Die folgenden Aufzeichnungen habe ich in den Jahren 2011 und 2012 verfasst. Mit Ausnahme einiger weniger Ortsnamen und Daten, die ich im Internet recherchieren musste, konnte ich mich an alle wesentlichen Fakten auch nach über 30 Jahren noch klar erinnern.
Unter statistischen Gesichtspunkten war diese Flucht nicht ungewöhnlich, denn von den Balkanstaaten Ungarn, Rumänien und Bulgarien aus konnten während der 28-jährigen Existenz der Berliner Mauer mehrere tausend Menschen der DDR entkommen. Eine Besonderheit hat sie aber doch: Sie ist zweifellos eine von sehr wenigen gelungenen Fluchten – möglicherweise sogar die einzige -, zu der sich spontan drei Personen zusammenschlossen, die sich vorher alle nicht kannten.
Der Zeitpunkt – Spätsommer 1979 – erscheint mir rückblickend symptomatisch für die Situation der DDR insgesamt. Ich halte es daher auch nicht für Zufall, dass wir den „Eisernen Vorhang“ genau an jenem Tag überwinden konnten, an dem zwei Familien aus Thüringen in einem selbst gebauten Heißluftballon die wohl spektakulärste aller Fluchten aus der DDR gelang. Wenige Wochen und Monate zuvor hatten einige weitere Personen der DDR auf recht bemerkenswerte Weise den Rücken gekehrt. So überflogen von Suhl und Potsdam aus zwei junge Männer den Todesstreifen in Segelflugzeugen, und ein Ingenieur aus Dresden, der lediglich Erfahrung mit Segelflugzeugen hatte, konnte mit seiner Familie in einem gestohlenen Motorflugzeug die Bundesrepublik erreichen. Mindestens eine Flucht in dieser Periode endete jedoch tragisch. Am 10. September 1979 ertranken vier Personen im Alter zwischen 19 und 30 Jahren sowie ein zweijähriges Kind bei dem Versuch, auf einem selbst gebauten Katamaran über die Ostsee zu fliehen. Die Summe dieser ungewöhnlichen Fluchten sehe ich heute als ein erstes zaghaftes Signal, dass es mit der DDR zu Ende ging, und dieses Ende näherte sich in Etappen von jeweils fünf Jahren.* (Einige Anmerkungen hierzu im Anschluss an diesen Bericht)
Im Frühjahr 1984 sah sich das SED-Regime erstmals genötigt, das politische Überdruckventil zu öffnen, indem es mehreren zehntausend Menschen, die einen Ausreiseantrag gestellt hatten, das Verlassen der DDR gen Westen gestattete. Das nützte ihm jedoch gar nichts, denn bereits im Sommer 1984 kam es zur ersten Massenflucht ausreisewilliger Personen in die Prager Botschaft der Bundesrepublik Deutschland. Was sich weitere fünf Jahre später - im Sommer und Herbst 1989 - zutrug, ist hinlänglich bekannt.
Vorgeschichte
Ich wurde im Januar 1959 in Dresden geboren und verbrachte in dieser Stadt und in der unmittelbaren Umgebung meine Kindheit und Jugend. Im April 1974 lief ich von zu Hause fort und wurde einige Wochen später in der Tschechoslowakei unweit der Grenze zur Bundesrepublik Deutschland verhaftet. Zwar liebäugelte ich mit dem Gedanken an eine Flucht in den Westen, war dazu aber noch nicht fest entschlossen. Es waren vor allen Neugier und Naivität, die mich dazu trieben, mir die Grenzgegend näher anschauen zu wollen. Außerdem hatte ich gehört, dass Bundesbürger und andere Westeuropäer tschechoslowakisches Geld weder ausführen noch zurückwechseln durften, sondern an der Grenze genötigt wurden, den verbliebenen Betrag dem Roten Kreuz zu spenden. Ich hoffte, dass sie diesen lieber mir, einem "armen Bruder aus dem Osten", schenken würden, so dass ich noch einige Zeit in der Tschechoslowakei überleben konnte. Die Grenze und den Grenzübergang bekam ich jedoch gar nicht zu Gesicht, sondern wurde schon einige hundert Meter vorher festgenommen. Tags darauf wurde ich an die DDR ausgeliefert und musste anschließend 5 Monate in der Untersuchungshaftanstalt Dresden verbringen. Im Oktober 1974 wurde ich plötzlich entlassen, ohne dass ein Verfahren gegen mich eröffnet worden war. (Einzelheiten hierüber sind in meinem Beitrag Autobiographische Skizzen 1971-1974 nachzulesen.)
Danach hatte es zunächst den Anschein, als könne ich wieder ein normales Leben führen und eine
berufliche Entwicklung nach meinen Vorstellungen nehmen.
Mein Vater hatte während meiner Abwesenheit eine langjährige Arbeitskollegin
geheiratet und bewohnte mit ihr und ihrem damals achtzehnjährigen
Sohn eine Zweizimmerwohnung in Dresden-Johannstadt. Er war
linientreues SED-Mitglied, ein “Hundertzehnprozentiger“, wie es
so schön hieß. Obwohl er seine Kindheit in Bochum verbracht hatte
und erst durch die Kriegsumstände auf das Gebiet der späteren DDR
geraten war, hatte er bis dahin keinerlei westliche ideologische
Einflüsse im Hause geduldet. Bei der Scheidung von seiner zweiten
Frau Gudrun im Mai 1972 hatte er als einen der Scheidungsgründe
angegeben, sie habe westdeutsche Zeitschriften unter dem Bett
versteckt. Mein kleines Taschenradio, ein Erbstück meines
Großvaters, hatte er ein Jahr später auf dem Boden zerschmettert,
als er mich dabei ertappte, wie ich einen westdeutschen
Rundfunksender hörte.
Nach seiner dritten Heirat musste er diesbezüglich jedoch einige Kröten
schlucken. Auch meine neue Stiefmutter Brigitte war SED-Mitglied,
jedoch wesentlich liberaler eingestellt. Mein Stiefbruder Detlev, mit
dem ich mir nun für einige Monate das kleinere der beiden Zimmer
teilen musste, hatte eine komplette Wand mit leeren
Zigarettenschachteln westlicher Fabrikation tapeziert und besaß eine
beeindruckende Schallplattensammlung mit westlicher Rockmusik. Zum
Teil war diese in der DDR selbst veröffentlicht, zum Teil aber auch
aus der Bundesrepublik eingeschmuggelt worden. So kam es, dass ich am
Abend meiner Entlassung aus der Untersuchungshaft - nach fünf
Monaten ohne jegliche Musik – zum ersten Mal ein Stück der Beatles
hörte: „She loves you yeah yeah yeah ...“
Ich glaubte mich in einem Traum, in einer anderen Welt …
Dass sich mein weiteres Leben doch nicht so ganz in den erhofften Bahnen würde
entwickeln können, begann ich schon am darauf folgenden Tag zu
ahnen, als ich im Präsidium der Volkspolizei meinen Personalausweis
abholen wollte. Statt diesem bekam ich einen so genannten PM 12, eine
zweiblättrige Klappkarte mit der Aufschrift: „Vorläufiger
Personalausweis für eingezogenen Personalausweis der DDR“. Sie war
ein Jahr gültig und stigmatisierte mich bei zahlreichen
Gelegenheiten als ausgestoßene Person.
Als ich im Oktober 1975 erneut im Volkspolizeipräsidium erschien, um meinen
Personalausweis in Empfang zu nehmen, erhielt ich stattdessen einen
Vermerk in den PM 12, dass dessen Gültigkeit um ein Jahr verlängert
wurde. Auf meine Frage nach dem Grund erklärte mir die Beamte
barsch: “Wir sind nicht verpflichtet, Begründungen zu geben!“
Dieselbe Prozedur sollte sich noch zweimal wiederholen. Nach dem
dritten Jahr, im Oktober 1977, reichte es mir, und ich schrieb
Eingaben an mehrere Dienststellen der Volkspolizei. Daraufhin
bekam ich zweimal Besuch von Polizeibeamten in Zivil. Natürlich
konnten sie mir keinerlei nachvollziehbare Begründung für diese
Maßnahme geben und konnten oder wollten mir auch keine Hoffnung für
die Zukunft machen. Sie mahnten mich lediglich, mich weiterhin
entsprechend den gesetzlichen Vorschriften zu verhalten. Im Oktober
1978 schließlich zeigte sich, dass meine Eingaben nicht umsonst
gewesen waren, denn nach Ablauf der dritten Verlängerung erhielt ich
anstandslos meinen alten Personalausweis zurück.
Mittlerweile war jedoch etwas geschehen, was meine Zukunftsaussichten in der DDR
noch viel nachhaltiger beeinflussen sollte.
Seit meiner Entlassung aus der Haft besuchte ich die 52. Oberschule Dresden in
Johannstadt, nur wenige hundert Meter von unserer damaligen Wohnung
entfernt. Dort wiederholte ich das neunte Schuljahr. Ich fügte mich
recht gut in die neue Klasse ein, und meine Zensuren am
Schuljahresende waren besser als zuvor in Klotzsche. Im März 1975
zogen wir in eine geräumigere Wohnung in Dresden-Plauen, am Südrand
der Stadt. Nun hatte ich endlich wieder ein eigenes Zimmer, musste
jedoch täglich etwa eine Stunde Straßenbahnfahrt für den Weg in
die Schule und zurück auf mich nehmen.
Seit meiner Kindheit stand mein Berufswunsch fest: Ich wollte Straßenbahnfahrer
werden. Dafür gab es in der DDR eine zweijährige Berufsausbildung
zum „Facharbeiter für städtischen Nahverkehr“, in der unter
anderem mit der Wartung und Reparatur von Straßenbahnen und Bussen
vertraut gemacht wurde. In jeder Dresdner Straßenbahn hingen
Werbeplakate für diese Berufsausbildung, denn bei den
Verkehrsbetrieben der Stadt herrschte großer Fachkräftemangel. Mit
meinem damaligen Zensurendurchschnitt von ca. 2,3 wäre ich mit
Kusshand genommen worden und machte mir deshalb um meine berufliche
Zukunft keine Sorgen.
Später wurde mir bald klar, dass ich diese Arbeit wohl nicht lange durchgehalten hätte.
Doch hätte ich eine abgeschlossene Berufsausbildung gehabt, die
Voraussetzung für den Zugang zum Abiturkurs an der Volkshochschule
war. Zwei Jahre später hätte ich dann die Hochschulreife erlangt
und ein Studium aufnehmen können. Leider kam alles ganz anders …
Gegen Ende der 9. Klasse fand die so genannte Berufsberatung statt. Dazu wurden
alle Schülerinnen und Schüler einzeln vor ein Gremium aus Lehrern
und Vertretern des Ministeriums für Volksbildung gebeten. Als die
Reihe an mir war, kam ich kaum dazu, meinen Berufswunsch
auszusprechen. Sofort fiel mir der Schuldirektor Pinkert ins Wort:
„Nein, du lernst Agrotechniker auf einem Staatsgut bei Löbau.“
Der Schock dieser Worte begann sich erst ganz allmählich in mir auszuwirken.
Zunächst standen die Sommerferien vor der Tür, während derer ich
die Realität noch ein wenig durch zahlreiche Reisen per Anhalter
verdrängen konnte. Da ich mit meinem vorläufigen Personalausweis
nicht einmal mehr nach Polen und in die ČSSR reisen durfte, zog ich
kreuz und quer durch die DDR, fuhr mehrmals für ein bis zwei Tage
nach Thüringen, nach Berlin und an die Ostsee.
Mit Beginn der 10. Klasse jedoch erfasste mich tiefste Frustration. Wenngleich
ich einige Jahre meiner Kindheit in kleinstädtisch-ländlichen
Verhältnissen verbracht hatte, hatte es mich doch immer zu meinen
Großeltern ins nahe Dresden gezogen, und mittlerweile fühlte ich
mich vollständig als Großstadtmensch. Die Vorstellung von einem
Leben als Bauer in der Einöde zwischen Bautzen und der polnischen
Grenze war mir schlichtweg ein Graus.
Irgendjemand
wollte mich offenbar aus Dresden weghaben. Bis heute weiß ich nicht,
welche konkrete Rolle mein Vater in dieser Sache gespielt hat, doch
bin ich überzeugt, dass er daran beteiligt und wahrscheinlich sogar
der Initiator war. Als linientreuer Genosse sollte es ihm jedenfalls
nicht schwer fallen, andere SED-Mitglieder für seine Pläne zu
gewinnen.
Im Herbst
1975 hatte ich meine Zukunft weitgehend abgeschrieben. Bis zum Beginn
der Winterferien im Februar 1976 war ich an 52 Tagen, d.h. an etwa
der Hälfte aller Schultage, dem Unterricht ferngeblieben. In der DDR
war das ein hinreichender Grund für die Einweisung in einen
Jugendwerkhof. Am 25. März
1976 brachte mich mein Vater persönlich in den Jugendwerkhof „Junge
Welt“ im nahen Freital. Bis zu meinem 18. Geburtstag im Januar 1977
musste ich hier im Schichtbetrieb im Edelstahlwerk arbeiten. Der
Tagesablauf außerhalb der Arbeit ähnelte Kasernendrill.
Nach meiner
Entlassung unternahm ich einen letzten Versuch, mich mit dem System
der DDR zu arrangieren. Ich arbeitete zunächst in einer Gewürzmühle
und besuchte ab September 1977 einen Volkshochschulkurs zum Abschluss
der 10. Klasse.
Wenige
Wochen nach mir nahm auch ein Hilfspolizist – eine jener hirnlosen
Personen, deren dumpfe Machtsucht vom Polizeisystem der DDR gern für
Spitzeldienste auf vorgeschobenen Posten missbraucht wurde – die
Arbeit in der Gewürzmühle auf. Heute bin ich überzeugt, dass er
ausschließlich wegen mir auf diesen Arbeitsplatz gesetzt worden war.
Am 15. Juni 1977 fand in Dresden ein spektakulärer Lohngeldraub
auf offener Straße statt. Als die fieberhafte Suche nach den Tätern zunächst erfolglos blieb, begann sich dieser Hilfspolizist plötzlich einzubilden, ich sei an jenem Tag nicht zur Arbeit erschienen, und teilte dies seiner Dienststelle mit. Offenbar brauchte er dringend
ein Erfolgserlebnis. Umgehend bekam ich auf Arbeit Besuch von der
Polizei und wurde ins Präsidium in der Schießgasse gefahren. Dort
erwartete mich eine Sonderkommission aus Berlin. Als mir klar wurde,
dass sie mich dieses Lohngeldraubes verdächtigten, musste ich laut
lachen. Das konnten die Herren aber gar nicht vertragen. Einer packte
mich beim Kragen, drückte mir die Kehle zu und zischte mich an: “Mit
den Sachsen kannst du das vielleicht machen, aber nicht mit uns!“
Dennoch mussten sie bald einsehen, dass ich mit der Sache nicht das
Geringste zu tun hatte.
Nach einem
Jahr war ich der Arbeit in der Gewürzmühle überdrüssig und
suchte mir eine neue Beschäftigung als Radialbohrer im „VEB
Elektromotorenwerke Dresden“. Wenige Monate später schloss ich die
10. Klasse an der Abendschule mit einem Zensurendurchschnitt von 1,5
ab. Leider konnte ich den Schulbesuch nicht fortsetzen, denn wie
erwähnt brauchte ich zunächst eine abgeschlossene Berufsausbildung.
Für eine direkte Lehre war ich mittlerweile zu alt, und die Lust am
Straßenbahn Fahren hatte auch nachgelassen. So nahm ich an der
Abendschule eine Ausbildung zum Zerspaner (Dreher, Fräser, Bohrer)
auf. Vom Betrieb erhielt ich keinerlei Unterstützung, denn statt an
den Maschinen, denen die Ausbildung galt, wurde ich an Pressen und
ähnlichen Vorrichtungen eingesetzt, an denen ich täglich hunderte
oder tausende Male dieselben Bewegungen wiederholen musste –
Arbeit, die sonst niemand machen wollte. Außerdem wurde mir immer
klarer, wie weit der Weg zu einem Studium für mich noch war. Wäre
ich nach der 8. Klasse auf die Erweiterte Oberschule oder nach der
10. Klasse zur Berufsausbildung mit Abitur delegiert worden – das
Zeug dafür hatte ich ja durchaus -, würde ich jetzt schon mitten im
Studium stecken. So aber würde es noch zwei Jahre bis zum Abschluss
der Berufsausbildung dauern, danach würde mich wahrscheinlich die
NVA zum anderthalbjährigen Grundwehrdienst einziehen - vielleicht
würden sie mich mit Hinblick auf meinen gewünschten Studiengang
auch zu „freiwilligen“ 3 Jahren Wehrdienst erpressen -,
anschließend dann noch zwei Jahre Abiturlehrgang, so dass ich bei
etwas Glück mit 25 oder 26 hätte anfangen können zu studieren.
