenden
christlichen Auffassungen seine eigene Sicht der Dinge
entgegen. Die erste wichtige
Aussage, Jesus sei „Wort Gottes” beziehungsweise
„Geist Gottes” nimmt eine entscheidende christliche Aussage
über Jesus auf. Im Johannes-Evangelium heißt es
ganz am Anfang des Textes (vgl. Johannes
1,1ff.): „Am Anfang war das Wort und das Wort war
bei Gott und Gott war das Wort. Dieses war im
Anfang bei Gott. Alle Dinge sind durch dasselbe
gemacht, und ohne dasselbe ist nichts gemacht, was
gemacht ist. In ihm war das Leben, und das Leben war das
Licht der Menschen. Und das Licht scheint in
der Finsternis, und die Finsternis hat' s nicht
ergriffen.” Im weiteren Verlauf des Textes wird das „Wort”
deutlich auf Jesus bezogen: „Und das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns, und
wir sahen seine Herrlichkeit,
eine Herrlichkeit als des eingeborenen Sohnes vom Vater,
voller Gnade und Wahrheit.” Schon eine erste
genauere Prüfung des Textes aus dem
Johannes-Evangelium zeigt: Der Begriff Wort (im griechischen
Urtext heißt er „Logos”) wird mit Gott gleichgesetzt,
genauer mit seiner Macht als Schöpfer aller Dinge, und er
wird auch mit Jesus gleichgesetzt. In Jesus ist der
göttliche Logos/Geist Mensch geworden. Diese Aussage des
Johannes-Evangeliums ist der Anstoß für eine
Vielzahl geistiger Bemühungen in der frühen christlichen Kirche geworden, die
Bedeutung oder das Wesen Jesu
selber und seine Beziehung zu Gott näher zu
erfassen. Diese Bemühungen, die Bedeutung, das
Wesen oder die Natur Jesu gedanklich näher zu erfassen,
nennt man mit einem Fachbegriff aus der
christlichen Theologie „Christologie”. Eine erste
grundlegende Aussage der Christologie, also der christlichen
Sicht der Bedeutung Jesu, ist demnach die gewesen:
Jesus als „Wort” oder „Geist” Gottes (Logos) ist
Teil der göttlichen Schöpferkraft, ist ihr, also Gott ,
gleich. Anders gesagt: Der Begriff „Wort Gottes” oder „Geist”
Gottes bezeichnet die Schöpferkraft Gottes selber, also
das Wesen Gottes. Dieses Wesen Gottes existiert auch
in Jesus, so dass beide, Jesus und Gott,
gleichzusetzen sind. Hiermit wird deutlich: Dieser Begriff „Wort
Gottes” oder „Geist Gottes” beinhaltet in christlicher Sicht
eine Aussage über Jesus, die aus der Sicht des
Islam und des Koran heraus unannehmbar ist. So, wie das
Christentum und der Text des
Johannes-Evangeliums den Begriff „Wort” oder „Geist” versteht,
wird ihn der Koran ganz bestimmt nicht verstehen! Der
Begriff ist also umstritten! Diese christliche
Sicht Jesu als „Logos” oder „Geist” Gottes als „Schöpfer
aller Dinge” und als Gott selber ist auch in die
christliche Kunst, vor allem die östliche oder orientalische
Kunst eingegangen. Jesus Christus wurde hier oft als
Pantokrator, als Schöpfer aller Dinge und als Gott selber
dargestellt. Ein Beispiel hierfür ist das Bild auf
Seite 60, das Jesus als Pantokrator darstellt. Der Begriff
„Messias”, der im Koran-Text Jesus zugeordnet wird, ist jüdischen
Ursprungs. Er taucht in der hebräischen Bibel
und in der jüdischen Tradition auf und hat eine sehr
vielschichtige Bedeutung. In der herrschenden
jüdischen Auffassung ist er als „Gesalbter”(= direkte Übersetzung
des hebräischen Begriffs) ein König, der im
Auftrag Gottes die Leiden des jüdischen Volkes beenden wird.
