Eine Minderheit in der Minderheit
Eine Minderheit in der Minderheit – Kurden in
Deutschland
„Man hat Arbeitskräfte gerufen, und es kamen
Menschen“ (Max Frisch). Mit den Menschen kamen auch deren Konflikte ins Land.
Beispielhaft wurde dies der deutschen Öffentlichkeit durch den Konflikt zwischen
Kurden und Türken vor Augen geführt. Dramatische Ereignisse waren im Juni 1993
die Besetzung des türkischen Generalkonsulats in München, der Anschlag auf 53
türkische Einrichtungen am 4. November 1993, die Autobahnblockaden im März 1994
nach dem Verbot des Newroz-Festes in Augsburg und mehreren anderen Städten und
schließlich die Unruhen nach der Verschleppung Öcalans von Kenia in die Türkei
im Februar 1999. Seinen Ursprung hat dieser Konflikt in der am 19.10.1923
gegründeten türkischen Republik. Nach der Gründung des neuen Staates ging die
türkische nationalistische Elite unter Führung Mustafa Kemals daran, ein
einheitliches Staatsvolk zu schaffen. Sie setzte sich zum Ziel, die innerhalb
der Staatsgrenzen lebende Bevölkerung kulturell, sprachlich, politisch und
gesellschaftlich zu integrieren und zu vereinheitlichen. Kulturell-sprachliche
Unterschiede wurden nicht geduldet. Die Kurden wehrten sich gegen diese
Homogenisierung. Bei ihnen führte der Anpassungs- und Assimilationsdruck zu
einer Verstärkung des Wir-Gefühls und Politisierung des ethnischen Bewusstseins.
Die Folge ist der türkischkurdische Konflikt in Ostanatolien. Die Zahl der
Kurden in der Bundesrepublik wird heute auf 580 000 geschätzt, von denen allein
550000 aus der Türkei stammen. Die Kurden, die im Rahmen des Anwerbeabkommens
seit 1961 nach Deutschland kamen, hatten oft bereits eine Binnenwanderung in den
Westen der Türkei hinter sich (Flucht vor Verfolgung und Elend in Kurdistan oder
Zwangsumsiedlung), wo sie meist in den Armenvierteln an der Peripherie der
Großstädte lebten. Diese politisch meist inaktiven Menschen hofften auf eine
Verbesserung ihrer ökonomischen Situation in Deutschland. Der Anwerbestopp 1973
löste auch bei den Kurden den Familiennachzug aus. Während des Militärregimes
seit 1980 kamen Kurden ebenso wie viele Türken als politische Flüchtlinge nach
Deutschland. Politische Flüchtlinge kamen auch aus den kurdischen Gebieten im
Irak, Persien und Syrien. Deutschland hat verglichen mit anderen
westeuropäischen Staaten den größten Anteil von Kurden an der ausländischen
Wohnbevölkerung. Die erste Generation der kurdischen Zuwanderer aus der Türkei
hatte weitgehend die durch die kemalistische Ideologie zugewiesene Identität als
„Bergtürken“ übernommen und bemühte sich zunächst, der als überlegen empfundenen
türkischen Kultur zu entsprechen. Im Laufe der Zeit hat sich jedoch unter den
Bedingungen der bundesrepublikanischen Gesellschaft aus der türkischen
Minderheit eine eigenständige ethnische Minderheit der Kurden herausgelöst.