Dafür fehlte mir schlichtweg die Geduld, denn ich war von einem
gewaltigen Fernweh beherrscht und verband mit einer akademischen
Berufsausbildung auch immer die Hoffnung auf Auslandsreisen
Ganz hatte
ich den Gedanken an eine Flucht aus der DDR in den letzten 4 Jahren
nie aufgegeben, doch nun, im Herbst 1978, begann ich mir wieder
verstärkt Gedanken darüber zu machen. Als ich von einem Engländer
las, der auf einem mit Tragflächen und Propeller ausgestatteten
Fahrrad den Ärmelkanal überflogen hatte, war ich von der Idee einer
solchen Flucht fasziniert. Die Autobahn von Dresden nach Berlin
führte in ihrem letzten Abschnitt geradewegs auf Rudow in
West-Berlin zu und endete 2 km vor der Mauer. Nach Mitternacht war
sie stets für einige Stunden völlig verwaist, so dass ich dort
ungestört hätte Anlauf nehmen können.
Nun ja, erst
einmal hätte ich ein solches Fahrrad ja bauen müssen, doch ich
wusste nicht, wie, und ich wusste nicht, wo. Von Aerodynamik hatte
ich zwar einige Ahnung; dennoch hätte ich erst einige Probeflüge
machen müssen, und mir war klar, dass das in doppelter Hinsicht
gefährlich war. Zum einen hätte ich abstürzen können, zum anderen
wäre das zweifellos irgendjemandem aufgefallen, und ich hätte bald
wieder Besuch von der Staatsmacht bekommen. Diesen Plan
habe ich also nie ernsthaft in Angriff genommen. Dafür wurde ich
sofort hellhörig, als ich im Februar 1979 mit meinem Saufkumpan
Siggi im Radeberger Keller am Postplatz saß und er ganz beiläufig
den Vorschlag machte, wir könnten ja im Sommer mal nach Bulgarien
fahren. Natürlich: Seit vier Monaten hatte ich wieder meinen
normalen Personalausweis; die Chancen standen also nicht schlecht,
nun endlich auch eine Reiseerlaubnis für die Balkanstaaten zu
bekommen. Und von Bulgarien aus kam man ganz einfach in die Türkei,
da brauchte man nur am Schwarzmeerstrand entlang zu laufen. Das
jedenfalls hatte mir ein Mitgefangener während meiner Haft erzählt
…
Zunächst
war es nur eine Idee, doch im Juni entwickelte sich das Ganze zu
einem handfesten Plan, den ich nun mit aller Entschlossenheit
umsetzte. Vorausgegangen waren einige Ereignisse, die mir restlos
bewusst machten, in welch gigantischer Kontrollmaschine ich saß.
Zu Pfingsten
1979 organisierte die FDJ ein so genanntes Nationales Jugendfestival
in Ost-Berlin als kleinen Abklatsch der Weltfestspiele von 1973. Bei
dieser Gelegenheit durften etwa 75'000 geladene linientreue
Jugendliche in Blauhemden vor der Partei- und Staatsführung
vorbeidefilieren. Die Vorbereitungen dazu hatte ich bisher kaum zur
Kenntnis genommen, da mich das Ganze nicht im Geringsten
interessierte. Als ich am
letzten Montag im Mai gegen Mitternacht von der Spätschicht nach
Hause kam, prangte an unserer Wohnungstür eine Postkarte mit einem
riesigen Stempel der Kriminalpolizei und der Aufforderung, am darauf
folgenden Morgen um 8 Uhr in ihrer Dienststelle zu erscheinen.
Ich dachte
nicht daran! Gegen 9 Uhr
- ich war gerade aufgestanden – hielt ein Lada vor unserem
Wohnblock, dem zwei Herren in identischen braunen Anzügen
entstiegen. Mir war sofort klar, dass sie zu mir wollten. Es dauerte
eine ganze Weile, ehe sie zur Sache kamen. Zunächst wollten sie
natürlich wissen, warum ich nicht um 8 Uhr bei ihnen erschienen war.
Meine Erklärung, dass ich Schicht arbeitete und meinen Schlaf
brauchte, nahmen sie widerspruchslos zur Kenntnis. Es folgte eine
Reihe belangloser Fragen, wie es mir gehe, wie mir meine Arbeit
gefalle, was ich im Urlaub vorhabe … Schließlich
zogen sie die Schlinge enger: „Und was haben Sie zu Pfingsten vor?“
Darüber
hatte ich mir noch gar keine Gedanken gemacht. „Sie wollen nicht
zufällig nach Berlin fahren?“ Jetzt erst begann es bei mir zu
dämmern. „Nein.“
„Und
…Sie können uns versprechen, dass Sie nicht nach Berlin fahren
werden?“ Dieses Versprechen fiel mir nicht schwer. Ich hatte
niemals auch nur angedacht, an jenem Wochenende nach Berlin zu
fahren. Was sollte ich dort? „Wir
können Sie hier nicht festhalten, aber falls Sie doch nach Berlin
fahren, hätte das ernsthafte Konsequenzen für Sie!“ Als sie
schon in der Tür standen, meinte einer von ihnen noch: „Und denken
Sie daran: Ob Sie im Urlaub nach Bulgarien fahren können, hängt
auch von uns ab!“ Keine
Viertelstunde später klingelte es erneut. Diesmal war es der
Abschnittsbevollmächtigte**, ein etwa Dreißigjähriger, der auf
jugendlich machte und mich verständnisvoll lächelnd fragte: „Hallo,
wie geht’s, alles klar?... Wann gehst du auf Arbeit?“
„Um eins.“ „Ok, kannst du vorher kurz in meinem Büro vorbeikommen? Ist nur ’ne
Kleinigkeit, dauert keine drei Minuten.“ Die
Kleinigkeit bestand aus einem vorgefertigten Formular mit etwa folgendem Text: „Ich,
Matthias Behlert, wurde darüber belehrt, dass ich in der Zeit vom 2.
bis 5. Juni 1979 Berlin, Hauptstadt der Deutschen Demokratischen
Republik, nicht zu betreten und mich auch ansonsten entsprechend den
gesetzlichen Bestimmungen zu verhalten habe. Zuwiderhandlungen werden
mit Ordnungsstrafverfahren bzw. Strafverfahren geahndet.“ Ich brauchte
nur zu unterschreiben, und schon konnte ich meinen Weg zur Arbeit
fortsetzen. Vom Mittwoch
auf den Donnerstag derselben Woche tauschte ich auf Wunsch meines
Meisters die Schicht und arbeitete am Donnerstag daher schon
vormittags. Gegen 10 Uhr rief mich der Meister in sein Büro, wo ich
zwei mir bereits bekannte Herren in identischen braunen Anzügen
erblickte. „Wir wollten Sie noch bitten, das hier zu
unterschreiben." „…Aber
das habe ich doch schon unterschrieben!“ Die beiden
Herren verstanden zunächst überhaupt nichts. „Sooo…? Wo denn?“ „Beim
ABV.“ „Sooo …? Hmmm … ja … also wenn das so ist … wenn Sie das schon
unterschrieben haben … dann brauchen sie das natürlich nicht noch
mal zu unterschreiben.“ Am
Pfingstsonntag – ich hatte auf einem Campingplatz mit Bekannten
durchgemacht und war gerade in mein Bett gesprungen – klingelte es
gegen 10 Uhr morgens an der Wohnungstür. Ich hörte, wie mein Vater
öffnete und wenig später etwas murmelte von „… grundsätzlich
Verständnis, aber ist das nicht etwas übertrieben …“ Kurz
darauf klopfte es an meiner Zimmertür, und einer der braunen Herren
steckte seinen Kopf herein: „Guten Morgen, Herr Behlert, ich wollte
mich nur überzeugen, dass Sie tatsächlich nicht nach Berlin
gefahren sind.“ Mittlerweile war auch meine Stiefmutter im Korridor
erschienen, und ich hörte, wie sie dem Herrn ins Treppenhaus
nachrief: „Arschloch!“
Irgendwie
hatte es sich ergeben, dass ich die Balkanreise nicht mit Siggi,
sondern mit meinem Stiefbruder plante. Detlev ließ kaum eine
Gelegenheit aus, sich abfällig über die „Zone“ zu äußern, und
obwohl ich ihn eigentlich nicht sehr gut kannte, hatte ich, was meine
Fluchtgedanken anging, volles Vertrauen zu ihm. Er selbst schien von
einer Flucht zunächst auch begeistert, änderte während der
verbleibenden Monate jedoch ständig seine Meinung. Zum einen konnte
er wohl nicht recht an ein Gelingen glauben und hatte große Angst
vor einer Verhaftung, zum anderen beängstigten ihn auch die
Verhältnisse im Westen. Seit seiner Entlassung vom Wehrdienst
arbeitete er als Kraftfahrer in der Nähe von Leipzig, wo er auch
westliche Fernsehprogramme empfangen konnte (anders als in Dresden,
das deshalb den Spitznamen „Tal der Ahnungslosen“ trug). Anfang
August sah er eine Reportage über den harten beruflichen
Existenzkampf von Kraftfahrern in der Bundesrepublik. Daraufhin legte
er sich endgültig fest, dass er keine Flucht versuchen würde.
Im Juli
fuhren wir zusammen für ein Wochenende nach Polen, wo wir ein
kleines Zelt und eine Luftmatratze für zwei Personen kauften. Ein
oder zwei Wochen später erstand ich in Prag einen geräumigen
Rucksack mit Tragegestell. Solche für den Campingurlaub
unentbehrlichen Gegenstände waren in der DDR kaum zu bekommen.
Etwa zur
selben Zeit hatte ich die Reisegenehmigung für die Balkanstaaten
beantragt. Anfang August erschien ich zur Abholung und bekam sie zu
meiner großen Freude und Erleichterung tatsächlich ausgehändigt.
Es war nur ein kleiner Zettel mit dem Aufdruck “Reiseanlage für
den visafreien Reiseverkehr“. Auf der Rückseite war mit
Schreibmaschine vermerkt:
15 Tage VR
Ungarn 15 Tage SR
Rumänien 15 Tage VR
Bulgarien
Nun schien
alles klar, doch sollte meine Reise im letzten Moment noch mehrmals
in Gefahr geraten. Zunächst machte sich, als ich schon beim Packen
war und alles Nötige übersichtlich ausgebreitet hatte, unser
Zwergpapagei ausgerechnet über die Reisegenehmigung her und begann
sie genüsslich zu zerknabbern. Zum Glück bemerkte ich das ziemlich
schnell, so dass er nur eine Ecke beschädigen konnte. Am Vortag
unserer Abreise fuhr ich nach Dresden-Niedersedlitz und wechselte in
der dortigen Filiale der Staatsbank Geld in die Währungen der
Länder, die ich bereisen würde. Zurück am Hauptbahnhof spielte mir
mein Portmonee einen Streich. Als ich es öffnete, klappte das
hintere Fach auf, und zwei Dutzend blaue, grüne, rote und gelbe
Scheine flatterten über den windigen Bahnhofsvorplatz. Glücklicherweise
halfen mir mehrere Passanten beim Einsammeln, und ich bekam
tatsächlich alles zurück. Niemand hatte auch nur geschaut, um
welche Währung es sich handelte. Ursprünglich
sollte Freitag, der 24. August 1979, mein letzter Arbeitstag werden
und unsere Reise am Samstag beginnen. Da Detlev aber bereits Urlaub
hatte, fragte ich am Mittwoch meine Kaderleiterin, ob ich nicht schon
ab Freitag Urlaub nehmen könne. Sie hatte keine Einwände, und das
war vielleicht mein größtes Glück.
Wie ich
später erfuhr, klingelten an jenem Freitag Nachmittag gegen 15.00
Uhr – als ich mit Detlev im Zug nach Prag saß und die DDR bereits
verlassen hatte – zwei Polizisten an der Wohnung meiner Oma, bei
der ich des öfteren gewohnt hatte. Der Zeitpunkt deutete stark
darauf hin, dass sie mich bei Schichtende am Betriebstor erwartet
hatten. Als ich dort nicht erschien, machten sie sich auf die Suche
nach mir. Von meinen
Fluchtabsichten hatte ich nur einem polnischen Arbeitskollegen
erzählt, mit dem ich befreundet war. Allerdings konnte
ich später nie glauben, dass er mich verpfiffen hat, zumal er kaum
Deutsch sprach. Während der letzten Arbeitstage war ich in den
Pausen jedoch ständig damit beschäftigt gewesen, Straßenkarten der
Balkanländer zu studieren. Einmal ertappte mich ein älterer
Kollege – SED-Mitglied oder zumindest in der Gewerkschaft aktiv -
dabei, wie ich mich auf die Grenzgegend zwischen Bulgarien und
Griechenland konzentrierte, und sagte: „Willst du etwa abhauen? Im
Westen gehst du unter!“ Natürlich gab ich mir alle Mühe, seinen
Verdacht zu zerstreuen, doch vermutlich war er es, der mir die
Polizei auf den Hals gehetzt hat. Von meinem vorgezogenen
Urlaubsantritt hatte er zum Glück nichts mitbekommen.
Das Land
meiner Träume war nicht die Bundesrepublik, das waren die
Niederlande. Im Frühjahr hatte ich auf einem Flohmarkt in Breslau
ein uraltes Langenscheidt-Wörterbuch Deutsch-Niederländisch
erstanden und begonnen, die Sprache zu erlernen. Seit dem Frühsommer
hielt ich mich häufig auf Campingplätzen auf und suchte dort vor
allem Kontakt zu Niederländern. So bekam ich mehrere holländische
Zeitungen und Zeitschriften geschenkt. (Die Einfuhr deutschsprachiger
Presserzeugnisse aus dem westlichen Ausland war streng verboten, doch
gegen Zeitschriften in anderen Sprachen, hatten die DDR-Zöllner
nichts einzuwenden.) Ein Bekannter, der im „Graphischen Großbetrieb
'Völkerfreundschaft'“ arbeitete, zweigte für mich zudem drei
Science-Fiction-Romane auf Niederländisch ab, die dort gedruckt
wurden.
Mein Plan
war es, mich bis in die Niederlande durchzuschlagen und dort um
politisches Asyl zu bitten. Wie ich erst nach der Wende erfuhr, wäre
das auch durchaus möglich gewesen. Doch sollte alles etwas anders
kommen.
Die Idee,
mich am Schwarzen Meer entlang von Bulgarien in die Türkei zu
schleichen, hatte in den Wochen vor unserer Abreise zwar immer noch
einen festen Platz in meinem Kopf, doch zog ich nun zunehmend auch
andere Wege in Betracht. Ich war nicht mehr so naiv wie bei meiner
Verhaftung 1974 und ahnte, dass die Flucht von Bulgarien in die
Türkei wohl doch nicht so einfach sein würde, wie mir im Knast
geschildert worden war. Zuletzt spielte ich vor allem mit dem
Gedanken, über die Rhodopen nach Griechenland zu fliehen. Dass es
auch an dieser Grenze eine intensive Überwachung gab, war mir klar.
Aber im Hochgebirge hatte sie vielleicht ein paar größere Lücken …
Reise
auf den Balkan
Am sonnigen
Freitagvormittag saß ich eine gute Stunde vor einer Cafeteria
gegenüber dem Hauptbahnhof und schaute die Prager Straße entlang –
im Bewusstsein, dass es für lange Zeit mein letzter Blick auf
Dresden sein würde. Gegen Mittag reiste Detlev aus Leipzig an, und
am frühen Nachmittag bestiegen wir den Zug nach Prag. Aus meinem
schnarrenden alten Kassettenrecorder tönte Musik von Procol Harum,
als die DDR-Grenzer die Abteiltür öffneten und unsere Dokumente
kontrollierten. Für sie war es Routine, und sie hatten keinerlei
Verdacht. Wären wir einen Zug später gefahren, hätten sie
möglicherweise schon einen Steckbrief von mir gehabt. Doch das
konnte ich zu jenem Zeitpunkt nicht ahnen. Eine knappe halbe Stunde
nach Abfahrt befanden wir uns bereits in der Tschechoslowakei. Obwohl
Detlev drei Jahre älter als ich war, überließ er mir von nun an
widerspruchslos das Kommando, da ich mich im Ausland viel sicherer
bewegte und mir besser zu helfen wusste als er. Vor allem in Prag
kannte ich mich mittlerweile bestens aus, und vor meinen
Sprachkenntnissen hatte Detlev großen Respekt. Am frühen
Abend schlugen wir unser Zelt am Moldauufer im Prager Stadtteil
Braník auf – auf jenem Campingplatz, auf dem ich sechs Jahre zuvor
schon eine Woche mit meiner Schulklasse verbracht hatte. Auch hier
suchte ich vor allem Kontakt zu Niederländern und freundete mich mit
zwei Brüdern aus der Provinz Nordholland an. Sie waren in einem
alten buckligen Volvo, Baujahr 1963, angereist. Das fand ich etwas
seltsam, denn alle anderen Autos aus dem westlichen Ausland waren
viel moderner und schnittiger. Für einen echten Oldtimer wiederum
war er noch nicht alt genug. Am Samstag und Sonntag unternahmen wir
zu viert einige Touren durch die Stadt. Den Namen des Dörfchens, aus
dem die beiden Brüder stammten, prägte ich mir fest ein, und acht
Jahre später sollte ich sie zu Hause besuchen. Dass sich
der Sommer dem Ende entgegen neigte, spürten wir vor allem an den
sehr kühlen Nächten in Prag. Für Temperaturen unter 10° C waren
unsere Schlafsäcke nicht ausgelegt. Als wir unsere Reise am frühen
Montagnachmittag wie geplant in Richtung Budapest fortsetzten, war ich
nicht nur deshalb froh, sondern auch, weil das Abenteuer für mich
jetzt erst richtig losging. So gut ich Prag mittlerweile auch kannte
– östlich oder südöstlich davon war ich noch nie gewesen. Die
dichten, finsteren Fichtenwälder, die der Zug nun durchquerte,
hatten für mich etwas Magisches. Ich fühlte mich an die düsteren
Sagengestalten aus dem Buch „Slowakische Märchen“ erinnert, aus
dem uns im Schulhort oft vorgelesen worden war.