Er wird die Unterdrückung durch fremde Völker
und die Zerstreuung des jüdischen Volkes über
viele Länder der Welt aufheben und ein Reich des
Friedens und der Gerechtigkeit in Israel als Nachfolger
des Königs David errichten. In der Zeit Jesu
verbanden sich unter den Juden seiner Zeit mit der Hoffnung
auf den Messias sehr deutliche politische
Erwartungen und Hoffnungen. Der erwartete Messias sollte das
Volk von der Römerherrschaft befreien und einen
neuen und selbständigen jüdischen Staat errichten. Der
historische Jesus hat sich nach Auffassung der
Mehrheit der historisch-kritischen Bibelforscher nicht
selbst zum Messias erklärt, sondern stand diesem
Titel mit Distanz gegenüber. Er wollte keinen
weltlichen Staat errichten, der seiner Auffassung nach immer
mit Macht von Menschen über Menschen
verbunden war. Viele seiner jüdischen Anhänger unter den
ersten Christen haben ihn für den Messias
gehalten und auch unter späteren christlichen Gruppen
im Nahen Osten, die stark von jüdischen
Glaubensauffassungen geprägt waren, wurde Jesus als
Messias verehrt. Nach islamischer Auffassung ist ein
Prophet ein Mensch, der im Auftrag Gottes den Gesetzen
Gottes, die Gerechtigkeit und Frieden wollen,
Geltung verschafft, und der auch einen politischen Auftrag
hat, nämlich eine Gemeinschaft (Umma) zu
errichten oder anzustreben, die nach den Gesetzen
Gottes regiert wird. Mohammed ist hier für
Muslime das vollkommene Vorbild. Auch Jesus
war und ist in islamischer Sicht Prophet. Von daher
ist die „juden-christliche” Messias-Verehrung Jesu für
den Koran und für den frühen Islam vermutlich durchaus
akzeptabel gewesen und die eben dargestellte
jüdisch geprägte Sicht des Messias-Begriffs wäre
sachlich kein wirklicher Gegensatz zu den Auffassungen
des Koran über Jesus.
Jörg Bohn
2.2.4
Die Darstellung Jesu im Koran in
islamischer Sicht
Einführung
Natürlich gibt es
nicht die
islamische
Sicht Jesu, so wie es auch nicht die
christliche Sicht
Jesu gibt. Es gibt aber Texte zur
Bedeutung Jesu im Koran aus islamischer Sicht, die sich sehr
genau mit dem Koran auseinander setzen und die die
herrschende Auffassung innerhalb des Islam
widerspiegeln. Ein gutes Beispiel hierfür sind die
Aussagen der muslimischen Islamwissenschaftlerin Halima Krausen zur
islamischen Sicht Jesu, die hier
herangezogen werden sollen. Halima Krausen bezieht sich
in ihren Ausführungen zunächst vor allem auf die
bereits angesprochene Sure 3, 43–55 und interpretiert
diesen Text aus islamischer Sicht. Um den Text Halima
Krausens genau würdigen zu können, wäre immer
wieder der bereits zitierte Koran-Text (vgl. Dokunment
19) heranzuziehen.
Jörg Bohn
Halima Krausen: Die
islamische Sicht Jesu
(unveröffentlichtes
Manuskript der Verfasserin) (Halima Krausen ist
Imamin an der Imam-Ali-Moschee in Hamburg und
Islam-Wissenschaftlerin)
Jesus als Wort Gottes
Hier und an anderen
Stellen im Qur’an gibt es verschiedene Bezeichnungen für
Jesus: „Gott schickt dir frohe Botschaft
‚durch ein Wort von Ihm‘“ wird gelegentlich auch übersetzt: „von
einem Wort von Ihm”. Parallel dazu heißt
es in Sura 4: 172: „ ...der Messias, Jesus, Sohn der
Maria, ist lediglich ein Gesandter Gottes und Sein Wort, das Er
zu Maria schickte...”. Dieses arabische Wort Kalima
hat oberflächliche Leser des Qur’an oft zu
falschen Schlußfolgerungen verleitet. Tatsächlich gab es ja
in der islamischen Theologiegeschichte – vielleicht angeregt
durch Denkanstöße aus interreligiösen
Beziehungen – Debatten über das „Wort Gottes” im
Sinne des griechischen Logos, im Arabischen mit Kalam
Allah wiedergegeben, und es wurde die Frage
erörtert, ob es als Attribut Gottes anfangslos ewig sei und wie es
sich manifestiert. Als eine Manifestation galt
jedenfalls der Qur’an, und daraus ergab sich der Streit
darüber, ob der Qur’an erschaffen oder
unerschaffen und ewig sei. Diese Diskussion ist
hier jedoch irrelevant, denn das Wort Kalima, das
hier gebraucht wird, ist zwar von derselben Wurzel
und wird mit „Wort” übersetzt, ist jedoch ein ganz
anderer Begriff. Kalima ist „ein Wort unter vielen”
oder „eine Aussage”, die etwas mitteilt und ggfs.