Kurde zu sein, ist für viele in Deutschland geborene junge Kurden eine Quelle
des Selbstvertrauens: „Ich bin Kurde und ich bin stolz.“ Durch
identitätsstiftende Symbole wie Sticker, Schals, Haarspangen in den Farben der
kurdischen Flagge Rot, Gelb, Grün setzen sie sich von den türkischen
Jugendlichen ab und machen ihre Identität sichtbar. Als Ausdruck des gemeinsamen
kulturellen Erbes gilt das Newrozfest, das am 21. März gefeiert wird. Heute
nehmen zehntausende von Kurden daran teil. Eines der wichtigsten politischen
Ziele der kurdischen Minderheit in der Bundesrepublik ist die offizielle
Anerkennung als Volksgruppe. Viele Kurden sehen in der Tatsache, dass dies
bisher nicht geschah, die Fortsetzung der Türkisierungspolitik auf deutschem
Boden. Praktisch würde diese Anerkennung u.a. bedeuten: muttersprachlicher
Unterricht in allen Bundesländern (bisher nur in Niedersachsen,
Nordrhein-Westfalen und Bremen), Radiound Fernsehsendungen in kurdischer
Sprache, Anerkennung kurdischer Namen durch die deutschen Standesämter.
(Kurdische Kinder in der Bundesrepublik dürfen bislang nicht auf kurdische Namen
getauft werden.) Ein Indikator der ethnischen Gruppenbildung ist die große
Anzahl von kurdischen Organisationen, deren Zahl sich auf schätzungsweise 150
beläuft. „Für das kulturelle Leben der Kurden spielen die Vereine eine besonders
wichtige Rolle. Sie organisieren Folkloregruppen, Theater, kurdische
Literaturlesungen, stellen kurdische Bibliotheken zusammen, unterrichten die
traditionellen kurdischen Musikinstrumente. Viele Kurden lernen hier überhaupt
erst ihre Muttersprache ...“. Gegenwärtig gibt es einige Anzeichen, welche
Hoffnungen auf eine politische Lösung des türkisch-kurdischen Konflikts in der
Türkei aufscheinen lassen. Nach der Verkündigung des Todesurteils über Öcalan am
29.6.1999 hat die Europäische Union die Türkei vor der Hinrichtung Öcalans
gewarnt, da die EU die Todesstrafe grundsätzlich ablehne. Damit hat die
Gemeinschaft deutlich gemacht, dass für sie die Chancen eines EU-Beitritts der
Türkei auch mit einer politischen Lösung des türkisch-kurdischen Konflikts
zusammenhängen. Der Begriff „Kurdenfrage“ existiert in der Türkei offiziell
nicht. Bislang spricht man von einem „Terroristenproblem“. Die Verschiebung der
Entscheidung über das Schicksal Öcalans auf die europäische Ebene weist jedoch
auf den Weg einer politischen Lösung hin. Auf eine solche Lösung hoffen auch
viele Kurden und Türken in Deutschland. Noch ist aber auch unklar, wie sich das
Militär in der Türkei zu dieser Frage verhält.
Offizielle Erklärungen
Kurde.
Name einer Gemeinschaft, die
großenteils aus Türken besteht, die ihre Sprache gewechselt haben; die ein
verderbtes Persisch spricht und in der Türkei, im Irak und Iran lebt sowie
jemand, der zu dieser Gemeinschaft gehört.
Türkce Sözlük, Ankara 1966
Kurdische Sprache.
Die kurdische Sprache ist
indogermanischen Ursprungs und sprachlich nicht verwandt mit dem Türkischen.
Daher ist die Bezeichnung „Bergtürken“, die bis 1990 für die kurdische
Bevölkerung in den süd-östlichen Provinzen offiziell gebraucht wurde,
irreführend und als Versuch zu bewerten, die ethnische Differenz zwischen Türken
und Kurden zu leugnen.
Şen, Türkei, S. 146
Daten zum türkischkurdischen Konflikt
Ende des 19. Jh.
Zeitlich parallel zur türkischen
Nationalbewegung entsteht eine kurdische Nationalbewegung. Träger sind vor allem
Kurden, die in Istanbul leben.
1918
Das Osmanische Reich bricht am Ende des Ersten
Weltkriegs auseinander.
1920
Friede von Sèvres: Für die Kurden wird eine
Autonomie vorgesehen.
1923
Vertrag von Lausanne nach erfolgreicher
Beendigung des „Befreiungskrieges“ durch Mustafa Kemal: Festlegung der heutigen
Grenzen der Türkei. Von einer Autonomie für die Kurden ist keine Rede mehr.