Es dämmert
schon, als wir endlich die Grenze erreichen und zur Rechten die Donau
in Sicht kommt. Eine gute halbe Stunde dauert die Fahrt nach Budapest
jetzt noch. Im letzten Abendlicht versuche ich zu erkennen, was in
Ungarn anders ist als in den Ländern, die ich bisher kenne. Nun ja,
ein paar kleine Unterschiede sehe ich – in der Architektur und
Farbgebung der Häuser, in den Nummernschildern der Autos …, aber
nichts Gravierendes.
Seit Prag
haben wir nichts mehr gegessen, also zieht es uns auf dem Westbahnhof
zuerst ins Bahnhofsrestaurant. Das hat einen etwas morbiden Charme.
Es ist noch aus der Zeit der K.u.K. Monarchie übrig geblieben und
seitdem offenbar nicht mehr renoviert worden. Eine kleine
Zigeunerkapelle sieht in uns Neuankömmlingen ideale Opfer.
Demonstrativ postieren sie sich neben unserem Tisch und ziehen erst
ab, nachdem wir ihnen etliche Forint hingelegt haben. Anschließend überqueren wir mit der Straßenbahn
die Donau. Die Fahrt führt über das Südende der legendären
Margareteninsel, einem beliebten Treffpunkt und Schlafplatz
junger ostdeutscher Touristen, der, wie wir gehört haben, in
letzter Zeit jedoch regelmäßig von der Polizei geräumt wird.
Deshalb besteigen wir am Budaer Ufer die Vorortbahn HÉV
und fahren gen Norden zum Romai Camping. Eine Übernachtung in
unserem kleinen Zelt kostet hier umgerechnet etwa 20 Mark. Das
erschreckt uns nicht nur deshalb, weil es fast 30-mal teurer ist als
auf den Campingplätzen in der DDR, sondern auch, weil unser Vorrat
an Forint sehr begrenzt ist und wir hier nichts mehr umtauschen
können. Am Kiosk gibt es zahlreiche Biersorten zu kaufen, darunter
die begehrten ostdeutschen Marken Radeberger und Wernesgrüner, die
in der DDR kaum zu bekommen sind. Jedoch kostet eine Flasche etwa
fünf Mark. Wenigstens ist es hier noch hochsommerlich warm, auch
nachts. Am nächsten
Morgen rufe ich Kati an, eine junge Budapesterin, die ich im Mai in
Prag kennen gelernt habe. Ich hoffe, dass sie uns helfen kann, eine
günstigere Unterkunft zu finden. Sie selbst lebt in beengten
Verhältnissen, gibt uns aber die Telefonnummer ihrer älteren
Schwester. Diese bewohnt mit ihrem Mann eine Dreizimmerwohnung in
einer Villa am Gellértberg. Da sie gerade Besuch haben, müssen wir
zunächst unser Zelt im Vorgarten aufschlagen. Die Nacht verläuft
etwas ungemütlich, denn das Gelände ist leicht abschüssig, und wir
rutschen ständig zum Fußende. Am nächsten Morgen bringen wir unser
Gepäck in die Wohnung und können nun endlich unbeschwert die Stadt
erkunden. Hier gibt es tatsächlich fast alles zu kaufen,
Schallplatten der Rolling Stones (die in der DDR nicht gespielt
werden dürfen), Levis-Jeans, Schweizer Schokolade … Leider ist das
meiste für uns völlig unerschwinglich. Auf einem großen Obst- und
Gemüsebasar herrscht eine fast orientalisch anmutende Atmosphäre. Die
östlichste Stadt, die ich je gesehen habe, und zugleich die
westlichste.
Die
verbleibenden zwei Nächte verbringen wir im Bett im Gästezimmer. Am
regnerischen Donnerstag unternehmen wir eine Fahrt mit der
Kindereisenbahn durch die Berge am Budaer Ufer. Während ich auf der
Sitzbank Platz nehme, erkenne ich gegenüber ein Ehepaar aus der
Nachbarschaft meiner Oma, mit dessen beiden Söhnen ich seit der
Kindheit lose befreundet bin. „Die Welt ist doch ein Dorf!“ sagt die
Frau. Es ist wohl das letzte Mal, dass ich sie sehe. Am
Freitagmorgen scheint wieder die Sonne. Nachdem wir uns reisefertig
gemacht haben, spülen wir sämtliches Geschirr und bringen die Küche
auf Hochglanz. Das ist die einzige Art, die mir einfällt, uns für
die Gastfreundschaft erkenntlich zu zeigen. Dann verschließen wir
die Wohnungstür, werfen den Schlüssel in den Briefkasten und machen
uns auf den Weg zur Ausfallstraße Richtung Süden. Da unser
ungarisches Geld zu Ende geht, versuchen wir es von hier ab per
Anhalter. Nach einer halben Stunde Winken hält ein fabrikneuer Bus
der Marke Ikarus. Seine Sitze sind mit Plastikfolie überzogen; er
wird wohl gerade ausgeliefert. Nun fahren wir durch die Puszta,
scheinbar endloses Grasland ohne die geringste Erhebung. Nur hier und
da steht ein Gehöft mit dem typischen ungarischen Ziehbrunnen. Am
Nachmittag setzt uns der Fahrer in Szeged ab, und nachdem wir in
einem Fischrestaurant am Rande der Stadt gegessen haben, fragen wir
uns zur Straße Richtung Rumänien durch. Die Grenze ist nicht mehr
weit; wir hoffen, sie heute noch erreichen zu können. Leider winken
wir für den Rest des Tages vergeblich. Die paar Autos, die hier
vorbeikommen, sind entweder voll besetzt oder fahren - wie uns die Insassen mit Gesten klarmachen - nur bis in ein nahes Dorf.
Als die
Sonne schon tief steht, sehen wir jemanden auf uns zu kommen. Erst
nach einer Weile wird uns klar, dass es sich um einen Mann handelt.
Die mehr als schulterlangen glatten blonden Haare ließen zunächst eher an eine
Frau denken. Mit seiner runden Nickelbrille wirkt er wie ein jüngerer
John-Lennon-Verschnitt. Sein einziges Gepäckstück ist eine
Umhängetasche, aus der ein paar Zeltstangen hervorschauen. Es ist
Frank aus Berlin-Köpenick, der ebenfalls in Richtung Bulgarien
unterwegs ist.
Die Nacht
verbringen wir auf einem schmalen Grasstreifen neben der Straße. In
der Morgendämmerung erwachen wir, weil das Zelt über uns
zusammenfällt und wir draußen Männerstimmen hören. Es sind zwei
Polizisten, die für wildes Zelten keinerlei Verständnis haben. So
stehen wir schon früh morgens wieder an der Straße und werden nach
einer guten Stunde alle drei in einem PKW mitgenommen. Der Fahrer
will eigentlich nur in das Städtchen Makó, hat aber sofort
begriffen, dass wir nach Rumänien unterwegs sind, und fährt wegen
uns fast 20 km weiter bis zum Grenzübergang Nagylak. Es ist Samstag,
der 1. September 1979. Die
rumänischen Zöllner kennen auf Deutsch scheinbar nur ein Wort, und
das ist zugleich das einzige, was sie an uns interessiert, denn
während sie in unserem Gepäck wühlen, fragen sie mehrmals
„Waffen?“ Dreißig
Meter hinter dem Grenzübergang nehmen wir am Straßenrand
Aufstellung. Links und rechts ziehen sich Felder. In einem Graben
gegenüber quaken tausende Frösche. Etwa 700 Meter weiter ist das
erste rumänische Dorf zu erkennen. Uns ist ein wenig bange, was uns im
„wilden“ Rumänien wohl erwartet. Kürzlich erst habe ich eine
haarsträubende Geschichte gehört von einer ostdeutschen Familie,
die mit dem Auto in Rumänien unterwegs war, als plötzlich ein
Zigeunerjunge über die Straße lief. Der Fahrer konnte nicht mehr
bremsen und überfuhr das Kind. Zu Fuß machte er sich auf ins
nächste Dorf, um die Polizei zu verständigen, und ließ Frau und
Kind im Auto. Als er zurückkam, fand er das Auto ausgebrannt und
Frau und Kind an einem Baum erhängt. Einige Monate später werde ich
in Düsseldorf haargenau dieselbe Geschichte zu hören bekommen - nur
dass sie diesmal nicht in Rumänien spielt, sondern in Marokko …
Nicht mehr
als drei bis vier Autos überqueren stündlich die Grenze, und in
keinem ist Platz für drei Anhalter mit Gepäck. Wir müssen uns in
Geduld üben. Nach einiger Zeit kommt ein Lastwagen einen Feldweg
entlanggefahren. Auf der Ladefläche sitzen einige Frauen und Männer
neben einem Berg Wassermelonen. Als er auf die Hauptstraße einbiegt,
läuft ihm Frank hinterher und streckt sehnsüchtig die Arme aus.
Sofort greift ein Mann eine Melone und versucht sie so vorsichtig wie
möglich in den Straßengraben rollen zu lassen. Leider zerbricht sie
trotzdem, doch aus den Bruchstücken können wir nun in der prallen Sonne wenigstens etwas
Flüssigkeit zu uns nehmen. Am frühen Nachmittag kommt vom Grenzübergang ein
kleiner Lieferwagen auf uns zu und hält. Ich als der
Sprachgewandteste muss auf dem Beifahrersitz Platz nehmen, während
sich Detlev und Frank auf der Ladefläche ausstrecken. Meine
bisherigen Sprachkenntnisse nützen mir hier allerdings wenig, denn
der rumänische Fahrer spricht kein einziges Wort irgendeiner anderen
Sprache. Ein klein wenig können wir uns dennoch verständigen, denn
ich meine, hin und wieder ein Wort zu verstehen, das mir aus dem
Spanischen oder Italienischen vertraut ist. Als wir die Großstadt
Arad durchqueren, erblicke ich auf dem Fußweg eine wunderschöne
junge Frau. Ich kann nicht anders, als sie aus vollem Herzen
anzulächeln. Sie lächelt ebenso herzlich zurück.
Immer
noch befinden wir uns in der ungarischen Tiefebene. Dann aber taucht
in der Ferne ein mächtiges Gebirge auf. Es schießt so steil und
unvermittelt aus dem Flachland, dass ich mir nicht vorstellen kann,
wie dort eine Straße hinaufführen soll. Noch haben wir jedoch eine
halbe Stunde Fahrt bis dorthin, und beim Näherkommen erweist sich
der Hang als etwas weniger steil. In Serpentinen schlängelt sich die
Straße nun kontinuierlich aufwärts. Irgendwann halten wir zum Essen
auf einem Parkplatz. Es scheint ein beliebter Haltepunkt für
Kraftfahrer zu sein. Davon zeugen die Unmengen an Müll, die
ringsherum im Wald liegen. Später kommt das Gespräch zwischen mir
und unserem Fahrer unweigerlich auf Ceauşescu.
Er scheint noch einen gewissen Stolz auf seinen
Staatspräsidenten zu empfinden, denn er erklärt mir gestenreich,
das sei ein starker Mann, der die Russen aus Rumänien ferngehalten
habe. Einige Monate zuvor habe ich Ceauşescu
sogar persönlich zu Gesicht bekommen, als er zusammen mit Honecker
aus Prag kommend die Dresdner Bergstraße herunterrollte. Auf dem
Rücksitz des offenen Wagens wirkten die zwei winkenden schmächtigen
Männer ziemlich unscheinbar. Wenig später kam es zu einem
eklatanten Bruch zwischen Rumänien und den übrigen „sozialistischen
Bruderstaaten“. Kurz vor Beginn der Urlaubssaison 1979 verkündete
Rumänien, es werde ausländischen Touristen Benzin künftig nur noch
gegen westliche Devisen verkaufen. Damit hat die rumänische
Regierung deutlich demonstriert, was sie von „sozialistischer
Bündnistreue“ hält, und dieser Beschluss soll noch großen
Einfluss auf unsere Fluchtpläne haben. Ungarn wird
seine Grenze zu Österreich und Jugoslawien bis zum Sommer 1989 fast ausschließlich im
Interesse der DDR-Regierung abriegeln, denn ungarische Staatsbürger
dürfen längst in den Westen reisen. Auch Bulgarien sichert seine Süd- und Westgrenze vor allem aus Willfährigkeit gegenüber Moskau und Ostberlin. Rumänien hingegen hält seine
Grenze zu Jugoslawien zwar auch dicht, allerdings
nur, um die eigenen Landsleute an der Flucht zu hindern. Ausländer
interessieren sie eher wenig.*** Das beginnen wir aufgrund der
„Benzin-Affäre“ zu ahnen, und diesen Umstand sollen wir uns bald
zunutze machen. Nach etwa
250 km setzt uns der Mann in Deva ab. Er hält vor einer Bar und
bittet uns, noch zu warten, während er darin verschwindet. Wenig
später kommt er mit drei Flaschen Bier und drei Schachteln
Zigaretten zurück, die er an uns verteilt. Wir sind sehr angetan von
dieser Geste. Nun befinden
wir uns bereits in Siebenbürgen und müssen eine
Übernachtungsmöglichkeit finden, denn der Tag neigt sich dem Ende
entgegen. Hier in Deva gibt es keinen Campingplatz, erfahren wir. In
Simeria, zehn Kilometer weiter, gibt es einen. Also stellen wir uns
noch einmal an die Straße. Eine Gruppe von Zigeunern, die hier am
Ortsausgang unweit von uns herumlungert, beunruhigt uns, und wir
wollen so schnell wie möglich weiter. Als die Dämmerung
hereinbricht, zücken wir unsere Taschenlampen und winken damit die
vorbeifahrenden Autos an. Sie bremsen zwar, doch als sie sehen, dass
es sich nicht um Polizei handelt, hupen sie wütend und fahren
weiter. Wir wollen bloß weg von den Zigeunern und laufen daher ein
paar hundert Meter weiter. Als es schon stockdunkel ist und wir
mitten im Wald stehen, hält doch noch ein PKW. Das Ehepaar erweist
sich als ausgesprochen hilfsbereit, wenngleich wir zunächst
skeptisch sind, als der Mann den Kofferraum öffnet und uns
auffordert, unser Gepäck hineinzulegen. Wir haben schon von
Autofahrern gehört, die das Gepäck von Anhaltern erst nach Zahlung
einer üppigen Summe wieder herausrücken. Doch die beiden haben
nichts dergleichen im Sinn. Sie fahren uns bis zum Eingang des
Campingplatzes, und als ich ihnen ein paar Lei in die Hand drücken
will, lehnen sie entschieden ab. Der Platz
ist fast leer, nur ein kleines Zelt und ein Wohnmobil stehen darauf.
Das Zelt gehört zwei jungen Bukaresterinnen, mit denen wir uns
leider kaum verständigen können. Im Wohnmobil ist ein älteres
Ehepaar aus Österreich unterwegs. Sie verbringen ihren Urlaub jedes
Jahr in Rumänien, beklagen sich aber über die ständigen Schikanen
der rumänischen Zöllner. “Wenn das so weiter geht“, sagt die
Frau „kommen wir nicht mehr nach Rumänien, denn so schön ist es
nun auch wieder nicht.“ Ihre Meinung kann ich in diesem Moment
überhaupt nicht teilen, denn für mich ist es das gewaltigste
Naturerlebnis, das ich bisher hatte. Deshalb widerspreche ich ihr
auch: „Doch, es ist wunderschön.“ Gleich hinter dem Zeltplatz
erheben sich mächtige romantische Berge. Die unbefestigte Straße
entlang watscheln Scharen von Enten und Gänsen. Im Laufe des Sonntags ist nur ein-zweimal kurz das Geräusch eines Autos zu hören; während der übrigen Zeit kommen wir uns vor wie in einem früheren Jahrhundert. Gleich hinter der Straße fließt das Flüsschen Strei. Es ist kaum
einen Meter tief, aber so reißend, dass Stehen nur mit Mühe möglich
ist. Dabei spüre ich ständig, wie mir kiloschwere Steine gegen die
Füße gespült werden.
Am
Sonntagmittag treffen zwei weitere Camper ein. Aufgrund ihrer
Kleidung, die zwar eindeutig westlicher Herkunft, aber schon etwas verschlissen ist, sind wir sicher,
dass es sich um Ostdeutsche handelt und begrüßen sie lautstark auf
Deutsch. Zu unserer Verblüffung verstehen sie kein Wort, denn sie
kommen … aus England.