bewirkt. Ein Beispiel dafür
ist Gottes Schöpferwort: „Sei!”, wie im anfangs
zitierten Textabschnitt. Gott spricht jedoch auf
verschiedene Weise, wie aus Sura 42:52 deutlich wird:
Es steht den
Menschen nicht zu, daß Gott zu ihm spricht (yukallimu),
es sei denn durch Eingebung oder von hinter einem
Schleier, oder indem Er einen Gesandten schickt, um mit
Seiner Erlaubnis zu offenbaren, was Ihm gefällt. Er
ist erhaben, weise.
Göttliche Eingebung
braucht vielleicht nicht näher erläutert zu werden,
abgesehen davon, daß es für den Empfänger bisweilen
problematisch ist, sie von anderen inneren Stimmen zu
unterscheiden. Der „Schleier” ist hier ein
Phänomen, durch das Gott spricht, wie z. B. der brennende
Dornbusch bei Mose. Bei dem „Gesandten” handelt es sich
entweder um den Engel, der prophetischen
Persönlichkeiten erscheint, oder um den menschlichen
Gesandten, der seinem Mitmenschen Gottes Botschaft
übermittelt. Im letzteren Falle spricht zu uns nicht
der menschliche Aspekt des Gesandten, sondern er bildet für
uns einen Schleier, durch den Gott
spricht. Auch in diesem Sinne ist Jesus „ein Wort” von Gott,
und zwar eins der reichhaltigen Worte, mit denen Gott
die Menschheit anspricht.
Jesus als Zeichen
In diesem
Zusammenhang steht auch das Wort „Zeichen”. In unserem
Text sagt Jesus an zwei Stellen: „Ich komme zu euch
mit einem Zeichen”, und in Sura 21:92 wird gesagt:
„Wir machten sie (Maria) und ihren Sohn (Jesus) zu einem
Zeichen”. Daß das arabische Wort aya oft mit
„Wunder” übersetzt wird, ist nicht sehr hilfreich. Aya
ist vielmehr ein Zeichen, das etwas mitteilen soll. So ist im Qur’an von
„Zeichen Gottes” in der Schöpfung die Rede, etwa im
Wechsel der Tages- und Jahreszeiten, in der Vielfalt der
Arten und individuellen Erscheinungs- und Ausdrucksformen,
in der Polarität der Geschlechter usw.
„Zeichen Gottes” sind weiterhin in der Geschichte zu
finden, indem wir aus historischen Erfahrungen lernen
sollen, sowie in unserem eigenen Inneren, das wir
erforschen sollen. Nicht zuletzt sind „Zeichen Gottes” in
den Heiligen Schriften, die, wenn wir sie recht
verstehen, Schlüssel und Verständnishilfe für alle die anderen
Zeichen sind. Es findet also auf diese Weise ein ständiger
Dialog zwischen Schöpfer und Geschöpfen statt,
auch wenn die großen prophetischen Offenbarungen
abgeschlossen sind.
Jesus als Messias
In der Verkündigung
an Maria bekommt Jesus als nächstes den Titel
„Messias”. Das arabische Wort Masih kommt von Mash,
„Streichen”, wie wenn man z. B. bei der rituellen
Waschung mit der feuchten Hand über den Kopf oder
ggf. über einen Wundverband streicht. In früheren
Zeiten wurden die Propheten der Kinder Israel oft von
ihrem Vorgänger „gesalbt”, d.h. er strich Salböl auf
den Kopf seines Nachfolgers, um einen Segen zu
vermitteln, und ähnlicherweise wurden Könige von Propheten
ihrer Zeit gesalbt und galten dann als von Gott
eingesetzt. In Zeiten zunehmender politischer und
religiöser Dekadenz wurde der Begriff „Messias”
jedoch immer mehr für einen in der Zukunft zu
erwartenden, von Gott berufenen Heilsbringer
verstanden, wie er von vielen Juden bis heute erwartet wird,
wohingegen Christen ihn mit Jesus identifizieren. In
der Tat gilt Jesus im Qur'an als Prophet und Gesandter
mit dem Auftrag, den Bund zwischen Gott und den
Menschen wiederzubeleben, und in diesem Sinne
wird das Wort „Messias” hier benutzt.
