don chisciotte

pauker.at

Deutsch
letzte Änderung 14.06.2010
Seite empfehlen

Richtung Mäßigung oder ins islamische Lager?

Hintergrund


11. Juni 2010


Richtung Mäßigung oder ins islamische Lager?




Die israelische Razzia auf der "Free Gaza"-Flottille hat die Beziehungen zur Türkei stark beeinträchtigt. Der türkische Regierungschef hat sich eindeutig hinter die "Friedensaktivisten" gestellt. Doch was für ein Mensch ist Recep Tayyip Erdoğan?

Der türkische Premierminister Erdoğan war eine der treibenden Kräfte hinter der "Free Gaza"-Flottille. Er hat die mit humanitären Hilfsgütern und mehr als 700 "Friedensaktivisten" beladenen Schiffe und ihr Ziel, die Blockade des Gazastreifens zu brechen, zum nationalen Anliegen der Türkei gemacht. Die mit weitem Abstand größte Volksgruppe unter den "Free Gaza"-Aktivisten waren Türken. Durch seine lautstarke Unterstützung der Blockadebrecher wurde Erdoğan zum Held in der islamischen Welt. Die traditionell guten türkisch-israelischen Beziehungen haben ein Allzeit-Tief erreicht. In der Türkei selbst und im westlichen Ausland melden sich kritische Stimmen zu Wort.

Recep Tayyip Erdoğan wurde am 26. Februar 1954 in Kasımpaşa, İstanbul, geboren. Seine Familie stammt ursprünglich aus Rize im Nordosten der Türkei. Erdoğan studierte Wirtschaftswissenschaften an der Marmara-Universität in Istanbul und wurde als Profifußballer unter dem Spitznamen "Imam Beckenbauer" bekannt. Seit 1978 ist er mit Emine verheiratet. Das Paar hat zwei Söhne und zwei Töchter. Sowohl Emine Erdoğan als auch ihre beiden Töchter tragen Kopftuch. Da das Kopftuchtragen als religiöses Symbol in öffentlichen Einrichtungen der Türkei bis Anfang 2008 verboten war, erscheint Frau Erdoğan praktisch nicht bei öffentlichen Anlässen. Die beiden Töchter haben ein Studium in den USA aufgenommen, um das Verbot zu umgehen.



Offenes Bekenntnis zur Scharia


Recep Erdoğan selbst war bereits in jungen Jahren Mitglied in der radikalen islamistischen Organisation Akıncılar Derneği. Seine Laufbahn ist eng mit Necmettin Erbakans Millî-Görüş-Bewegung und ihren politischen Organisationen verknüpft. Laut Internet-Lexikon Wikipedia ist "Millî Görüş in allen Staaten, in denen sie aktiv ist, außergewöhnlich umstritten". Noch Mitte der 1990er Jahre bezeichnete er sich offen als Anhänger der Scharia, des islamischen Rechts. Von 1994 bis 1998 war Recep Erdoğan Oberbürgermeister in Istanbul. Seit seiner Amtszeit wird in städtischen Lokalen kein Alkohol mehr ausgeschenkt. In privaten Kneipen darf er nach wie vor getrunken werden. Die Europäische Union beschrieb er zu Beginn seiner Amtszeit als eine Vereinigung von Christen, in der Türken nichts zu suchen hätten.

Im Januar 1998 verbot das türkische Verfassungsgericht die Wohlfahrtspartei (RP), der Erdoğan damals angehörte. Begründung: Die RP hege Sympathien zum weltweiten Dschihad und verfolge die Einführung der Scharia. Im Frühjahr desselben Jahres hatte Erdoğan in einer Rede auf einer Konferenz in der ostanatolischen Stadt Siirt aus einem islamistischen Gedicht zitiert: "Die Demokratie ist nur der Zug, auf den wir aufsteigen, bis wir am Ziel sind. Die Moscheen sind unsere Kasernen, die Minarette unsere Bajonette, die Kuppeln unsere Helme und die Gläubigen unsere Soldaten." Dafür wurde er vom Staatssicherheitsgericht Diyarbakır wegen Missbrauchs der Grundrechte und -freiheiten zur Aufstachelung zur Feindschaft zu zehn Monaten Gefängnis und einem lebenslangen Politikverbot verurteilt.