Am
Montagmorgen schenken uns die Österreicher noch ein paar Konserven
westlicher Herkunft, dann machen wir uns auf den Weg an die
Fernstraße. In Rumänien gibt es deutlich weniger Autos als in den
anderen Ostblockländern, die ich bisher kennen gelernt habe.
Obendrein sind fast alle vom selben Typ. 90% aller Pkws sind Dacia 1300,
Lizenznachbau des Renault 12. Nur sehr vereinzelt ist ein Lada
oder ein Škoda
unterwegs. Die Lkws sind alle von der Marke ROMAN, Lizenznachbau
eines MAN. Heute müssen wir jedoch nicht lange warten; bald nimmt
uns ein Dacia-Fahrer bis Haţeg mit, wo wir erst einmal in einem
Restaurant zu Mittag essen. Bisher haben wir in Rumänien immer
dasselbe Menü serviert bekommen, nämlich ein gegrilltes Steak mit
ein paar gerösteten Kartoffeln. Da wir auf den Straßen schon
mehrere überfahrene Hunde gesehen haben und sich auf dem Fleisch
stets Spuren vom Grillrost abzeichnen, scherzen wir, es handele sich
um überfahrenen Hund mit Reifenspuren. Hinter Petroşani
beginnen die Hochkarpaten. Zur Linken geht es jetzt fast senkrecht
viele hundert Meter aufwärts, zur Rechten ebenso steil abwärts.
Ausgerechnet hier nimmt uns ein angetrunkener LKW-Fahrer mit. Wir
müssen uns zu dritt auf den einzigen Beifahrersitz des ROMAN
quetschen; der Fahrer hält in der linken Hand das Lenkrad, in der
rechten eine halbvolle Flasche Weißwein. Einmal streift er mit dem
Hinterrad das kaum 50 cm hohe Mäuerchen zur Rechten, den einzigen
Schutz vor einem Absturz in das Flüsschen Jiu. Er hält an und steigt aus, um
nachzuschauen, was passiert ist, kommt aber gleich zurück und winkt
lächelnd ab: 'Halb so schlimm.’ Es bleibt der einzige
Zwischenfall, und wir erreichen unversehrt Tîrgu Jiu, wo die
Landschaft wieder flacher wird. Hier scheint es weit und breit keinen
Campingplatz zu geben, deshalb schlagen wir, als die Nacht
hereinbricht, unsere Zelte auf einem Acker, in Sichtweite eines
qualmenden Kraftwerks, auf. Am darauf
folgenden Nachmittag erreichen wir Craiova. Kaum sind wir aus dem
Auto gestiegen, kommen ein paar Kinder bettelnd auf uns zu gelaufen
„Chewing gum! Chewing gum!“ Doch die Mutter, die am Straßenrand
sitzt, ruft sie zurück. 'So etwas macht man nicht!' Ohnehin haben
wir keine Kaugummis dabei, noch nicht mal ostdeutsche. Von hier aus
ist es nicht mehr allzu weit bis zur bulgarischen Grenze. Wir wissen, dass
es südwestlich von hier, in Calafat, einen Grenzübergang und eine
Fähre über die Donau gibt. Doch die Straße dorthin ist auf unserer
Karte in gelb als Straße 2. Ordnung verzeichnet, während jene, die
nach Bechet direkt im Süden führt, als Straße 1. Ordnung rot
eingezeichnet ist. Deshalb gehen wir fest davon aus, dass wir auch
dort die Grenze überqueren können. In mehreren Etappen, unter
anderem auf dem Anhänger eines Traktors, nähern wir uns der Donau.
Die Landschaft hat schon ein recht südliches Flair, und ich
stelle mir vor, dass es auf Sizilien ganz ähnlich aussehen mag.
In Bechet
müssen wir erfahren, dass es hier doch keinen Grenzübergang gibt.
Zu dumm, jetzt müssen wir uns über Nebenstraßen entlang der Donau
90 km bis nach Calafat durchschlagen. Das wird aber erst am nächsten
Tag aktuell, denn inzwischen ist die Dunkelheit hereingebrochen. Wir
entdecken ein gemütliches Gartenrestaurant, in dem noch ein Tisch
frei ist. Nach einigen Minuten kommt ein Mann vom Nachbartisch zu uns
und fragt etwas, wobei er sich eindeutig auf Frank bezieht. Wir
verstehen zunächst nicht, doch dann macht er eine Geste hin zu
Franks Brust und möchte diese offenbar berühren, um festzustellen,
ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelt. Es ist nicht das
erste Mal, dass Frank in Rumänien für eine Frau gehalten wird, aber
dieser hier will es offenbar ganz genau wissen. In der DDR, in Polen,
der Tschechoslowakei und Ungarn sind lange Haare bei jungen Männern
seit Beginn der Siebzigerjahre gang und gäbe, doch in Rumänien
ist diese Mode bisher nicht angekommen und wird es auch so bald
nicht. Der Mann hat seine Wette verloren, und die Flasche Weißwein,
die er dafür bezahlen muss, … spendiert er uns. So kommen wir ein
wenig ins Gespräch und können ihm unsere Situation verständlich
machen. Er wohnt in einem eben erst fertiggestellten Neubaublock,
in dem noch etliche Wohnungen leer stehen. In einer von ihnen können
wir unser Lager aufschlagen, doch gibt uns der Mann zu verstehen,
dass er uns sehr früh rausschmeißen muss. Detlev und ich verbringen
die Nacht ganz bequem auf der Luftmatratze, Frank dagegen hat nur
sein Zelt zum Unterlegen. Es ist noch
nicht ganz hell, als uns der Mann weckt und zur Eile drängt. Er muss
wohl zur Arbeit und will uns nicht allein hier zurücklassen. An der
Straße Richtung Calafat herrscht Totenstille. Erst nach einer Stunde
kommen ein paar Lkws und Traktoren vorbei, auf deren Ladeflächen und Anhängern
etliche Personen sitzen. Sie fahren aber offenbar nur zur Ernte auf
die nahen Felder. Wir haben nichts mehr zu essen, und allmählich
macht sich Hunger bemerkbar. Deshalb beschließen Frank und ich, in
die Stadt zurückzugehen, um etwas einzukaufen. Detlev bleibt mit dem
gesamten Gepäck zurück, und wir vereinbaren, dass er nur in ein
Fahrzeug einsteigt, welches bis zum Grenzübergang in Calafat fährt. Als wir uns
dem Zentrum nähern, fährt ein Polski Fiat mit polnischem
Kennzeichen an uns vorbei, in dem zwei Personen sitzen. Das ist
sicher das einzige Auto, das bis Calafat fährt, denken wir. Wir
entdecken eine Bäckerei und stellen uns an die Schlange an, die bis
auf die Treppe herausreicht. Doch eine Person nach der anderen dreht
sich um, sieht uns und bittet uns mit einer Geste, vorzugehen. Nach
weniger als einer Minute stehen wir vor der Verkaufslade. Es gibt
hier nur eine einzige Art von Gebäck, große runde, flache
Fladenbrote. Wir nehmen zwei Stück und hoffen, noch etwas als
Beilage zu finden. An einer Kreuzung unterhalten sich zwei Frauen.
Eine von ihnen hält eine große Wassermelone im Arm. Frank geht auf
sie zu, um zu fragen, wo es diese zu kaufen gibt. Die Frau setzt kurz
zu einer Erklärung an, entschließt sich im nächsten Moment aber
anders und drückt Frank die Melone in die Hand. Nun haben wir
wenigstens etwas für den Magen.
Als wir
zurück an die Ausfallstraße kommen, ist Detlev verschwunden.
Vermutlich haben ihn die Polen mitgenommen. Ohne Gepäck kommen auch
wir bald weiter, denn ein LKW-Fahrer hält uns offenbar für
Einheimische, die nur bis ins nächste Dorf wollen. Nachdem er uns
dort abgesetzt hat, erblicken wir in einem Vorgarten Weintrauben von
einer solchen Größe, wie ich sie noch nie gesehen habe. So groß
werden bei uns kaum die Pflaumen. Die möchten wir
unbedingt probieren. Im Garten macht sich eine ältere Frau zu
schaffen. Als wir ihr
mit Gesten klar zu machen versuchen, dass wir ein paar Trauben pflücken und
probieren möchten, stimmt sie etwas zögerlich zu. Sie ist sich wohl nicht ganz sicher, ob sie uns richtig verstanden hat. Riesengroß
sind diese Trauben … und herrlich süß. Die typische
ländliche Siedlungsform in Rumänien sind Straßendörfer. Zu beiden
Seiten der Landstraße zieht sich, oft kilometerweit, jeweils nur
eine einzige Reihe von Häusern, während unmittelbar dahinter Felder
liegen. Als wir schon etwa 500 m von jenem Haus mit den Weintrauben
entfernt sind und uns dem Dorfausgang nähern, rufen uns einige
Dorfbewohner etwas zu und fordern uns auf, zurückzuschauen. Hinter
uns eilt die sicher sechzigjährige Frau heran. Ihre Schürze ist
prall gefüllt mit riesigen süßen Trauben … Bald werden
wir von einem anderen LKW mitgenommen. Etwa auf halber Strecke
zwischen Bechet und Calafat hat es einen Unfall gegeben. Ein Dutzend
Personen ist gerade damit beschäftigt, den Polski Fiat wieder auf
die Räder zu stellen, der hier in einer S-Kurve offenbar ins
Schleudern gekommen ist und sich überschlagen hat. Oh Gott,
hoffentlich saß Detlev nicht darin! Doch können wir beim langsamen
Vorbeifahren weder von ihm noch von unserem Gepäck irgendeine Spur
entdecken. Nach wenigen hundert Metern erreichen wir ein Dorf, und
dort liegt an einer Kreuzung tatsächlich unser Gepäck. Daneben
steht ein Polizist. Hastig bitten wir den Fahrer anzuhalten und uns
aussteigen zu lassen. Kaum stehen wir auf der Straße, läuft uns
Detlev von der anderen Straßenseite mit hochrotem Gesicht entgegen.
Wir sind jetzt fest überzeugt, dass er in dem Fiat saß und in den
Unfall verwickelt war. Doch nichts dergleichen, er ist einfach nur
sturzbetrunken. Durch ein
Missverständnis ist er in einen LKW gestiegen, der nur bis hierher
fuhr. Als der Wagen plötzlich abbog, musste er aussteigen und stand
nun mit Gepäck für drei Personen auf der Straße. Ein paar Bauern
sahen ihn, baten den Dorfpolizisten, auf sein Gepäck aufzupassen,
schleppten ihn in die Bar gegenüber und spendierten ihm ein
hochprozentiges Getränk nach dem anderen. Da Detlev noch nichts
gegessen hatte, dauerte es nicht lange, und er war voll bis zum
Stehkragen. Als Frank und ich die Bar betreten, spendieren sie auch
uns eine Art Sliwowitz. Dann aber verhalten sie sich recht
reserviert. Noch zwei weitere Personen mit Schnaps zu bewirten, geht
scheinbar doch über ihre Verhältnisse. Wir hingegen können uns
noch nicht einmal revanchieren, denn unser rumänisches Geld ist so
gut wie alle.
Für unsere
Weiterfahrt sorgt der Dorfpolizist. Er hält einfach einen LKW an,
fragt, wo er hinfahre und befiehlt, uns mitzunehmen. Während Detlev
recht bequem in der Kabine sitzt, haben Frank und ich eine eher
ungemütliche Fahrt auf der Ladefläche neben zwei großen, badewannenförmigen
Bottichen mit Tomaten zu überstehen. Doch während dieser führen wir ein sehr wichtiges
Gespräch. Ich selbst hatte an der ungarisch-rumänischen Grenze
meine gesamten Forint ausgegeben, und nun, kurz vor der bulgarischen
Grenze, sind auch meine Lei alle. Warum das so ist, weiß ich sehr
gut. Doch auch Frank hat es so gehalten, was bei mir unweigerlich zu
der Frage führt, wie er nach Hause fahren will, wo doch ein weiterer
Umtausch unmöglich ist. Da wir nun schon fünf Tage lang gemeinsam
unterwegs sind und ein wenig Vertrauen zueinander gefasst haben,
entschließe ich mich auf dieser „Tomatenfahrt“ zu der Frage
„Willst du etwa auch abhauen?“ Frank bejaht. Als wir in
Calafat bereits die Grenzkontrolle passiert haben und am Donauufer
auf die Fähre warten, sehe ich auch den Polski Fiat in der
Autoschlange stehen und gehe zu ihm hin, um mich mit den Insassen zu
unterhalten. Außer dass alle Scheiben zerbrochen sind und die
Karosserie ein wenig verbeult ist, ist nichts passiert. Die Scheiben
haben sie durch Klarsichtfolie ersetzt und sind gewillt, ihre
Urlaubsreise fortzusetzen. Auf bulgarischer Seite sehe ich sie
allerdings nicht mehr wieder. Gut möglich, dass die bulgarischen
Grenzer sie mit diesem Auto nicht haben einreisen lassen. Aber das
bekommen wir nicht mehr mit, da wir als Fußgänger zuerst von der
Fähre gehen.
Der
Campingplatz befindet sich ganz am Südende von Vidin. Am Donauufer
entlang müssen wir die gesamte Stadt passieren. Auf der mit Pappeln
umgebenen Wiese sind wir die einzigen Camper und haben im
Campingplatzverwalter quasi unsere eigene Leibwache. Wir
entschließen uns, hier einen Tag Rast einzulegen. Außer einer alten
Burg und einer ganz netten Fußgängerzone hat Vidin allerdings nicht
viel zu bieten. Am
Freitagmittag brechen wir in Richtung Sofia auf. Bis zum späten
Nachmittag sind wir jedoch kaum 30 km weiter gekommen und befinden
uns noch immer unmittelbar an der Donau. Als wieder einmal ein
kleiner Lieferwagen naht, reißt Frank die Geduld; er kniet sich auf
die Straße und macht eine flehende Geste. Der Fahrer schaut ein
wenig verblüfft und hält tatsächlich an. Und wie wir erfahren,
will er sogar nach Sofia. Diesmal strecke ich mich mit Detlev auf der
Ladefläche aus, während Frank auf dem Beifahrersitz Platz nimmt.
Bald geht es steil in die Berge, und im Balkangebirge durchfahren wir
mehrmals scheinbar bodenlose Schlaglöcher, durch die wir sicher zehn
Zentimeter hoch geschleudert werden, um dann unsanft auf die
metallene Unterlage zurückzufallen. In Sofia landen wir zunächst
auf dem Hauptbahnhof, wo wir bei der Touristeninformation die Adresse
eines Campingplatzes am Ostrand der Stadt ausfindig machen. Das ist
günstig für uns, denn über die Ausfallstraße, an welcher dieser
liegt, wollen wir am darauf folgenden Tag ja ohnehin in Richtung
Schwarzes Meer weitertrampen. Auf diesem Campingplatz ist deutlich
mehr los als in Vidin, auch ein paar Autos mit westdeutschen
Kennzeichen stehen herum. Und ich trinke zum ersten Mal
Schweppes-Limonade, die in Bulgarien in Gestattungsproduktion
hergestellt wird. Am
Samstagmittag nimmt uns ein Arzt, der sehr gut Deutsch spricht, in einem VW „Käfer“ mit. Kaum hat er erfahren, wo wir herkommen,
sagt er: „So viele junge Menschen aus der DDR versuchen
am Schwarzen Meer in die Türkei zu fliehen. Versucht das bloß nicht,
die werden alle verhaftet!“ Auch Frank hat schon davon gehört,
dass die Flucht am Schwarzen Meer ganz leicht sein soll. Später dämmert uns, dass dieses Gerücht von der Stasi systematisch
verbreitet wird, um eventuelle fluchtwillige Balkanurlauber in eine
Falle zu locken. Vermutlich sind die bulgarischen Grenzer in
Absprache mit den entsprechenden Behörden der DDR an dieser Stelle
ganz besonders wachsam.