Jesus als Prophet und
Gesandter
Ein Prophet (nabi)
ist aus islamischer Sicht jemand, der aufgrund
göttlicher Offenbarung als Lehrer und Vorbild wirkt. Der
Überlieferung zufolge hat es in der Menschheitsgeschichte
Tausende solcher Propheten gegeben, und der
Qur’an bestätigt, daß Gott jedem Volk auf diese Weise
Offenbarung zugänglich machte, jedem in seiner
Sprache und seinem soziokulturellen Kontext. Die Weisen
der nachqur’anischen Zeit erfüllen eine ähnliche Aufgabe
wie die früheren Propheten. Ein Gesandter (rasul)
wird darüber hinaus mit einem umfassenden Auftrag
geschickt, z. B. der Einsetzung eines
ethisch-rechtlichen Systems (Shari’ ab) wie Mose oder dessen
Wiederbelebung und Sinnerfüllung wie Jesus (s. u.).
Beide gehören zu den fünf wichtigsten Gesandten.
Jesus als Sohn Marias
Es folgt im Text für
Jesus die Bezeichnung „Sohn Marias”, die an
zahlreichen anderen Stellen im Qur’an benutzt wird,
gelegentlich auch ohne Erwähnung seines Namens. Im
allgemeinen wird diese Bezeichnung als genealogischer
Hinweis verstanden, als Anspielung auf seine wunderbare
Geburt. Kein anderer Prophet wird auf diese Weise
nach einem Elternteil benannt, obwohl es üblich war,
Söhne und Töchter nach ihren Vätern und nur
in seltenen Ausnahmefällen nach ihren Müttern zu
benennen. Übrigens spielt bei den Darstellungen
prophetischer Persönlichkeiten im Qur’an der Vater nur
selten eine Rolle; gelegentlich wird er im
Zusammenhang mit einem Generationskonflikt erwähnt, der dazu
dient, die individuelle Verantwortlichkeit des Menschen zu
veranschaulichen, wie z. B. die
Auseinandersetzung Abrahams mit seinem götzendienerischen
Vater. Diese Bezeichnung
Jesu und alles andere, was im Qur’an von Maria
ausgesagt wird, zeigt, dass ihre Bedeutung weit über die
biologische Mutterrolle hinausgeht. Sie wurde von ihrer
eigenen Mutter vor der Geburt Gott geweiht
und von Gott akzeptiert und gesegnet, so dass selbst
Zacharias, der für ihre Erziehung verantwortlich war,
über ihre Gaben erstaunt war. Ihr Mut und ihr
Gottvertrauen wird besonders deutlich, wo sie mit ihrem
neugeborenen Kind der Öffentlichkeit entgegentritt. „Sohn
Marias” klingt vor dem Hintergrund der
Qur’antexte und der islamischen Überlieferung eher
wie ein Ehrentitel eines wunderbaren Mannes, des Sohnes
einer wunderbaren Frau.
Halima Krausen
2.2.5
Die Erhöhung Jesu zu Gott – die Sicht des Koran
Einführung
Eine wesentlicher
Teil der Botschaft des Koran über Jesus ist die
Aussage, Jesus sei nicht wirklich gestorben, sondern von Gott in
den Himmel erhöht, also zu sich genommen
worden. Damit leugnet der Koran den Kreuzestod
Jesu. Ein Kernbereich der christlichen
Tradition über Jesus in den Evangelien, der historisch zu den
am besten belegten Teilen der Überlieferungen zum
historischen Jesus gehört, fehlt im Koran. Mehr noch:
Er gilt als Verfälschung und Gott selber verkündet
im Koran feierlich die Botschaft, er werde Jesus nicht
„verscheiden lassen”, sondern ihn „erhöhen zu mir”
(vgl. Sure 4,43ff.).
Jörg Bohn
Halima Krausen, Die
islamische Sicht Jesu
Es folgt ein
Textabschnitt von Halima Krausen, der den entscheidenden
Text aus dem Koran zur Erhöhung Jesu aus islamischer
Sicht interpretiert.