Drei Jahre nach seiner Freilassung gründete Recep Erdoğan gemeinsam mit dem heutigen türkischen Staatspräsidenten Abdullah Gül die "Adalet ve Kalkınma Partisi" (AKP – Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung), die sich selbst als "konservativ-demokratisch" versteht, von Beobachtern aber als "muslimisch-demokratisch" gesehen wird. Als die AKP bei den Parlamentswahlen 2002 einen überragenden Wahlsieg errang, konnte Erdoğan als AKP-Vorsitzender doch erst im März 2003 Ministerpräsident werden – nach einer Verfassungsänderung, die das Politikverbot aufhob.

Wohlgesonnene und optimistische Beobachter wollen glauben, Recep Erdoğan habe seine islamistische Vergangenheit überwunden. Kritiker fürchten ihn als "islamistischen Wolf im demokratischen Schafspelz". Sein Vorgehen in den vergangenen Jahren lässt nicht ausschließen, dass er eine geschickte Politik innerhalb des legalen Rahmens der türkischen Republik betreibt, um diese letztendlich in einen islamischen Staat zu verwandeln. Dabei scheint er auch alte osmanische Träume zu bedienen, um eine Vormachtstellung an der Schnittstelle zwischen Orient und Okzident und weit darüber hinaus zu beanspruchen.

Traditionell war die türkische Armee Hüterin der laizistischen Ordnung und einer strikten Trennung von Religion und Staat, entsprechend den Vorstellungen des Staatsgründers Kemal Atatürk. 1960, 1971 und 1980 hat sie diese Vorstellungen durch Militärputsche durchgesetzt. Erdoğan verwahrt sich heute entschieden gegen jede politische Einmischung der Armee und betont, dass "der Generalstab der Befehlsgewalt des Ministerpräsidenten" unterstehe. Bislang vertritt er diese Einstellung ungehindert.



"Kein Interesse an Leiden im Gazastreifen"


Bei seinem Deutschlandbesuch im Februar 2008 bezeichnete Erdoğan die Assimilation türkischer Einwanderer in Deutschland als "Verbrechen gegen die Menschlichkeit" und regte gegenüber Bundeskanzlerin Merkel die Schaffung türkischer Schulen und Universitäten in Deutschland an. In einer Rede in Köln fügte er hinzu: "Wir müssen die europäische Kultur mit der türkischen impfen." Im Februar 2010 folgten 1.500 türkischstämmige Parlamentarier aus mehreren europäischen Ländern seiner Einladung nach Istanbul. Der Berliner Grünen-Abgeordnete Özcan Mutlu lehnte diese ab, mit der Begründung: "Ich habe dort als deutscher Parlamentarier nichts zu suchen. Wir sind kein verlängerter Arm der türkischen Regierung."

Selbst hohe Vertreter der Palästinensischen Autonomiebehörde deuten in Gesprächen unter vier Augen an, dass es Erdoğan bei seinem Engagement zur Beseitigung der Blockade des Gazastreifens eigentlich gar nicht um das Leid der palästinensischen Bevölkerung geht. Vielmehr wächst der Verdacht, dass der türkische Ministerpräsident die verbindende Feindschaft der islamischen Welt gegen den jüdischen Staat Israel, antisemitische Ressentiments in der westlichen Welt und ein Gemisch aus Enttäuschung über die wiederholte Ablehnung der Türkei durch die EU und alte Hegemonialträume nutzen will, um eine islamische Agenda am Bosporus durchzusetzen.



Von: Johannes Gerloff (Jerusalem)


Auf Urheberrechtsvorwurf antworten