Die Schwierigkeit
Die Schwierigkeit, ein Gedicht
in eine andere Sprache zu übersetzen
Ausschnitt aus: Vorwort [GITANJALI
von Rabindranath Tagore]
VORWORT
Ein Gedicht in ein eine andere Sprache zu übersetzen ist
eine heiklere und sogar noch entmutigendere Aufgabe, als eine Feldblume aus
ihrem Mutterboden in ein fernes Land zu verpflanzen. Wissenschaftliches Geschick
mag wohl eine Blume vor Schock zu bewahren, und die empfindlichste Pflanze kann
vielleicht mit Blüte und Tau und goldenem Sonnenlicht in ihrem Saft in einen
anderen Garten versetzt werden. Aber das Übersetzen von Literatur kann man nicht
zur Wissenschaft machen. Beim schöpferischen Übertragen von Gefühlen, von
Lautwerten, von der auf Eingebung beruhenden Struktur eines Gedichts in eine
andere Sprache, muß sich der Übersetzer nicht nur durch geübtes Können, sondern
durch eine künstlerische Kraft leiten lassen, die nicht verallgemeinert, erklärt
und vorausgesagt werden kann. Die geringste Änderung in der gleichen oder in
einer verwandten Sprache wird die unwandelbare Eigenart dessen ändern, was der
Dichter »mit der Zauberhand des Zufalls«, wie Keats einmal sagt, geformt hat.
Heutzutage würden wir die Wörter »Zauber« und »Zufall« vorsichtiger gebrauchen
und sie sogar vermeiden, wenn wir versuchen, von dem hohen und geheiligten
Können zu sprechen, mit dem ein großer Künstler den tiefsten, schöpferischen
Vorgang in sich meint.
Die Übersetzung eines Gedichtes ist schwierig, denn ein
Gedicht ist keine Idee, keine Zusammenstellung von Gedanken und Gefühlen. Es ist
keine metrische oder rhythmische Form, die aus ihrem organischen Zusammenhang
herausgekommen und dann genau in einer anderen sprachlichen Gussform wiederholt
werden kann. Ein lyrisches Gedicht ist mehr als eine Summe seiner Teile: seine
Gesamtheit kann nur von denen erfasst werden die ähnliche Erlebnisse hatten und
den schöpferischen Vorgang nacherleben können. Echte Übersetzung der Lyrik ist
deshalb selten in der literarischen Welt, und sehr wenige große Gedichte haben
die begeisterten, aber ziemlich unglücklichen Übertragungsversuche überlebt, die
sogar von geschickten Übersetzern gemacht wurden. Fügen wir noch die weitere
Schwierigkeit hinzu, dass viele Gedichte des »Gitanjali« Lieder sind, die von
Tagore selbst vertont wurden, in innigster Verbundenheit von Wort und Ton, so
scheint unser Problem zu einem unüberschreitbaren Gebirge zu werden.
Aber es wird immer Übersetzungen geben: Leser verschiedener
Länder werden und müssen fordern, dass die wertvollsten Schätzen der großen
Dichtung der Welt in die literarisch bedeutsamen Sprachen der Menschheit
übersetzt werden. Einen Dichter von Rang Tagores, mit einer allgemeingültigen
künstlerischen Sendung und großer Gedankentiefe, muß man im Original lesen, um
seinen Genius immer wieder neu zu entdecken; aber die Leser verschiedener
Sprachgemeinschaften werden nur schwerlich die Hoffnung aufgeben, einen wahren
Übersetzer zu finden. Glücklicherweise erleichterte Tagore seinen Übersetzern
die Arbeit, indem er selbst seine bengalischen Gedichte in klare, kraftvolle
freie Rhythmen der englischen Sprache übertrug. Diese Übersetzungen können
sorgfältig ausgewählt, herausgegeben und in andere Sprachen übertragen werden…….
….Die geistige und schöpferische Struktur der Gedichte
Tagores ist häufig sogar in seinen eigenen Übersetzungen verloren gegangen: aber
da er ein Meister der englischen Sprache war, konnte er die Atmosphäre seiner
Gedichte auch auf die Übersetzungen übertragen. Ich bin überzeugt, dass diese
deutsche Übersetzung den deutschen Lesern in vielen Teilen der Welt jene
künstlerische Atmosphäre nahe bringen kann.
Amiya Chakravarty
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