Erhöhung Jesu
Von Jesus wird
weiterhin gesagt, er sei „geehrt in dieser und in der
zukünftigen Welt”. Dies klingt selbstverständlich,
ist es aber nicht. Es hat von verschiedenen Seiten her reichlich
antichristliche Polemik mit respektlosen
Anschuldigungen gegen Maria und Jesus gegeben,
die vom Qur’an entschieden zurückgewiesen werden (das gilt
zeitlos auch für moderne
Geschmacklosigkeiten). Allerdings grenzt sich der Qur’an auch
umgekehrt gegen ein übermenschliches Bild von Jesus und
Maria ab (s. u.). Eine Zurückweisung
antichristlicher Polemik ist die Grundlage von Sura 4:
157–158, einem Abschnitt, der oft mißverstanden
wurde und eine ganze Reihe von Fragen aufwirft:
...und ihres
Unglaubens willen und wegen ihrer Rede, einer
schwerwiegenden Verleumdung gegen Maria; und wegen ihrer
Rede: „Wir haben den Messias, Jesus, den Sohn Marias, den
Gesandten Gottes getötet”, – sie haben ihn jedoch
weder getötet noch gekreuzigt, sondern es erschien ihnen
so, und diejenigen, die in dieser Angelegenheit
uneinig sind, sind im Zweifel darüber, sie haben keine
wirkliche Kenntnis davon, sondern folgen einer Vermutung und
haben diesbezüglich keine Gewissheit. Gott hat
ihn vielmehr zu sich erhöht, und Gott ist mächtig,
weise.
Es gibt zahlreiche
widersprüchliche Überlieferungen, die schildern, wie
Jesus dem Tod am Kreuz entgangen ist. Aber darum geht
es in diesem Text nicht. Er richtet sich
vielmehr gegen Aussagen von jüdischer Seite, Jesus sei „zu
Recht” oder auf jüdische Initiative hin hingerichtet
worden. Somit richtet sich der Text indirekt auch
gegen mittelalterlichen christlichen Antijudaismus, der
mit der Begründung, die Juden hätten Jesus getötet,
zu schrecklichen Verfolgungen geführt hat. Jesus
genießt unter Muslimen höchsten menschlichen Respekt
und hat eine große Vorbildrolle vor allem in der
Mystik, wo auch zahlreiche Lehrgeschichten von ihm überliefert
sind. Wenn sein Name erwähnt wird,
verbindet ein Muslim ihn in der Regel mit dem Segenswunsch
„alayhis-Salam” – „mit ihm sei Friede”.
Jesus ist einer der
Gottnahen
Muqarribun, Gottnahe,
sind Engel und prophetische Persönlichkeiten, die
sich in Gottes unmittelbarer Nähe befinden. Im
Qur'an und in der islamischen Theologie wird
sorgfältig differenziert, um bei allen verschiedenen
Offenbarungen Gottes seine Transzendenz und Unverfügbarkeit
zu wahren. Insofern gibt es auch sehr
verschiedene Begriffe für das, was auf Deutsch als „heilig”
bezeichnet wird. Muquarribun ist deren einer. Dabei
bleibt ein „unendlicher qualitativer Unterschied”
bestehen: Der Mensch wird nicht Gott, und Gott wird nicht
Mensch. Auch wenn ein Mensch in Gottes
unmittelbare Nähe gelangt, ist er „nicht zu stolz, Gottes Diener
sein zu wollen” (Sura 4: 173), und zumindest aus
qur’anischer Sicht entspricht dies am ehesten Jesu
Selbstverständnis. Grundsätzlich liegt
überall die Betonung darauf, dass Jesus „wahrer
Mensch” ist, und darauf beruht die Möglichkeit einer
Nachfolge auf diesem Weg. Gegen alle anderen
Christologien (und Mariologien) grenzt sich der Qur’an
entschieden ab.
2.2.6
Der Tod Jesu und seine Bedeutung aus christlicher Sicht
Einführung
Zieht man die
frühesten und historisch
zuverlässigsten Quellen über Jesus
heran, dann lässt sich eins
nicht leugnen: Jesus wurde auf
Anzeige der jüdischen
Tempelpriester von der römischen
Staatsmacht wegen Hochverrats
angeklagt und zum Tode
verurteilt. Anschließend wurde er auf das grausamste
gefoltert und hingerichtet. Die
Evangelien schenken den
Ereignissen um den Prozess und
Tod Jesu große Aufmerksamkeit.
Das älteste Evangelium, das
Markus-Evangelium, wird
mitunter als „Passionsgeschichte
mit ausführlicher Einleitung”
bezeichnet, und auch
Nicht-Christen und Gegner des
Christentums kommen nicht auf die
Idee den Prozess und Tod
Jesu wie auch die
Verantwortlichkeit der römischen
Staatsmacht für diesen Tod zu
leugnen.
Die Deutung des Todes
Jesu im frühen Christentum
und in den Texten des
Neuen Testaments
In einem der
historisch ältesten Texte des Neuen
Testaments, dem Brief des
Apostels Paulus an die
christliche Gemeinde von Thessaloniki (11.