Bald gabelt
sich die Hauptstraße, und wir müssen uns entscheiden, ob wir die
nördliche Route nach Varna oder die südliche nach Burgas nehmen
wollen. Trotz der Warnung des Arztes entscheiden wir uns für die
südliche Route und steigen aus dem „Käfer“. Von Burgas aus sind
es noch 90 km zur türkischen Grenze, und wir wollen doch zumindest
ein wenig die Lage dort erkunden. Bis zum Abend erreichen wir Karlovo
am Südrand des Balkangebirges. Irgendwie fühle ich mich in meine
frühe Kindheit zurückversetzt, denn alles wirkt hier wie vor 15-20
Jahren in der DDR. Unsere Zelte schlagen wir unweit der Straße in
einem Feld auf. Am nächsten
Morgen kommen wir rasch bis Kazanlak weiter und befinden uns jetzt
auf halber Strecke zwischen Sofia und Burgas. Bald hält ein
Sportwagen, der aber nur einen freien Platz hat. Frank steigt ein,
und wir vereinbaren, dass er am nächsten Morgen beim südlichen
Ortsausgangsschild von Burgas auf uns wartet. Für Detlev und
mich läuft es mit Trampen heute dagegen überhaupt nicht. Es ist
Sonntag, der 9. September, bulgarischer Nationalfeiertag. Außer
zahlreichen mit Transparenten und Girlanden geschmückten LKWs und
Traktoren sind so gut wie keine Fahrzeuge auf der Straße. Nach
sieben Stunden vergeblichen Winkens haben wir die Nase voll. So lange
musste ich als Anhalter bisher noch nie warten. Wir gehen zum Bahnhof
von Kazanlak, wo wir feststellen müssen, dass erst kurz nach
Mitternacht ein Zug nach Burgas fährt. Na egal, mit Trampen werden
wir es jedenfalls nicht mehr versuchen. Zum ersten
Mal bin ich in einem Land, dessen Währung einen höheren Kurswert als die
DDR-Mark hat. Ein Lew kostet vier Mark. Das führt bei der Umrechnung hin
und wieder zu falschen Einschätzungen. Eine Fahrkarte zweiter Klasse
kostet 4 Lewa, erster Klasse etwas über 5 Lewa. Der Unterschied von
gut einem Lew kommt uns ziemlich gering vor, weshalb wir uns für zwei
Tickets erster Klasse entscheiden. Als der Zug endlich eintrifft,
müssen wir feststellen, dass er nur einen halben Wagen erster Klasse
führt und dort in jedem Abteil mindestens eine Person sitzt. In der
2. Klasse dagegen herrscht gähnende Leere. Nach kurzer Strecke
entscheiden wir uns daher, auf die Bequemlichkeit der besseren Sitze
zu verzichten und uns stattdessen in einem leeren
Zweite-Klasse-Abteil zum Schlafen auszustrecken. Bei
Tagesanbruch treffen wir in Burgas ein. Auf dem Bahnhofsvorplatz, auf dem gerade ein Wochenmarkt zum Leben erwacht, gibt
ein nicht mehr ganz junger Mann vor zwei Frauen damit an, dass er
alle Sprachen spricht, und fragt uns, woher wir kommen. Als wir sagen
'Germanija', gerät er jedoch in ziemliche Verlegenheit. Mühsam
stammelt er ein oder zwei deutsche Wörter, die er kennt, und wird
von den Frauen spöttisch belächelt.
Ich habe von
einem internationalen Jugendlager bei Primorsko, etwa auf halber
Strecke zwischen Burgas und der türkischen Grenze, gelesen, wo es
mich jetzt hinzieht. Bis dorthin sind wir auf jeden Fall
unverdächtig, und vielleicht lässt sich von da aus ja unauffällig
die Grenzgegend erkunden … Als wir
gegen sieben Uhr im Bus das Ortsausgangsschild von Burgas passieren,
halten wir intensiv Ausschau nach Frank. Doch von dem ist keine Spur
zu entdecken. Dabei hätte er hier auf der Wiese im Schutz des
Schilfdickichts gut zelten können. Also fahren wir weiter bis
Primorsko. Das Jugendlager wirkt mit seinen überwiegend leerstehenden, etwas
heruntergekommenen Bungalows im Wald jedoch wenig einladend. Detlev gefällt es hier überhaupt nicht. Es ist das einzige Mal auf unserer gemeinsamen Reise, dass er mir gegenüber seinen Willen durchsetzt. Wie der weitere Lauf der Ereignisse zeigen wird, tut er mir damit einen großen Gefallen. Auf der Busfahrt
haben wir einen ganz netten Zeltplatz am Strand gesehen, zu dem wir
nun zurückkehren. Vom Eingang aus führt eine Straße geradewegs auf
das Strandrestaurant zu, zur Linken sehen wir zahlreiche Bungalows,
zur Rechten ziehen sich Sanddünen, auf denen etliche Zelte stehen.
Die Hochsaison ist vorbei, so dass hier kein Gedränge mehr herrscht.
Das Wetter aber ist wunderbar. Während der fünf Tage, die ich hier
verbringen werde, wird sich kein einziges Wölkchen vor die Sonne
schieben. Nun können wir endlich ins Meer springen und uns am Strand
sonnen. Am nächsten
Tag mache ich mich auf die Suche nach Frank. Zu Fuß durchquere ich
das malerische Städtchen Sozopol auf einer Landzunge unweit unseres
Campingplatzes. Neben der Einmündung der Ortszufahrt in die Hauptstraße
gibt es einen weiteren Campingplatz, auf dem ich nahe am Zaun ein Zelt entdecke,
wie Frank es hat. Solche Zelte gibt es hier viele, doch das Handtuch
darauf lässt keinen Zweifel, ich habe Frank gefunden. Nachdem er
zusammengepackt hat, stellen wir uns an die Straße, um die fünf
Kilometer zu unserem Campingplatz zu trampen. Als nach wenigen
Minuten ein beiger VW „Käfer“ mit dem Kennzeichen WUN-SR 73
vorbeifährt und bremst, wird Frank ganz aufgeregt und schreit: „Ein
Bundi, ein Bundi!“ Der „Bundi“, der nur wenig älter als wir ist und
einen bayrisch klingenden Dialekt spricht, setzt uns am Campingplatz
Kavatsite ab und fährt weiter Richtung Süden. Am Nachmittag jedoch
sehen wir den beigen „Käfer“ durch das Eingangstor des Platzes
rollen. Sofort laufen wir zu ihm hin und laden den Fahrer ein, sein
Zelt in unserer Nachbarschaft aufzuschlagen. Jürgen freut sich, ein
paar junge Leute aus der DDR gefunden zu haben, mit denen er sich
unterhalten kann. Bald erzählt er offenherzig, dass er in Bulgarien
ist, um eine Freundin aus Reichenbach im Vogtland zu treffen und mal
zu schauen, ob sich für ein paar Verwandte nicht ein Loch im „Eisernen Vorhang“
findet. Deshalb ist er am Mittag bis nach Rezovo an der türkischen
Grenze gefahren, wo er sich im Gegensatz zu uns gefahrlos aufhalten
konnte. Nach seiner Schilderung der Lage dort geben wir endgültig
den Plan auf, es in dieser Gegend zu
versuchen.
Unweit des
Campingplatzes haben wir an Felswänden knapp unter der
Wasseroberfläche riesige Kolonien schwarzer Muscheln gefunden und
erfahren, dass sie genießbar sind. Irgendwoher treiben wir ein Blech
auf und sitzen nach Einbruch der Dunkelheit zusammen mit ein paar
ungarischen Zeltnachbarn um ein Feuer herum, schauen den Muscheln zu,
wie sie sich eine nach der anderen öffnen, trinken dazu roten Sekt,
den es hier überall für eine D-Mark bzw. 1, 50 DDR-Mark pro Flasche
zu kaufen gibt, und ziehen nacheinander an einer Haschpfeife, die
Jürgen gestopft hat. Es ist das erste Mal, dass ich Haschisch
rauche. Im Frühjahr erst haben mich in Prag ein paar Bonner
Studenten über die Unterschiede zwischen den verschiedenen Drogen
aufgeklärt. Vorher kannte ich diesen Begriff eigentlich nur aus
Schlagzeilen in DDR-Zeitungen wie „Zwanzigster Drogentoter in
diesem Jahr in Westberlin“. Von Heroin, sagten sie mir, solle ich
die Finger lassen, das Zeug sei gefährlich. Haschisch aber sei
harmloser als Alkohol. Sie hatten sogar ein kleines Stück in die
Tschechoslowakei eingeschmuggelt, es aber leider vor unserer
Begegnung schon aufgeraucht. Nun habe ich also endlich Gelegenheit,
es auszuprobieren und lasse mir diese natürlich nicht entgehen.
Zunächst spüre ich nichts, doch nachdem ich mich fünf Minuten
später zum Pinkeln in die Dünen verzogen habe, erfasst mich große
Lust, mich abseits der anderen in den Sand fallen zu lassen und dort
vorläufig zu bleiben. Ich bin mir jederzeit völlig bewusst, wo ich
mich befinde, und doch bin ich in diesem Moment ganz woanders,
nämlich in der Schweiz. Die Meeresbrandung vor mir ist das Rauschen
eines Wasserfalls, und hinter mir, gleich hinter der Pappelreihe,
erheben sich Dreitausender mit schneebedeckten Gipfeln ... Sicher eine
Stunde liege ich so, ehe ich mich entschließe, schlafen zu gehen.
Als ich am Feuer vorbeikomme, fragt mich Jürgen etwas. Ich höre
jemanden antworten und wundere mich etwas erschrocken: War ich das? Detlev
behauptet am nächsten Morgen, er habe nicht das Geringste gespürt. Den Mittwoch
verbringen wir neben Baden mit einer Segeltour. Ich finde es nur
schade, dass wir dabei untätig herumsitzen müssen, während der
Eigner des Bootes alle Manöver selbst ausführt.
Frank und
ich haben schnell Vertrauen zu Jürgen gefasst und fragen ihn im
Laufe des Tages, ob er bereit ist, uns beim Abhauen zu helfen, indem
er uns bis zur Grenze mitnimmt. Er ist sofort einverstanden und sagt:
„Am Samstag hole ich eine Freundin vom Flughafen ab und
bringe sie ins Hotel, danach können wir losfahren.“ Abends sitzen
wir zu viert bei rotem Sekt im Strandrestaurant. Es ist Detlevs
letzter Abend in Bulgarien, denn am nächsten Tag geht sein Zug nach
Dresden. Am Nebentisch sitzen einige junge Polen. Irgendwann drehe
ich mich zu einem von ihnen um und frage auf Polnisch nach der
Uhrzeit. Damit habe ich offenbar einer Schlägerei vorgebeugt, denn
er meint: „Gut, dass du Polnisch sprichst. Meine Kumpels wollten
euch schon aufmischen.“ Als wir am Morgen darauf den Strand entlang
laufen, grüßt einer von ihnen schon von weitem auf Polnisch: „Hallo
DDR!“ Gegen Mittag
bringen wir Detlev nach Burgas. Zum Abschied sage ich: „Ich schicke
dir dann mal eine Ansichtskarte aus Amsterdam“, woraufhin er an die
beiden anderen gewandt mit ironischem Lächeln antwortet: „Ich
werde Matthias im Knast besuchen kommen.“ Am
späten Nachmittag kehren wir auf den Zeltplatz zurück, wo einer der Polen gerade neben dem Parkplatz steht. Als er den „Käfer“ mit westdeutschem
Kennzeichen erspäht und uns darin erkennt, geht ein Ruck durch
seinen Körper. Er stürzt in Richtung der Bungalows davon, kommt
wenig später zurückgerannt und sagt: „Wir wollen euch zu uns
einladen.“ Frank und mir schmeichelt es, dass sie uns jetzt
plötzlich für Wessis halten, und wir nehmen gern an. Den Grund
ihrer Einladung erfahren wir auch bald: Sie wollen Geld wechseln. Omi
hat mir für die Reise 40 D-Mark geschenkt, die ich bisher als
eiserne Reserve aufgehoben habe, da wir sie notfalls überall
umtauschen können. Um die Polen in ihrem Glauben zu bestärken,
erkläre ich mich bereit, 20 Mark gegen Lewa zu tauschen –
natürlich zu einem viel besseren Kurs, als ihn Jürgen bei der
bulgarischen Staatsbank bekommt. Detlev hat
das Zelt und die Doppelluftmatratze mitgenommen, so dass ich die
letzten zwei Nächte in Franks Zelt verbringen muss. Durch den
weichen, sandigen Untergrund ist das aber durchaus bequem. Am Freitag
machen wir uns zu dritt Gedanken über die beste Fluchtroute. Sehr
schnell einigen wir uns auf Rumänien als Ausgangsland.
Die Flucht
Am Samstag,
den 15. September 1979 setzt mich Jürgen gegen Mittag zusammen mit Frank an einem
Straßencafé in Burgas ab und fährt weiter zum Flughafen. Eine
Stunde später kommt er mit seiner Freundin Anke zurück, und zu
viert sitzen wir noch eine ganze Weile im Café. Wir reden ihr
gegenüber freimütig über unsere Fluchtabsichten, und ich scherze:
„Ich bin ja lang, ich winke dann mal über die Berge, wenn wir
drüben sind.“ Dann verabschieden wir uns, und Jürgen fährt Anke
zu ihrem Hotel. Als Frank und ich zehn Minuten später zu unserem
vereinbarten Treffpunkt auf einem Parkplatz schlendern, steht dort
schon der beige „Käfer“. Anke und Jürgen packen eilig Ankes
Gepäck vom Rücksitz in den Kofferraum. Bevor wir das Auto
erreichen, ruft Anke uns schon zu: „Ich komme mit!“ Im Auto
erzählt sie, sie habe unsere Worte zunächst nicht für voll genommen.
In ihrem Bekanntenkreis redeten ständig Leute von Abhauen, ohne dass
jemand das ernst meine. Denn wer es wirklich vorhat, spricht nicht
darüber. Schließlich sagt sie: „Aber das würde ich nicht
verkraften, wenn du über die Berge winkst, und ich bin noch hier.“ Wir haben
Burgas kaum verlassen, als uns ein Rettungswagen nach dem anderen mit
Blaulicht und Sirene überholt. Nach einigen Kilometern stoppt uns
ein Polizist. Jürgen versteht dessen Anweisung nicht sofort und muss
dafür prompt fünf D-Mark Strafe zahlen. Kurz darauf rollen wir
langsam über eine Wiese neben der Straße und sehen den
schrecklichen Unfall: Ein sowjetischer Reisebus und ein LKW sind
frontal zusammengestoßen. Die Vorhänge des Busses haben riesige
Blutflecken, von der Fahrerkabine des LKW ist nichts übrig geblieben
... Spät am
Abend erreichen wir Russe an der Donau. Die bulgarischen Grenzer sind
etwas verwundert, als sie in einem westdeutschen Auto drei
Ostdeutsche antreffen. Aber da wir nach Rumänien unterwegs sind,
wissen sie auch nicht, was sie dagegen einwenden sollen. Dann
überqueren wir die einzige Brückenverbindung zwischen Bulgarien und
Rumänien. Die rumänischen Grenzer interessiert es wenig, aus
welchem Teil Deutschlands wir kommen. Schon auf der Hinfahrt haben
wir bemerkt, dass vielen Rumänen die deutsche Teilung und die damit
verbundene Problematik gar nicht recht bewusst ist. Deutschland ist
Deutschland, egal ob auf dem Ausweis ein Adler oder Hammer, Zirkel
und Ährenkranz prangt. Gegen
Mitternacht durchqueren wir ein Außenviertel von Bukarest.
Straßenbeleuchtung gibt es hier überhaupt nicht, und auch in keinem
der Fenster ist Licht zu sehen. Die Scheinwerfer des Autos ziehen
halb verfallene, gespenstisch wirkende Häuser aus der Finsternis.