Kurdistan wird auf vier Staaten verteilt: Türkei, Irak, Iran, Syrien.
29.10.1923
Gründung der Republik Türkei.
1923
Beginn einer Assimilierungspolitik gegenüber
den Kurden: Kurdische Schulen, Organisationen, Publikationen und der öffentliche
Gebrauch der kurdischen Sprache werden verboten.
1925-1938
Es kommt zu vier kurdischen Aufständen, die von
der Armee niedergeschlagen werden.
1978
Abdullah Öcalan gründet die marxistisch
ausgerichtete Arbeiterpartei Kurdistans (PKK). Ziel ist ein unabhängiger
Kurdenstaat.
1984
Die PKK beginnt den bewaffneten Kampf in
Südostanatolien; dort gilt ab 1987 der Ausnahmezustand.
26.11.1993
Innenminister Kanther verbietet die PKK und 35
kurdische Organisationen nach gewaltsamen Demonstrationen von Kurden gegen
türkische Einrichtungen in Deutschland.
1999
Öcalan wird in Kenia gekidnappt und in die
Türkei verschleppt.
29.6.1999
Öcalan wird zur Hinrichtung durch den Strang
verurteilt.
August 1999
Die PKK beendet ihren Kampf in Südostanatolien
und gibt das Ziel eines unabhängigen Kurdistan auf.
Januar 2000
Das türkische Kabinett verschiebt die
Entscheidung des Parlaments über das Todesurteil gegen Öcalan, um einen Spruch
des Europäischen Gerichtshofs in Straßburg abzuwarten.
Die kurdischen Siedlungsgebiete
Die Kurden sind weltweit die größte ethnische
Gruppe ohne eigenen Staat. Im kurdischen Siedlungsgebiet verteilen sich
schätzungsweise 16 Millionen Kurden auf die Länder Syrien (800.000), Iran (5,4
Mio.), Irak (3,5 Mio.), Türkei (6,2 Mio.). Weitere 7 Mio. leben verstreut in den
nichtkurdischen Gebieten der Türkei (5 Mio.), des Irak (ca. 900.000), des Irans
(ca. 900.000), Syriens (ca. 200.000). Außerdem leben schätzungsweise 1,4 Mio.
Kurden außerhalb dieser vier Länder in der Diaspora: Davon ca. 650.000 in
Westeuropa, 350.000 in GUS-Staaten, 300.000 im übrigen
Nahen Osten sowie ca. 100.000 in anderen
Staaten. In der Bundesrepublik leben ca. 580.000 Kurden. Davon stammen ca.
550.000 aus der Türkei, 5.000 aus dem Irak, 4.000 aus dem Iran, 4.000 aus Syrien
und 15.000 aus dem Libanon. (Da die Kurden statistisch nicht nach ihrer
ethnischen Zugehörigkeit, sondern nach ihren Herkunftsländern erfasst werden,
können die Angaben über die Anwesenheit von Kurden nur auf Schätzungen beruhen
(Falk S. 70 und 179).
Sabine Skubsch: Der türkisch-kurdische
Konflikt, S. 47
Heimatlos
Von Hasret Tuc
Ein Ausländer bin ich in Deutschland
Ein Fremder in der Heimat
Die soweit weg ist
Geboren bin ich in Deutschland.
Sehnsucht habe ich nach meiner Heimat
Ich liege wie ein Tourist am Strand
In der Stadt, aus der meine Eltern stammen
Bin doch ein Fremder in der Heimat.
Die Wellen singen meine Sehnsucht
Sonnen und Meer ziehen mich an wie ein Magnet
Meine Heimat, ich kenne sie nur aus den Ferien
Doch keine kann sich mit ihr messen.
In Deutschland nennt man mich Ausländer
In der Türkei, in Italien oder sonstwo
Nennt man mich Deutschländer
So bin ich weder ICH noch ein Deutscher
So bin ich ein Niemand, heimatloser Fremder.
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