Thessalonicher, Kap. 4,13f) heißt es: „Ich möchte euch über das Geschick der
Toten nicht im Unklaren lassen, denn ihr sollt nicht
trauern wie die anderen, die keine Hoffnung haben. Wenn
wir nämlich glauben, dass Jesus gestorben und
auferstanden ist, dann wissen wir auch, dass Gott die
Toten mit Jesus aus dem Tod holen und mit ihm ins Leben
führen wird.” Was dieser Text
deutlich hervorhebt, ist eine sehr fundamentale
christliche Glaubensaussage: Der Tod Jesu Christi, an den
hier ausdrücklich erinnert wird, ist nicht das Ende
gewesen, sondern das Vorspiel zu einer der entscheidenden
Glaubenszeugnisse des Christentums: Gott
selber wird „mit Christus” die Toten aus dem Tod holen und
ihnen das ewige Leben schenken. In den
christlichen Glaubensauffassungen vor allem der
Christen des Nahen Ostens und heute auch Griechenlands
und Ost-Europas ist die Auferstehung Jesu Christi das
entscheidende Glaubensereignis, und vor allem ist
damit auch die Auffassung verbunden, Jesus Christus selber
werde als Vertreter Gottes die Toten zum
ewigen Leben befreien. Diese herausragende
Bedeutung Jesu, der damit an die Stelle Gottes als der
Befreier aus dem Tod gerückt wird, ist in dem
folgenden Bild sehr drastisch dargestellt worden. Christus
selber ist hier derjenige, der die Toten, unter
anderem auch Adam und Eva, aus dem Totenreich
befreit. Ein zweiter wichtiger
Text, der auch von Paulus stammt, aus dem Brief
an die Gemeinde von Korinth (1. Korinther, Kap.
15,3 ff.) fügt noch eine weiterte Aussage über die
Bedeutung des Todes Jesu hinzu: „Denn ich habe euch
vor allem das weitergegeben, was ich selbst
empfangen habe: Dass Christus für unsere Sünden
gestorben ist, dass er begraben worden und am dritten
Tag von den Toten auferstanden ist, wie die
Propheten ankündigten. Dass Petrus ihn sah und nach ihm
alle Zwölf, dass er später von mehr als fünfhundert
Brüdern zugleich gesehen wurde, von denen viele noch
leben und einige inzwischen verstorben sind. Dann
sah ihn Jakobus, dann sahen ihn alle
Apostel. Zuletzt erschien er auch mir, der viel zu spät zum
Glauben und zum Leben kam.” Der hier zitierte
Text des Paulus enthält ein urchristliches Bekenntnis, auf das
Paulus selbst zurückgreift und das grundlegende Glaubensaussagen des frühesten
Christentums feierlich in Erinnerung ruft. Zum „Glaubensbestand”
des frühen Christentums gehörte nicht nur der Glaube
an die Auferstehung Jesu Christi und seine
Macht, als Stellvertreter Gottes die Menschheit aus dem
Tod zu erlösen, sondern zwei weitere entscheidende
Glaubensaussagen kamen noch hinzu, die bis
heute zum Grundbestand christlichen Glaubens gehören: Der
Tod Jesu war ein gottgewolltes Ereignis, das
sozusagen „heilsnotwendig” war. Jesus starb „für
unsere Sünden”. Diese zweite Aussage ist meistens in der
christlichen Kirche so interpretiert worden, dass der
freiwillige und gottgewollte Tod Jesu am Kreuz
eine die Schuld und Sünden tilgende Bedeutung hatte, wenn
man als Christ daran glaubte. Dies hieß
dann aber, wenn man diese Glaubensaussage aus islamischer Sicht
interpretierte: Der Mensch ist dann nicht
mehr vollständig für sich und seine Taten
verantwortlich. Er kann auf die Kraft des Sühnetodes Jesu
Christi vertrauen und bekommt damit einen wichtigen Teil
seiner Verantwortung vor Gott abgenommen. Der
freiwillige Sühnetod Jesu Christi hebt damit in
islamischer Sicht die vollständige Verantwortung des
Menschen für sein Heil (oder Unheil) auf. Damit
verbindet sich in islamischer Sicht mit dem Tod Jesu eine
Reihe zentraler Glaubensaussagen des Christentums, die
mit der Sicht des Islam über die Bedeutung
Jesu und über die Stellung des Menschen vor Gott
unvereinbar sind.
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