Von Bukarest aus nehmen wir die Autobahn nach Piteşti, die wir um
diese Nachtzeit ganz für uns allein haben. Obwohl sie viel neueren
Datums ist als z.B. die Autobahn von Dresden nach Berlin, ist sie in
einem ähnlichen Zustand. Das Auto hüpft von einer durchgebogenen
Betonplatte auf die nächste. Hinter Piteşti müssen wir wieder die
Landstraße nehmen, die jedoch in einem guten Zustand ist, so dass
Anke, Frank und ich etwas Schlaf finden. Im Morgengrauen erwachen
wir, und Jürgen sagt: „Jetzt habe ich doch einen Hund überfahren.“
Es ist schon sieben Uhr, als wir bei Drobeta-Turnu Severin wieder die
Donau erreichen. Gegenüber liegt nun Jugoslawien. Die Straße
führt fast direkt am Ufer entlang. Nur eine kleine Böschung trennt
uns vom Wasser, auf der alle hundertfünfzig bis zweihundert Meter ein hölzerner
Wachturm steht. Jedoch ist, wie wir zweifelsfrei erkennen können, nur jeweils jeder zweite oder dritte von ihnen
besetzt. Nachts könnten wir uns also leicht ins Wasser schleichen
und hinüberschwimmen. Allerdings ist der Fluss hier einen Kilometer
breit, und uns ist bei dem Gedanken doch etwas mulmig, denn wir sind
alle keine ausdauernden Schwimmer. Nach etwa 15 km knickt die Donau
nach links ab, während die Straße an der Trichtermündung eines
Nebenflusses geradeaus weiterführt. Nachdem wir ihn auf einer Brücke
überquert haben, biegt Jürgen nach links in eine Straße ein, die
durch eine Gartenkolonie führt. Sie endet in einer Querstraße, auf
der sich ca. 50 m zur Linken ein Kontrollposten mit einer Schranke
befindet. Ein paar Soldaten sind eben damit beschäftigt, einen PKW
zu kontrollieren. Schnell wenden wir, gerade noch rechtzeitig, um so
tun zu können, als hätten wir nicht bemerkt, dass uns einer der
Soldaten heranwinkt. Der hat aber vermutlich im selben Moment das
westdeutsche Kennzeichen gesehen und die Sache auf sich beruhen
lassen. Jedenfalls werden wir nicht verfolgt. Die
Donau bildet nur etwa die Hälfte der rumänisch-jugoslawischen
Grenze, der andere Teil ist Landgrenze. Wie wir uns hier am Eisernen Tor
überzeugen konnten, ist die Grenzsicherung in Rumänien längst nicht so
perfekt und lückenlos wie beispielsweise in der DDR. Denn dort wären
wir mit dem Auto wohl gar nicht erst an den Fluss herangekommen. Zudem
wäre garantiert jeder Wachturm besetzt, und vor dem Ufer stünden
noch zwei Stacheldrahtzäune. Also weist sicher auch die Landgrenze
Lücken auf, die wir uns zunutze machen können, ohne zu riskieren zu
ertrinken. Um dort hin zu gelangen, müssen wir das Banater Gebirge
überqueren. Mittlerweile geht aber der Sprit zur Neige. Mit den
letzten Tropfen kommen wir in dem Bergstädtchen Anina an und hoffen,
hier tanken zu können. Doch leider gibt es in diesem Ort keine
Tankstelle. Wir müssten schon nach Oraviţa,
das 20 km entfernt ist. Glücklicherweise ist die Strecke dorthin
durchgängig abschüssig, so dass Jürgen den Motor abstellt und den
„Käfer“ rollen lässt. Nach
dem Tanken fahren wir Richtung Nordwesten, nach Moraviţa. Wir
wissen, dass die Grenze nicht mehr weit ist, aber dass sie schon so
nahe ist, war uns nicht bewusst. Auf halber Strecke erkennen wir zur
Linken in wenigen hundert Metern Entfernung eine Reihe von
Wachtürmen. Kurz bevor die Straße bei Moraviţa in die Hauptstraße
von Timişoara
nach Belgrad mündet, werden wir von zwei älteren Soldaten
angehalten. Hier in der Gegend leben zahlreiche Deutsche, und auch
die beiden sind offenbar deutschstämmig, denn sie sprechen recht gut
Deutsch, wenn auch in einem uns bislang unbekannten Dialekt. Sie
freuen sich, endlich einmal mit Leuten aus Deutschland reden zu
können, und nehmen es deshalb mit der Ausweiskontrolle nicht so
genau. Als Jürgen ihnen seinen Reisepass und seine Fahrzeugpapiere
herausgereicht hat, geben sie sich damit zufrieden. Da wir drei
anderen ja auch Deutsch sprechen – ein etwas anderes Deutsch als
sie selbst -, wird schon alles seine Richtigkeit haben. Mit den
besten Wünschen lassen sie uns weiterfahren. An der
Hauptstraße nehmen wir nicht den Weg Richtung Jugoslawien, da der
Grenzübergang schon ganz nahe sein muss, sondern fahren ein paar
Kilometer in die entgegengesetzte Richtung. Die Grenze knickt hinter
der Straße nach Nordwesten ab, so dass wir uns nicht allzu weit von
ihr entfernen. In einem Wäldchen bei Denta warten wir die Nacht ab.
Jürgen stellt fest, dass er vor Aufregung den Tankdeckel in Oraviţa liegen lassen hat. Als es dunkel wird,
strecke ich mich mit Frank im Zelt aus, um noch ein paar Stunden zu
schlafen, während Anke und Jürgen dasselbe im Auto versuchen.
Allerdings wird es sehr schnell entsetzlich kalt. Tagsüber ist das
Wetter hier noch sehr angenehm, doch obwohl wir uns nicht einmal mehr
im Gebirge befinden, nähert sich die Temperatur jetzt rasch dem
Gefrierpunkt, Deshalb flüchte ich mich mit Frank bald zu den beiden
anderen ins Auto. Kurz nach
Mitternacht brechen wir zu dritt auf. Wir wollen uns nach Südwesten
vorpirschen und hoffen, gegen 4 oder 5 Uhr, wenn die Müdigkeit bei
den Wachsoldaten am größten ist, die Grenze zu erreichen. Jürgen
soll sich bei Sonnenaufgang auf den Weg zum Grenzübergang machen.
Auf jugoslawischer Seite führt dicht an der Grenze eine Straße
entlang. Dort soll er auf und ab fahren und nach uns Ausschau
halten. Zunächst
bewegen wir uns auf Feldwegen vorwärts, doch nach etwa einem
Kilometer schleichen wir uns quer durch die Maisfelder. Wir ahnen
nicht, dass in diesem Moment zwei Familien in einem Heißluftballon
von Thüringen nach Bayern schweben. Anfangs
verursachen wir beim Laufen durch den Mais noch lautes Rascheln, doch
lernen wir schnell, uns fast geräuschlos durch die Felder zu
bewegen. Leider kommen wir nicht sehr schnell voran. Als die
Morgendämmerung anbricht, erreichen wir eine lange Halle, aus der es
nach Schwein stinkt. Von der Grenze ist weit und breit nichts zu
erkennen. Jetzt müssen wir versuchen, so schnell wie möglich nach
Denta zurückzukommen. Und es gibt tatsächlich jemanden, der um
diese Uhrzeit dorthin fährt. Dem Dacia-Fahrer kommt es sicher
spanisch vor, dass sich zu so früher Stunde drei Deutsche in dieser
Gegend herumtreiben, doch stellt er keine Fragen. Immerhin wollen wir
ja von der Grenze weg, nicht zu ihr hin. Er hat uns in Denta kaum an
der Hauptstraße abgesetzt, als wir in der Ferne schon den beigefarbenen
„Käfer“ aus dem Wäldchen rollen sehen. Mit der Flucht ist es
vorerst also nichts geworden, aber wenigstens haben wir uns nicht
verloren. Zuerst
einmal müssen wir etwas zum Frühstücken auftreiben. In dem
Städtchen Deta ein paar Kilometer weiter finden wir ein Restaurant
im ersten Stock, das am Morgen schon geöffnet hat. Auch hier
bekommen wir das übliche Grillsteak mit Röstkartoffeln serviert.
Über Reşiţa und Anina gelangen wir wieder nach Oraviţa. Von hier aus führt auch
eine Straße zu einem kleinen Grenzübergang im Süden. Nach unseren
Karten macht sie nach ca. 15 km eine weite Linkskurve und verläuft
etwa drei Kilometer vor der Grenze parallel zu dieser. Nach weiteren
sechs Kilometern kommt eine Kreuzung, von der es nach rechts zum
Grenzübergang geht. An dieser Kreuzung wollen wir abends aussteigen,
uns die letzten drei Kilometer neben der Straße entlang schleichen
und versuchen, die Grenze möglichst nahe am Kontrollpunkt zu
überqueren. Bald
hinter Oraviţa hält uns ein Soldat an. Er ist noch ganz jung und
spricht kein Wort Deutsch. Nach unseren Berechnungen sind es noch
etwa 10 km bis zur Grenze. Durch die Erfahrung des Vortages haben wir
inzwischen eine gewisse Gelassenheit im Umgang mit
diesen Posten entwickelt, und vor allem Jürgen reagiert in diesem
Moment ausgesprochen cool. Bereitwillig drückt er dem Soldaten ein
Dokument nach dem anderen in die Hand: Reisepass, Personalausweis,
Führerschein, internationalen Führerschein, Fahrzeugpapiere,
Versicherungskarte, Blutspenderausweis... Am Ende hält dieser an die
zehn verschiedene Ausweise in der Hand und weiß überhaupt nicht,
was er damit anfangen soll. Irgendwie hat er aber noch im Hinterkopf,
dass er verpflichtet ist, die Dokumente aller Fahrzeuginsassen zu
kontrollieren. Als er gerade zu einer schüchternen Geste ansetzt,
die ausdrücken soll, dass er auch von uns anderen einen Ausweis sehen will,
bietet ihm Jürgen eine Zigarette an. Sofort vergisst der Soldat
seine Pflicht und greift zu. In diesem Moment hören wir eine Stimme
aus dem Straßengraben und sehen, wie sich dort ein zweiter junger
Soldat erhebt. Selbstverständlich bekommt auch er eine Zigarette.
Nun zeigt sich, dass der Soldat scheinbar doch ein wenig Deutsch
kann, denn er sagt zum Abschied etwas, was nach „Gute Fahrt!“
klingt. Witzigerweise hat ihnen Jürgen noch nicht einmal
Westzigaretten angeboten, auf die die Rumänen noch viel mehr
abfahren als die Ostdeutschen, sondern zwei Zigaretten der DDR-Marke
„Club“, die Anke im Flugzeug mitgebracht hat. Aber diesen
Unterschied werden sie garantiert nicht bemerken, denn im Vergleich
zu den in Rumänien erhältlichen Tabakwaren sind „Club“ die
reinsten Westzigaretten.Vor
dem nächsten Dorf befindet sich zur Linken ein einsamer Parkplatz.
Hier halten wir an, um die Nacht abzuwarten. Am Nachmittag gehe ich
mit Frank ins Dorf, um etwas einzukaufen. Jetzt fühlen wir uns schon
halb als Wessis, denn die Einheimischen müssen uns ja für solche
halten. In dem kleinen Laden, den wir finden, gibt es mehr und
bessere Lebensmittel, als ich sie im Rest des Landes gesehen habe.
Vermutlich werden die Grenzregionen besser versorgt, um bei den
Ortsansässigen, die sich mit der Grenze auskennen, dem Hang zur
Flucht möglichst wenig Nahrung zu geben und sie zugleich als Informanten über verdächtige Fremde im Grenzgebiet bei Laune zu halten. Als
es schon fast dunkel ist, fahren wir weiter. Eingangs der lang
gezogenen Linkskurve halten wir noch einmal an. Frank und ich werfen
unser Gepäck hinter einen Busch, um Jürgen bei der Grenzkontrolle
nicht in eine unbequeme Situation zu bringen. Viel ist es ohnehin nicht.
Zwei Schlafsäcke und ein paar Kleidungsstücke Made in GDR, ein
kleines Zelt Made in Poland … Unsere Dokumente behalten wir
natürlich bei uns, auch den grünen Sozialversicherungsausweis, der
in Größe und Farbe äußerlich stark dem bundesdeutschen Reisepass
ähnelt. Anke dagegen lässt ihre Koffer so, wie sie sie aus
Reichenbach mitgebracht hat, im Auto. Jürgen wird schon irgendeine
Erklärung dafür einfallen. Hinter der Kurve passieren wir immer
wieder Soldaten, die die Straße entlang laufen. Einmal kommt uns ein
Mann mit erhobenen Händen entgegen, hinter dem mehrere Soldaten gehen. Einer von ihnen hält ein Gewehr im Anschlag. Oh Gott, wenn es drei Kilometer vor der
Grenze schon so zugeht … Als wir die Kreuzung erreichen, an der wir
aussteigen wollen, ereilt uns der nächste Schock. Wir stehen nicht
drei Kilometer vor dem Grenzübergang, sondern … fünfzig Meter.
Später erfahren wir, dass auf sämtlichen in Osteuropa
herausgegebenen Straßenkarten die Maßstäbe im Bereich des
„Eisernen Vorhangs“ systematisch gefälscht werden. Das ist wohl
auch der Grund, warum wir in der Nacht zuvor die Grenze nicht
gefunden haben. Nach
einer kleinen Ewigkeit sagt Jürgen: „Jetzt kann ich nur zu der
Tankstelle zurückfahren.“ Diese habe ich gar nicht bemerkt, da ich
mich ganz auf die Seite zur Grenze hin konzentriert habe. Sie
befindet sich etwa 150 m von der Kreuzung entfernt, und außer dem
Tankwart, der in seinem Häuschen sitzt, ist dort niemand. Jürgen
stellt das Auto in der dunkelsten Ecke ab und geht zu ihm hin, um ihn
mit ein paar unsinnigen Fragen abzulenken. Währenddessen schleichen
wir uns aus dem Wagen, lehnen die Türen nur an, huschen über die
Straße und springen die Böschung hinunter, wo wir vor einem
Maisfeld stehen. Jetzt zeigt sich, dass unser misslungener Versuch
der vorangegangenen Nacht doch zu etwa gut war, denn wir bewegen uns
gewandt und fast geräuschlos zwischen den Maisstengeln. Das Feld ist
etwa 50 m breit, direkt dahinter verläuft ein Pfad. Wir stecken
unsere Köpfe aus dem Mais und erschrecken schon wieder. Vom
Kontrollpunkt her kommt ein Soldat genau auf uns zu. Er ist noch etwa
10 m entfernt. Ich schaffe es, geräuschlos drei bis vier Meter
zurück zu eilen, Anke und Frank legen sich fast direkt am Feldrand
flach auf den Boden. Beide behaupten hinterher, der Mann habe einen
Hund bei sich gehabt. Diesen habe ich aber nicht gesehen. Als
minutenlang alles ruhig bleibt, wagen wir uns vorsichtig aus dem
Mais. Der Grenzübergang befindet sich gut 100 m zur
Linken in einer Senke. Das ist günstig für uns, denn dadurch kann uns
das dortige Licht nicht erreichen. Vor uns liegt ein etwa 200 m
breiter Streifen Ödland, welcher scheinbar mehrmals pro Jahr
umgepflügt wird. Das letzte Mal liegt aber schon eine Weile zurück,
denn er ist mit ziemlich hohem Unkraut überwuchert, in dem wir liegend einigermaßen versteckt sind. Beim Kriechen über den Acker
verlassen Frank und mich ein wenig die Kräfte. Mehrmals halten wir
inne und versuchen uns mit Galgenhumor zu stimulieren. „Weißt du,
was eine gute Abschreckung wäre: wenn hier überall Kreuze stehen
würden mit Namen, und darunter 'erschossen am soundsovielten,
erschossen am soundsovielten …'“ Einmal drehe ich mich auf den Rücken, schaue
in den Himmel und habe das Gefühl, dass uns die Sterne günstig
gesonnen sind. Anke ist hier die Aktivste von allen. Sie ist schon
zehn Meter vor uns, kommt irgendwann zurückgekrochen und zischt uns
an: „Kommt ihr jetzt endlich!“ Vor
uns verläuft quer eine Baumreihe. Als wir schon nahe heran sind,
erkennen wir davor einen gut zwei Meter hohen Stacheldrahtzaun. Die
Stacheln sind weit genug auseinander, so dass wir bequem
dazwischenfassen können, und die Bäume und Büsche dahinter bieten
ausreichenden Blickschutz. Das Problem ist, dass die alten rostigen
Drähte beim Besteigen entsetzlich knarren. Deshalb müssen wir
während des Überkletterns mehrmals für einige Minuten innehalten,
ehe ein anfahrendes Auto am Grenzübergang unsere Geräusche wieder
übertönt. Hinter
den Bäumen zieht sich erneut ein etwa 200m breiter offener Streifen;
allerdings ist dieser mit so hohem Gras bewachsen, dass selbst ich
mit meinen zwei Metern Größe gut darin versteckt bin. Die
rumänische Grenzstation haben wir inzwischen passiert und sehen nun
etwa 400m links vor uns auf einer Anhöhe die jugoslawische
Kontrollstelle. Jetzt kommen wir ein wenig zügiger vorwärts, und da
wir seit Verlassen des Maisfeldes keine weiteren Pfade passiert
haben, ist es höchst unwahrscheinlich, dass sich in unmittelbarer
Nähe jemand aufhält. Natürlich wissen wir nicht, was uns weiter
vorn erwartet, und bewegen uns deshalb so vorsichtig und geräuscharm
wie möglich. Kurz vor einem weiteren Saum aus Bäumen endet das hohe
Gras abrupt, und wieder stehen wir vor einem Stacheldrahtzaun. Er ist
ganz neu und kaum höher als anderthalb Meter. Viel mehr Sorgen macht
uns das, was wir dahinter erblicken. Dort verläuft ein etwa fünf
Meter breiter vegetationsloser Streifen mit vor kurzem geglätteter
Oberfläche. Minen???! Nachdem
wir den Zaun überstiegen haben, zögern wir einen Moment. Doch ein
Zurück gibt es nun nicht mehr. Anke hat es heute Abend am eiligsten,
in den Westen zu kommen. Sie nimmt ihr Herz in die Hand und stapft
plötzlich in großen, vorsichtigen Schritten los. Wir beiden anderen
folgen genau in ihren Fußspuren. Was
auch immer noch kommen mag, das Gefährlichste haben wir hinter uns.
