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letzte Änderung 16.11.2008
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Die Schwierigkeit, ein Gedicht in eine andere Sprache zu übersetzen

Die Schwierigkeit

Die Schwierigkeit, ein Gedicht in eine andere Sprache zu übersetzen

 

Ausschnitt aus:  Vorwort  [GITANJALI  von  Rabindranath Tagore]

 

 

 

VORWORT

 

Ein Gedicht in ein eine andere Sprache zu übersetzen ist eine heiklere und sogar noch entmutigendere Aufgabe, als eine Feldblume aus ihrem Mutterboden in ein fernes Land zu verpflanzen. Wissenschaftliches Geschick mag wohl eine Blume vor Schock zu bewahren, und die empfindlichste Pflanze kann vielleicht mit Blüte und Tau und goldenem Sonnenlicht in ihrem Saft in einen anderen Garten versetzt werden. Aber das Übersetzen von Literatur kann man nicht zur Wissenschaft machen. Beim schöpferischen Übertragen von Gefühlen, von Lautwerten, von der auf Eingebung beruhenden Struktur eines Gedichts in eine andere Sprache, muß sich der Übersetzer nicht nur durch geübtes Können, sondern durch eine künstlerische Kraft leiten lassen, die nicht verallgemeinert, erklärt und vorausgesagt werden kann. Die geringste Änderung in der gleichen oder in einer verwandten Sprache wird die unwandelbare Eigenart dessen ändern, was der Dichter »mit der Zauberhand des Zufalls«, wie Keats einmal sagt, geformt hat. Heutzutage würden wir die Wörter »Zauber« und »Zufall« vorsichtiger gebrauchen und sie sogar vermeiden, wenn wir versuchen, von dem hohen und geheiligten Können zu sprechen, mit dem ein großer Künstler den tiefsten, schöpferischen Vorgang in sich meint.

Die Übersetzung eines Gedichtes ist schwierig, denn ein Gedicht ist keine Idee, keine Zusammenstellung von Gedanken und Gefühlen. Es ist keine metrische oder rhythmische Form, die aus ihrem organischen Zusammenhang herausgekommen und dann genau in einer anderen sprachlichen Gussform wiederholt werden kann. Ein lyrisches Gedicht ist mehr als eine Summe seiner Teile: seine Gesamtheit kann nur von denen erfasst werden die ähnliche Erlebnisse hatten und den schöpferischen Vorgang nacherleben können. Echte Übersetzung der Lyrik ist deshalb selten in der literarischen Welt, und sehr wenige große Gedichte haben die begeisterten, aber ziemlich unglücklichen Übertragungsversuche überlebt, die sogar von geschickten Übersetzern gemacht wurden. Fügen wir noch die weitere Schwierigkeit hinzu, dass viele Gedichte des »Gitanjali« Lieder sind, die von Tagore selbst vertont wurden, in innigster Verbundenheit von Wort und Ton, so scheint unser Problem zu einem unüberschreitbaren Gebirge zu werden.

Aber es wird immer Übersetzungen geben: Leser verschiedener Länder werden und müssen fordern, dass die wertvollsten Schätzen der großen Dichtung der Welt in die literarisch bedeutsamen Sprachen der Menschheit übersetzt werden. Einen Dichter von Rang Tagores, mit einer allgemeingültigen künstlerischen Sendung und großer Gedankentiefe, muß man im Original lesen, um seinen Genius immer wieder neu zu entdecken; aber die Leser verschiedener Sprachgemeinschaften werden nur schwerlich die Hoffnung aufgeben, einen wahren Übersetzer zu finden. Glücklicherweise erleichterte Tagore seinen  Übersetzern die Arbeit, indem er selbst seine bengalischen Gedichte in klare, kraftvolle freie Rhythmen der englischen Sprache übertrug. Diese Übersetzungen können sorgfältig ausgewählt, herausgegeben und in andere Sprachen übertragen werden…….

….Die geistige und schöpferische Struktur der Gedichte Tagores ist häufig sogar in seinen eigenen Übersetzungen verloren gegangen: aber da er ein Meister der englischen Sprache war, konnte er die Atmosphäre seiner Gedichte auch auf die Übersetzungen übertragen. Ich bin überzeugt, dass diese deutsche Übersetzung den deutschen Lesern in vielen Teilen der Welt jene künstlerische Atmosphäre nahe bringen kann.

 

Amiya Chakravarty

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