Nun stehen wir vor einem so dicht verwachsenen Gebüsch, dass ein
Weiterkommen auf geradem Wege unmöglich ist. Wir wenden uns nach
rechts und müssen etwa hundert Meter laufen, ehe wir einen
Durchschlupf finden. Noch immer haben wir keinen weiteren Fußweg
passiert und gehen deshalb davon aus, dass wir keinen rumänischen
Soldaten mehr begegnen werden, zumal wir uns jetzt schon etwa in Höhe
des jugoslawischen Kontrollpostens befinden müssen. Wie es die
Jugoslawen mit der Grenzsicherung halten, wissen wir nicht, auch
nicht, was sie tun würden, wenn wir ihnen in die Arme liefen. Nach
einigen hundert Metern Wildnis gelangen wir zu einem kleinen
Friedhof. Die Grabsteine darauf sind … kyrillisch beschriftet. Die
Grenze liegt hinter uns. Nun
müssen wir uns einfach nur links halten. Wir haben mit Jürgen
vereinbart, dass er am Ortsausgang des jugoslawischen Grenzdorfes auf
uns wartet. Bald gelangen wir zu einigen Häusern. In Rumänien ist
es jetzt schon Mitternacht, da das Land in der osteuropäischen
Zeitzone liegt und zudem bereits die Sommerzeit eingeführt hat, in
Jugoslawien ist es erst 22 Uhr. In zahlreichen Fenstern brennt noch
Licht, doch auf der Straße ist niemand zu sehen. Während wir am
Ortsrand entlang laufen, beglückwünschen wir uns gegenseitig:
„Hallo Bundesbürgerin Anke, hallo Bundesbürger Frank, hallo
Niederländer Matthias!“ Die
Hauptstraße macht eine scharfe Linkskurve und knickt wenig später
ebenso scharf wieder nach rechts ab. Als wir diese Kurve passiert
haben, erblicken wir vor uns am Straßenrand den „Käfer“. Wir
klopfen aufs Dach und sagen „Milizja!“. Jürgen schrickt hoch,
springt in langen Unterhosen aus dem Auto und ruft aus: „I packs
net!!!“ Beim Weiterfahren erzählt er, jedes Mal, wenn irgendwo ein
Hund gebellt hat, sei er er überzeugt gewesen, dass sie uns jetzt haben. Er
selbst ist sehr schnell und ohne große Gepäckkontrolle über die
Grenze gekommen. Von nun an durchqueren wir Landschaften und Orte, die kaum ein gebürtiger DDR-Bürger je gesehen hat. Nach anderthalb Stunden erreichen wir Belgrad und
müssen uns erst einmal einen neuen Tankdeckel besorgen. Da hier
etliche „Käfer“ herumstehen und deren Tankdeckel nicht
abschließbar sind, dauert das nicht lange. In Belgrad könnten wir
am Vormittag auf die bundesdeutsche Botschaft gehen. Die würde uns
Ersatzreisepässe ausstellen, mit denen uns die Jugoslawen nach
Österreich oder Italien weiterreisen ließen. Doch das weiß niemand
von uns. Ich
erwache, als wir auf einem Parkplatz neben dem „Autoput“ von
Belgrad nach Zagreb stehen. Vor uns und hinter uns parken andere Pkws
mit bundesdeutschem Kennzeichen, die sicher auf der Rückfahrt aus
Griechenland sind. Auch Jürgen braucht jetzt erst einmal ein paar
Stunden Schlaf. Der
zweispurige „Autoput“, werde ich später lesen, ist die
unfallreichste Straße Europas. An der neuen Autobahn von Belgrad
nach Zagreb wird deshalb schon fleißig gebaut, wenn auch in
mühevoller Kleinarbeit. Als wir am Vormittag weiterfahren, sehen wir
immer wieder ein paar Dutzend Soldaten oder Jugendliche, die neben
der Straße eine Schaufel Erde nach der anderen bewegen. In
Jugoslawien sieht alles noch ein wenig westlicher aus als in Ungarn,
vor allem gibt es hier viel mehr Autos westlicher Fabrikation. Doch
etwa die Hälfte der Fahrzeuge ist osteuropäischer Herkunft.
Irgendwann sagt Frank: „Hier fahren mir noch zu viele Wartburgs
rum, hier fühle ich mich noch nicht sicher.“ Wir
sind uns bewusst, dass die schwierigste Grenze hinter uns liegt. Doch
immerhin nennt sich Jugoslawien ein sozialistisches Land, und auch
wenn es eine von Moskau unabhängige Politik betreibt, befürchten
wir, an die DDR ausgeliefert zu werden, sollte uns hier Polizei oder
Grenzschutz aufgreifen. Bis
zum sonnigen Mittag haben wir Zagreb und Maribor hinter uns gelassen
und warten wenige Kilometer vor der Grenze zu Österreich auf einer
Wiese den Abend ab. Jürgen drückt Frank und mir ein paar Dinar in
die Hand und schickt uns damit in einen Dorfladen, um etwas zu essen
und zu trinken zu kaufen. Das ist für mich schon richtiges Westgeld,
da es frei konvertierbar ist. Und viele der Waren hier im Laden kenne
ich aus den Intershops. In
der Abenddämmerung fahren wir zum Grenzübergang. Jürgen kennt
Jugoslawien ja schon etwas und nimmt uns die Befürchtung, dass es
vor der Grenze schon Kontrollen geben könnte. Auf einem Parkplatz
unmittelbar vor dem Kontrollpunkt halten wir. Links der Straße
verläuft eine Bahnlinie über die Grenze, haben wir der Karte
entnommen. Zu dritt schlagen wir uns in den Wald, müssen ein wenig
bergan gehen und stehen nach kurzer Zeit am Gleis. Da sich dahinter
eine steile Böschung befindet, laufen wir links der Schienen, um ein
wenig Sichtschutz zu haben. Bald befinden wir uns in Höhe der
Grenzabfertigungsstelle, die zur Rechten unter uns liegt. Links vor
uns sehen wir in einiger Entfernung einen Uniformierten zu einem
Häuschen auf einer Anhöhe gehen. Nun bewegen wir uns so vorsichtig
wie möglich weiter, doch nach wenigen Metern gelangen wir zu einem
Schild neben der Bahnstrecke, auf dem von der anderen Seite das Wort
'Landesgrenze' steht. Wir sind in Österreich. Dadurch werden wir
etwas unvorsichtig und unangemessen laut. Ein österreichischer
Grenzbeamter, der kaum dreißig Meter entfernt am Kontrollpunkt
steht, schaut mehrmals genau in unsere Richtung hinauf. Doch das
Licht, das zu uns gelangt, ist zu schwach, als dass er etwas
Konkretes erkennen könnte. Als wir den Kontrollpunkt hinter uns
haben, stellen wir fest, dass es hier gar nicht so einfach ist, auf
die Straße zurück zu gelangen, denn dazu müssten wir etwa fünf
Meter in die Tiefe springen. Wir müssen ein ganzes Stück weiter
laufen, ehe wir zu einer Tankstelle gelangen, hinter der die Wand nur
etwa 2 m hoch ist. Nun
sind wir uns schon sehr sicher, dass wir es geschafft haben, und in
diesem Moment werden wir von Emotionen überwältigt. Dabei weiß ich
kaum, was in mir stärker ist: Freude oder Trauer. Die Tür in den
Westen ist für uns einen Spalt weit aufgegangen, doch unmittelbar
hinter uns wieder zugeschlagen. Alles bisherige, von dem mir doch
manches lieb und teuer war, ist nun unwiderruflich verloren. Das wird
mir nirgends so schmerzhaft bewusst wie auf jenem Parkplatz am
Grenzübergang Spielfeld. Jürgen kommt uns schon mit großem Hallo
entgegen. Diesmal hat er keine Ängste ausgestanden, sondern war sich
sicher, dass wir es schaffen würden. Unsere Freudenbekundungen in
hier völlig unbekannten Dialekten – zumindest jenem von Anke und
mir – erregen die Aufmerksamkeit und Verwunderung anderer
Parkplatzbenutzer.
Da
die DDR-Regierung gegenüber der Bundesrepublik auf Geheiß Moskaus
auf Distanz bleiben muss, versucht Honecker seit einiger Zeit
verstärkt mit Österreich anzubändeln und insbesondere den
Wirtschafts- und Kulturaustausch zu intensivieren. Irgendjemand von uns
hat sogar gehört, dass es inzwischen einen Auslieferungsvertrag mit
Österreich geben soll. Daher ziehen wir es vor, uns hier nicht bei
den Behörden zu melden, sondern noch eine weitere grüne Grenze zu
überschreiten. Zunächst wollen wir aber furchtbar gern Wien sehen.
Jürgen hingegen meint, das sei ein zu großer Umweg. Auf der
Autobahn nicken wir ein, irgendwann weckt uns Jürgen und sagt:
„Jetzt sind wir doch in Wien gelandet.“ Wir fahren einen breiten,
prächtigen Boulevard entlang. Alles ist glänzend, farbenfroh und
hell erleuchtet. Der Westen eben, wie wir ihn erwartet haben. Am
Straßenrand stehen einige Prostituierte, die Jürgen bereitwillig
den Weg zur Autobahn nach Salzburg erklären. Gegen
halb vier am Morgen haben wir Salzburg passiert, und Jürgen hält
fünfhundert Meter vor dem Grenzübergang direkt auf der Autobahn.
Anke und ich steigen aus, doch Frank sagt, er sei zu geschafft, und
will im Auto bleiben. Jürgen hat erzählt, dass an diesem
Grenzübergang oft durchgewunken wird. Darauf hofft Frank nun. Für
Anke und mich stellt die Überschreitung der Grenze keinerlei Problem
dar. Unmittelbar hinter den Abfertigungsgebäuden führen Waldpfade
von Österreich nach Deutschland. Auf deutscher Seite stellen wir uns
ein gutes Stück hinter der Kontrollstelle direkt an die Autobahn und
warten auf die beiden. Doch sie lassen sich nicht blicken. Nach etwa
einer halben Stunde kommt aus einem Waldweg ein dunkelgrüner
„Käfer“, dem ein sehr junger und ein älterer Polizist
entsteigen. Ich habe ein mulmiges Gefühl, denn ich bin überzeugt,
dass es sich um österreichische Polizisten handelt, die uns
nachgefahren sind. Bundesdeutsche Polizeiuniformen habe ich im
Fernsehen schon gesehen, doch diese hier sehen anders aus. Ich kann
ja nicht wissen, dass die Uniformen von einem Bundesland zum anderen
variieren. Während der ältere Polizist am Auto wartet, kommt der
junge auf uns zu und spricht uns in schwer verständlichem Bayrisch
an: „Sie haben doch vorhin da oben gestanden, haben Sie mal einen
Ausweis?“ Wir drücken ihm unsere blauen DDR-Ausweise in die Hand.
Er blättert vor, er blättert zurück, er blättert wieder vor und
ruft irgendwann aus: „DDR???“ Es klingt, als würde er sagen: „Vom
Mars???“ „Ja, Flüchtlinge“, bestätigen wir. Stolz geht er auf
seinen Vorgesetzten zu, hält unsere Ausweise hoch und sagt schon von
weitem: „Zwomal grüne Grenze!“ Wir müssen in den Käfer
einsteigen und werden etwa einen Kilometer zu einem Revier gefahren.
Der Anblick ihres Büros ernüchtert mich. Das Mobiliar ist ein wenig
gediegener, das Telefon moderner, doch ansonsten unterscheidet sich
dieser Raum in nichts von den Büros der Volkspolizei, die ich
dutzendweise kennen lernen musste. Die beiden sind ein wenig ratlos,
wie sie jetzt weiter mit uns vorgehen sollen. Wir sagen: „Rufen Sie
doch mal am Grenzübergang an, dort müssen noch zwei von uns sein.“
Das tun sie nach einigem Zögern auch und werden von dort
aufgefordert, uns zur Kontrollstelle zu bringen. Hier
sehen wir unseren beigen „Käfer“ in der Mitte zwischen den beiden
Fahrstreifen stehen und begrüßen uns mit großem Hallo. Frank und
Jürgen erzählen, wie es ihnen ergangen ist. Frank hatte auf seine
„Reiseanlage für den visafreien Reiseverkehr“, auf der wie bei
mir mit Schreibmaschine 15 Tage VR
Ungarn 15 Tage SR
Rumänien 15
Tage VR Bulgarien stand,
mit Kugelschreiber dazugeschrieben: 15
Tage Jugoslawien 15
Tage Österreich 90
Jahre Bundesrepublik Deutschland. Zusammen
mit seinem blauen Personalausweis reichte er diese bei der Kontrolle
dem Grenzbeamten. Der schaute Jürgens Ausweis an, schaute Franks Ausweis an und gab beide zurück. Frank sagte daraufhin: „Aber das da mit Kugelschreiber habe ich selbst geschrieben, das ist ungültig." Doch der Grenzbeamte verstand immer noch nicht. Erst als Jürgen erklärte, das sei ein Flüchtling, ging ihm ein Licht auf und er antwortete: "Ach Flüchtling! Ja da fahren Sie doch mal bitte rechts ran." Wir
müssen hier bis acht Uhr warten, dann wollen uns irgendwelche
zuständige Personen aus der nahen Kreisstadt abholen. Die Beamten am
Übergang sind viel netter und freundlicher als die beiden
Polizisten. Sie freuen sich ganz offensichtlich mit uns, dass es mal
wieder welche geschafft haben. Wir können uns in dem Kontrollgebäude
frei bewegen und dürfen sogar auf die österreichische Seite
zurückgehen, wo uns Jürgen in einem Restaurant ein Frühstück
spendiert. Zum ersten Mal esse ich ein „original“ Wiener
Schnitzel. Als ich später mit Anke im Auto sitze, kommt Frank plötzlich
angestürzt und keucht: „Guckt mal da, guckt mal da!!!“ Wir
drehen uns um. Am Kontrollpunkt steht ein supermoderner PKW
amerikanischer Bauart von einer enormen Länge und Breite mit …
Ostberliner Kennzeichen. Ich sehe nur noch, wie der Fahrer seinen
Pass gelassen herein nimmt und aufs Gas tritt. Frank meint: „Ich
wäre dem am liebsten in die Frontscheibe gesprungen.“ Es kann sich
eigentlich nur um Devisenbeschaffer Schalck-Golodkowski gehandelt
haben, von dessen Existenz wir zu diesem Zeitpunkt jedoch noch nichts
wissen. Wer sonst in der DDR hatte einen solchen Schlitten und durfte
damit frei in Westeuropa herumreisen? Die
Beamten, die kurz nach acht Uhr eintreffen, behandeln uns ebenfalls
sehr freundlich. Es ist vermutlich nicht das erste Mal, dass sie
einen solchen Fall haben, aber allzu oft kommt es wohl auch nicht
vor. Sie fahren uns in ein Büro in Bad Reichenhall, wo sie unsere
Personalien aufnehmen und uns ein provisorisches Dokument ausstellen,
aus dem hervorgeht, dass wir uns bei den Behörden der Bundesrepublik
gemeldet haben und angewiesen wurden, umgehend das Notaufnahmelager
Gießen aufzusuchen. Während der Herr mit Schreiben beschäftigt
ist, bekommt er einen Anruf. Am anderen Ende ist vermutlich einer der
beiden Polizisten, die uns am Morgen festgenommen haben, denn ich
höre ihn sagen: „Nein, nein, das übernehmen wir schon, da
brauchen Sie weiter nichts zu machen … Nein, nein, die Meldefrist
wurde ja eingehalten.“ Wenig später können wir unsere Fahrt in
Jürgens „Käfer“ fortsetzen.
Epilog
Gegen
Mittag erreichen wir Selb in Oberfranken, wo Jürgen aufgewachsen ist. Er parkt
den „Käfer“ am Marktplatz, bittet uns, kurz zu warten, steigt
aus und geht davon. Nach einigen Minuten kommt er zurück und führt
behutsam seine Mutter im Arm. Sie schaut ins Auto, ist einen Moment
verblüfft und sagt dann: „Die Anke!“ Nur
50 km Luftlinie sind es bis zu Ankes Geburtsort Reichenbach im
Vogtland, doch erst nach einer über 4'000 km weiten
abenteuerlichen Reise konnte sie, ebenso wie wir beiden anderen, hierher gelangen. Kaum
hat Jürgens Mutter ihre Überraschung überwunden, sagt sie: „Habt
ihr schon gehört, da sind welche mit einem Heißluftballon
abgehauen; die sind ganz hier in der Nähe gelandet, bei Naila.“
Wir sind nicht sehr begeistert. Eben erst
haben wir es geschafft, in den Westen abzuhauen und fühlen uns als
kleine Helden, da stehen wir auch schon im Schatten von anderen. Noch
weniger erfreut sind wir, als wir etwas später hören, dass diese
Leute vom Magazin „Stern“ sofort 90'000 DM für ein
Exklusivinterview bekommen haben sollen. An einem Interview mit uns
wird sich niemand interessiert zeigen, schon gar nicht gegen
Bezahlung. Schließlich sind wir, wie ich wenige Tage darauf in
Gießen lesen werde, nur drei von etwa achtzehntausend, denen seit
1961 die Flucht über Balkanstaaten gelungen ist.****
Wir
wurden zwar angewiesen, schnellstmöglich das Notaufnahmelager Gießen
aufzusuchen, doch auf ein, zwei Tage kommt es nicht an, ließ der
Herr durchblicken. Also bleiben wir zunächst in Selb und kommen in
der Wohnung von Jürgens Oma unter. Sie ist vor Überraschung und
Freude ganz aufgeregt und reißt sich fast ein Bein aus, um uns einen angenehmen Aufenthalt zu bieten. Den Abend
verbringen wir in Jürgens Stammkneipe, wo wir natürlich im
Mittelpunkt des Interesses stehen. Als wir am
Morgen in kurzen Abständen das Haus verlassen, steht dort ein Herr
mit drei Briefumschlägen in der Hand und sagt: „Herzlich
willkommen in der Bundesrepublik! Ich bin nicht der Bundespräsident,
aber … herzlich willkommen in der Bundesrepublik!“ Diese Worte
wiederholt er dreimal und drückt jedem von uns einen Umschlag in die
Hand, in dem sich jeweils 60 DM befinden. Er ist ein Verwandter von
Jürgen, ein Konstrukteur aus Bamberg. Dann lädt er uns in seinen Audi
ein, um uns die Stadt und die Umgebung zu zeigen. Es ist ein ganz neues Modell. Der
neueste Schrei in der Autobranche sind elektrische Scheibenheber, und
natürlich ist dieses Auto damit ausgestattet, was er uns mehrmals
stolz vorführt.
Wir
wissen, dass jedem DDR-Bürger 150 DM Begrüßungsgeld zustehen. Doch
mit dem Papier, das uns in Bad Reichenhall ausgestellt wurde, bekämen
wir das erst in Gießen ausgezahlt, wird uns gesagt. Irgendeine
Behörde in Hof stattet uns aber zumindest mit Fahrkarten dorthin
aus. Am nächsten Morgen besteigen wir den Zug nach Frankfurt. Als
wir in Gießen ankommen, ist es Freitagnachmittag, und wir erkennen,
dass es ein Fehler war, heute schon hierher zu kommen. Es ist
Wochenende, und wir müssen nun zwei Tage untätig hier herumsitzen.
Immerhin hat die Caritas geöffnet, bei der wir uns einige neue
Kleidungsstücke aussuchen können, und auch unser Begrüßungsgeld
bekommen wir bald ausgezahlt. Auf
der Straße vom Lager ins Stadtzentrum befinden sich fast
ausschließlich Sex-Shops, Pornokinos und Bars mit Animierdamen.
Natürlich kann auch ich dieser Versuchung nicht widerstehen und
lasse dort einige Zehner liegen. Von den
Pornofilmen, die ich sehe, bin ich allerdings enttäuscht. Ich hatte
erwartet, dass diese mit ein paar Verführungsszenen beginnen und
dadurch Spannung aufgebaut wird. Aber nein, ausziehen, rein, raus,
rein, raus … Gießen
empfinde ich als eine ziemlich reizlose Stadt und verbringe deshalb
unangemessen viel Zeit bei Apfelkorn in der Lagerkantine, wo ich mich
mit anderen Ostdeutschen unterhalte, die eben erst im Westen
eingetroffen sind. Fast alle sind freigekaufte Häftlinge. Am
Montagmorgen beginnt endlich das Aufnahmeverfahren und ich erfahre,
dass ich seit meiner Geburt Bürger der Bundesrepublik Deutschland
bin, da diese die DDR-Staatsbürgerschaft nicht anerkennt. Als ich
erkläre, dass ich aber in die Niederlande will, sagt der Beamte:
„Kein Problem, Holland gehört zur Europäischen Gemeinschaft. Wenn
sie dort Arbeit und eine Wohnung finden, dürfen Sie sich dort gerne
niederlassen.“ Vorstellungen hat der Mann! Wie soll ich, der doch
im Westen nichts und niemanden kennt, in Holland eine Arbeit und eine
Wohnung finden? Und welcher Holländer würde den Unterschied
zwischen mir und einem Hamburger oder Kölner begreifen? Ganz anders
sähe es aus, wenn ich in Holland politisches Asyl erhalten und
anfangs eine gewisse Betreuung erfahren hätte. So muss ich mich also
vorerst doch in der Bundesrepublik niederlassen. Da möchte ich aber
wenigstens in der Nähe von Jürgen und Anke und Frank bleiben. Doch
nicht einmal das geht. Die einzelnen Bundesländer haben bestimmte
Aufnahmequoten, und da Bayern ein begehrtes Zuzugsland ist, ist
dessen Quote ständig ausgeschöpft. Das erste Bundesland kann uns
zugewiesen werden, erfahre ich. Anke und Frank können in Selb
bleiben, da sie keine Verwandten in anderen Bundesländern haben. Ich
jedoch habe einen Großonkel in Giengen an der Brenz, den ich noch
nie in meinem Leben gesehen habe. Also muss ich nach
Baden-Württemberg, basta. Später könne ich meinen Wohnort ja frei
wählen.
Nach fünf Tagen, am Mittwoch, dem 26. September, kann ich das Notaufnahmelager Gießen endlich verlassen. Ich habe eine Fahrkarte nach Rastatt bekommen, wo sich das zentrale Aufnahmelager des Landes Baden-Württemberg befindet. Mit mir fährt ein junger Mann, der erzählt, er habe in der DDR schon einige Semester studiert, sei dann bei einem Fluchtversuch verhaftet und nach etwa zweijähriger Haft freigekauft worden. Zusammen mit ihm und einem jungen Flüchtling aus Rumänien bewohne ich eine Woche lang ein kleines Zimmer mit zwei Doppelstockbetten im Zentrum von Rastatt. In dieser Zeit unternehme ich zwei kurze Reisen. Zunächst fahre ich nach Giengen, um endlich meinen Großonkel kennen zu lernen und das Grab meines Opas zu besuchen, der hier acht Jahre zuvor auf seiner zweiten Reise als Rentner in den Westen verstorben ist. Ein oder zwei Jahre davor hatte er beim Zeitunglesen mir gegenüber noch gewitzelt: „Da ist mal wieder einer sozialistisch gestorben. Hat geackert bis 65 und kurz danach den Löffel abgegeben, um dem Staat bloß nicht lange auf der Tasche zu liegen.“ Bald darauf war er selbst „sozialistisch“ gestorben. Inzwischen habe ich mich mit seinem Tod abgefunden, auch wenn er mir noch lange im Traum erscheinen wird. Vor dem schlichten Grabstein mit der Aufschrift 'Rudolf Behlert, 1904-1971' nehme ich endgültig von ihm Abschied.
Die zweite Reise mache ich zusammen mit meinen beiden Zimmergenossen. Wir haben noch keine bundesdeutschen Papiere, wollen aber mal schauen, ob wir nicht trotzdem nach Frankreich gelangen können. Bis zum Rhein sind es etwa 8 km, die wir per Anhalter zurücklegen. Der französische Fahrer, der uns mitnimmt, ist den Grenzern bekannt und wird durchgewunken. Über eine Pontonbrücke rollen wir nach Frankreich. Noch einen Monat zuvor hatte ich in meinem ganzen Leben gerade mal drei Länder bereist; nun sind es schon zehn. Am frühen Nachmittag erreichen wir Straßburg, besichtigen das Münster und die malerische Altstatt. Als wir später über die Rheinbrücke nach Kehl laufen und den deutschen Grenzern unsere beiden DDR-Personalausweise und den rumänischen Pass vorlegen, sind diese ziemlich perplex. Zwar haben wir alle drei auch ein Dokument, aus dem hervorgeht, dass wir in der Bundesrepublik gemeldet und registriert sind, doch sagt einer von ihnen kopfschüttelnd: „Die Beamten dort oben hätten euch niemals über die Grenze lassen dürfen.“ Damit ist die Sache jedoch auch schon erledigt, und wir treten auf der deutschen Rheinseite per Anhalter den Rückweg nach Rastatt an.
Wenige Tage darauf werde ich zusammen mit meinem Zimmergenossen aus der DDR in ein geräumigeres Wohnheim in Endingen am Kaiserstuhl verlegt. Mittlerweile habe ich einen bundesdeutschen Personalausweis und erhalte Arbeitslosengeld, das danach berechnet wurde, wie viel ich in meinem letzten Beruf im Durchschnitt in der Bundesrepublik verdient hätte. Irgendwoher habe ich sehr schnell ein Fahrrad bekommen, fahre damit in der goldenen Oktobersonne mehrmals über den romantischen Kaiserstuhl zum Rhein, esse in einer Dorfschänke auf der elsässischen Seite zu Mittag und mache mich anschließend wieder auf den Rückweg. Hätte ich gewusst oder auch nur geglaubt, dass ich bald wieder in Dresden sein kann, es wäre sicher eine wunderbare Zeit geworden. So aber werden all die schönen Erlebisse überschattet von tiefer Trauer über das unwiederbringlich Verlorene. Ich möchte als erstes das Abitur nachholen und erhalte die Adresse einer Beratungsstelle für Weiterbildung in Pforzheim. Dort wird mir gesagt, die jungen Leute aus der DDR würden erfahrungsgemäß im Englischunterricht nicht mitkommen, und da ich erwähnt habe, dass ich etwas Russisch und Polnisch spreche, sucht die Dame für mich ein Gymnasium mit angeschlossenem Internat in Düsseldorf heraus, in dem diese beiden Sprachen unterrichtet werden. Mitte Oktober reise ich kurz dort hin, um mich vorzustellen, und werde sofort aufgenommen. Daher packe ich am 20. Oktober endgültig meine Sachen und ziehe nach Düsseldorf. Es wird ein Schlag ins Wasser. Der Polnischunterricht, der dort angeboten wird, ist auf so genannte Spätaussiedler aus Polen zugeschnitten, also auf Personen, für die Polnisch quasi Muttersprache ist, da sie zuvor mindestens zehn Jahre auf polnische Schulen gegangen sind. Hier hänge ich also noch viel mehr durch, als es im auf deutsche Schüler zugeschnittenen Englischunterricht hätte der Fall sein können. Auch in weiteren Hinsichten fühle ich mich in jenem Gymasium völlig fehl am Platze.
Aber das ist bereits eine andere Geschichte ...
* Die wenigen nach dem Mauerbau noch verbliebenen Schlupflöcher an der innerdeutschen Grenze waren bis Ende der Siebzigerjahre weitestgehend abgedichtet und andere Methoden wie Tunnelgrabungen oder Schleusung in Fahrzeugen durch Inbetriebnahme entsprechender Sensoren unmöglich gemacht worden. Es blieben somit im Wesentlichen nur drei Fluchtwege mit einer gewissen - wenn auch teilweise trügerischen - Aussicht auf Erfolg: über andere Ostblockstaaten, über die Ostsee oder durch die Luft. Im Segelflugzeug hatte es vor dem Jahr 1979 nur eine einzige DDR-Flucht gegeben, nämlich am 23. Juni 1973, als sich der mehrfache DDR-Meister im Streckenflug Udo Elke während der DDR-Meisterschaften im mecklenburgischen Neustadt-Glewe gen Westen absetzte.
Während die beiden Segelflugzeugfluchten vom Mai bzw. Juni 1979 sowie die Flucht eines Agrarpiloten mit drei weiteren Personen in einem Düngemittelstreuer im Juli 1979 noch ratlos und zähneknirschend hingenommen wurden, provozierte die Flucht des Dresdner Ingenieurs mit seiner Familie von Annaberg aus heftige Reaktionen, die in Insiderkreisen unter der Bezeichnung "Militärputsch" bekannt sind. Alle Sportarten, die sich potentiell militärisch ausbeuten ließen - nicht zuletzt also sämtliche Luftsportarten - unterstanden der "Gesellschaft für Sport und Technik" (GST). Diese stellte die notwendige Ausrüstung und diktierte zugleich die Bedingungen, unter denen diese genutzt werden durfte. Unmittelbar nach Bekanntwerden der zuletzt genannten Flucht am 24. August 1979 (dem Tag übrigens, an dem ich die DDR in Richtung Bulgarien verließ) erging ein absolutes Startverbot an alle Sportflugplätze. Dies betraf insbesondere die damals 78 Segelflugplätze. Für 43 von ihnen bedeutete es das völlige Ende des Flugsports bis zum Zusammenbruch der DDR oder darüber hinaus. Auf den verbliebenen 35 Plätzen durfte ab Mai 1980 wieder geflogen werden. Jedoch wurden der Flugbetrieb sowie die Sicherung der Flugplätze und des Inventars nun nach strikt militärischen Prinzipien organisiert, und die Flugwege der Piloten wurden peinlich genau überwacht. Dennoch kam es in den 1980er Jahren zu zwei weiteren Fluchten mit Flugzeugen der GST. Zudem hatte sich die DDR damit selbst noch ein wenig unattraktiver gemacht und ein Stück weit ihr eigenes Grab geschaufelt. Konnten bis 1979 noch Tausende das Segelfliegen als Freizeitsport betreiben, durch den sie während der wärmeren Monate jedes Wochenende die harsche DDR-Realität für eine Weile unter sich zurückließen, war das Fliegen seither nur noch einem ausgewählten Personenkreis zugänglich und diente fast ausschließlich der vormilitärischen Ausbildung. Auch wenn diese Maßnahmen nicht unmittelbar die breiten Massen trafen, leisteten sie dem wachsenden Frust und DDR-Verdruss doch spürbaren Vorschub.
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** Abschnittsbevollmächtigter (ABV) - für eine oder mehrere Gemeinden bzw. einen Stadtteil zuständiger Volkspolizist, ähnlich dem Kontaktbereichsbeamten (KOB) in der Bundesrepublik
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*** Wenige Wochen nach meiner Ankunft in der Bundesrepublik berichtete mir ein rumäniendeutscher Flüchtling von einem Fall, den er scheinbar aus erster Hand kannte. Zwei DDR-Bürger waren bei dem Versuch festgenommen worden, im Banat die Grenze von Rumänien nach Jugoslawien zu überschreiten. Da ein Dolmetscher anwesend war, konnten sie bei einer umgehenden Vernehmung ihre Situation schildern. Kurze Zeit später wurden sie ohne weitere Konsequenzen - insbesondere ohne Mitteilung an die Behörden der DDR - freigelassen. Sie erhielten lediglich eine eindringliche Warnung mit auf den Weg, es ja nicht noch einmal zu versuchen.
Zu vermuten ist, dass dies kein Einzelfall war und es hier eine nicht näher zu ermittelnde Zahl von zwar gescheiterten, jedoch ungeahndeten Fluchtversuchen gab. Allerdings sind mir mittlerweile auch Fälle bekannt, die mit der Verhaftung und Auslieferung an die DDR endeten.
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**** Mittlerweile gehe ich davon aus, dass diese Zahl viele Personen einschloss, die zwar ebenfalls über Balkanstaaten, jedoch auf andere Weise geflüchtet sind, beispielsweise mit einer Reiseerlaubnis für Jugoslawien, die zu Beginn der Sechzigerjahre noch recht leicht zu bekommen war, oder durch Flucht in die Botschaft eines westlichen Staates auf dem Balkan. Somit dürfte die Anzahl der Flüchtlinge, die wie wir tatsächlich den „Eisernen Vorhang“ im engeren Sinne überwunden haben, weitaus geringer sein. Die sehr empfehlenswerte Arbeit „Die verlängerte Mauer“ von Monika Tantzscher beispielsweise nennt auf S. 82 für das Jahr 1979 lediglich 161 gelungene DDR-Fluchten "über andere Ostblockstaaten" (denen in diesen Ländern 1'162 gescheiterte Fluchten gegenüber stehen). Zurück
Dieses 2012 entstandene Video zeigt die letzten Kilometer vor der Stelle, an der wir die Grenze von Rumänien nach Jugoslawien überquerten: https://www.youtube.com/watch?v=rnKfELcNrrU
Die Aufnahme beginnt etwa 5 km hinter dem Dorf Răcăşdia, in dessen Nähe wir die Dunkelheit abgewartet haben. Zwischen 0:10 und 0:40 haben wir noch einmal angehalten, um uns einiger verräterischer Gepäckstücke zu entledigen. Hinter dem Dorf Nicolinţ (0:49 bis 1:45) patroullierten in unregelmäßigen Abständen Soldaten auf der Straße. Irgendwo zwischen 3:00 und 5:00 kam uns auf der anderen Straßenseite ein Mann mit erhobenen Händen entgegen, der von Soldaten abgeführt wurde. Bei 6:25 ist rechts die Zufahrt zum Grenzübergang zu erkennen. Zunächst ging ich davon aus, dass das bei 6:16 zur Linken zu sehende rundum verglaste Häuschen Teil der Tankstelle war und wir die Straße etwa bei 6:20 überquert haben. Auf den Satellitenaufnahmen befindet sich die betonierte Fläche der ehemaligen Tankstelle jedoch kurz vor diesem Häuschen (welches wahrscheinlich erst später errichtet wurde). Bei 6:10 und 6:15 sind die beiden Zufahrten zur Tankstelle zu sehen. Nahe der letzteren haben wir unbemerkt das Auto verlassen und uns über die Straße geschlichen. Zu beachten ist, dass diese Aufnahme im Winter entstand und die abgeernteten Felder einen relativ weiten Blick gestatten. Unsere Sicht war hingegen durch die zahllosen Maisfelder zu beiden Seiten der Straße stark eingeschränkt. Beispielsweise konnten wir die Gebäude des Grenzkontrollpunktes wie auch das von dort ausgehende Licht erst wahrnehmen, als wir an der Kreuzung rechts abbogen.
Hier ein Satellitenfoto des Grenzübergangs Naidăş/Kaluđerovo mit unserem etwaigen Fluchtweg und Erläuterungen (zum Vergrößern zweimal darauf klicken und gegebenenfalls etwas warten, bis sich die Schärfe einstellt):
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