Den folgenden Text habe ich bereits in den 1980er Jahren verfasst, als die Erinnerung an meine Kindheit und Jugend noch relativ frisch war. Später habe ich ihn lediglich noch leicht überarbeitet und an die neue Rechtschreibung angepasst.
VOM FLIEGEN
Autobiographische Skizzen 1971-1974
"Junge, was ist mit
dir?"
Weit hinter mir, über
mir, in einer anderen Welt, erklingen diese Worte.
"Junge, steh doch
auf! Komm, ich bringe dich zum Arzt!"
Mein Gesicht berührt
feuchte Erde.
Immer deutlicher dringt
die besorgte Stimme des Mannes in mein Bewusstsein.
Wo bin ich? Was ist
passiert?
* * *
Der fremde Mann hilft
mir beim Aufstehen.
Vor mir, auf der
Köhlerstraße, steht halb schräg ein 'Moskvitch'. Seine Motorhaube hat eine
faustgroße Delle. Davor liegt mit verbogenem Rahmen mein Fahrrad.
Ein Verkehrsunfall also.
Ich muss gerade aus der Schule gekommen sein, als er mich angefahren und in den
Straßengraben geschleudert hat. Bloß, wo ist mein Schulranzen?
"Aber du hattest
doch gar keinen Ranzen."
Meine Erinnerung an die
letzten Stunden versteckt sich hinter einer Nebelwand. Mit meinem linken Bein
ist etwas nicht in Ordnung. Ich verspüre keine Schmerzen, doch es gelingt mir
nur humpelnd und gestützt von dem Mann, den Beifahrersitz des Wagens zu
erreichen.
Stunden später liege ich
mit einem vollständig eingegipsten Bein in der Männerstation des
Kreiskrankenhauses Meißen. Die Untersuchungen liegen hinter mir; ich weiß
inzwischen, dass ich mir einen Bänderriss und eine schwere Gehirnerschütterung
zugezogen habe.
Abends kommt Vati mich
kurz besuchen. Er bringt mir Obst und Saft und verschwindet gleich wieder. Auch
ein Volkspolizist erscheint an der Saaltür und richtet seinen Blick sofort auf
mich, das einzige Kind unter einem Dutzend erwachsener Männer. Er will gerade
zu mir ans Bett kommen, als die Stationsschwester auftaucht und ihn abwimmelt.
Als alle anderen schon
schlafen, der alte Mann am Fenster, dem gerade ein Bein amputiert wurde, und
die Übrigen mit ihren verschiedenen Wunden und Krankheiten, lässt die wohltuend
betäubende Wirkung des Schocks nach, und die Schmerzen brechen sich Bahn.
Mehrmals klingle ich in jener Nacht des 12. Juni 1971 nach der Schwester und
bitte um eine Schmerztablette.
* * *
Am darauf folgenden
Nachmittag werde ich auf die Kinderstation verlegt, wo inzwischen ein Bett frei
geworden ist. Die Schmerzen lassen nach und die Erinnerung an die Minuten und
Sekunden vor dem Unfall kehrt allmählich zurück. Ich kam gar nicht aus der
Schule, sondern aus der entgegengesetzten Richtung. Freihändig, wie ich das so
gerne tue, rollte ich die Köhlerstraße hinunter, auf dem Gepäckträger sitzend
und die Ellenbogen auf den Sattel gestützt. Ich war auf dem Weg zu meinem
besten Kumpel Matthias.
Hinter mir hörte ich
kein Geräusch und hielt es deshalb nicht für nötig, mich umzusehen, als ich
nach links in die unscheinbare Einfahrt zur Lommatzscher Siedlung einbog. Im
letzten Moment schwang ich mich nach vorn auf den Sattel und riss den Lenker
herum.
Meine Erinnerung
verlässt mich mit einem heftigen Bremsenquietschen.
Den Rest des Geschehens
gibt sie mir nicht mehr preis.
* * *
Zu meiner Verwunderung
kann ich überhaupt nichts Erschreckendes an der Vorstellung finden, dass ich
hätte tot sein können.
So also kann der Tod
sein: ein kurzer Schlag, und nichts geht einen mehr etwas an.
Bisher hatte mich der
Gedanke an meinen eigenen irgendwann bevorstehenden Tod mit tiefer Trauer
erfüllt. Vor ein paar Jahren, als mir eines Abends plötzlich bewusst geworden
war, dass auch für mich das Leben irgendwann zu Ende sein wird, hatte ich
stundenlang in Tränen aufgelöst im Bett gelegen. Nur getröstet vom Ticken der
alten Standuhr.
* * *
Der Juli ist heiß und
wolkenlos.
Wochenlang sitze ich von
morgens bis abends im Liegestuhl auf der Wiese. Zwar muss mein Bein noch bis
Ende des Monats in Gips bleiben, aber wenigstens brauche ich die Sommerferien
nicht im Krankenhaus zu verbringen. Pünktlich zu deren Beginn wurde ich
entlassen.
Ich genieße die Sonne,
die Wärme, das Faulenzen. Oft gesellt sich Steffen, mein Nachbar, zu mir, macht
es sich hinter dem Zaun gemütlich und wir unterhalten uns dann stundenlang über
alles, was elf-, zwölfjährige Jungs interessiert. Der Garten hängt voller reifer
Kirschen, und sogar Gudrun scheint gute Laune zu haben. Seit Jahren habe ich das
nicht mehr bei ihr erlebt.
* * *
In diesen Wochen
erreichen mich drei wichtige Nachrichten.
Die erste davon ist die
angenehmste. Mein Halbbruder Karsten kommt eines Abends zu mir ans Bett und
erzählt, er habe von Scheidung reden hören.
Voll ungläubiger Freude
nehme ich seine Worte auf. Sollte mein seit Jahren gehegter heimlicher Wunsch
nun doch in Erfüllung gehen? Sollte ich tatsächlich bald nur mit Vati allein
für immer fortgehen aus diesem Haus, nur mit ihm woanders ein neues Leben
anfangen? Aber ja, letztlich wäre das ja für alle die beste Lösung.
Noch ist es allerdings
nicht so weit. Das wird mir bewusst, als mir Vati wenige Tage später eröffnet,
dass ich ab September nicht mehr in Coswig in die Schule gehen werde, sondern
in Weinböhla. Da er hinzufügt, dass Jost Gassauer von der 5. in die 6. Oberschule
Coswig versetzt wurde, kann ich mir auch den Grund dafür denken: Jost, Matthias
und ich, die drei schwarzen Schafe der Klasse - untrennbar verbunden durch den
gemeinsamen Schulweg - sollen auseinander gebracht werden.
Die dritte der
Nachrichten - die schreckliche - bekomme ich wieder von Karsten ans Bett
gebracht. Er ist erst sieben und begreift selbst noch viel weniger als ich, was
er mir mitteilt: "Ich muss dir mal was sagen, aber was ganz Trauriges. Der
Opi ist gestorben."
Es dauert eine Zeit, ehe
ich bereit bin, es zu glauben. Erst als ich selbst Omis Brief lese, der gerade
angekommen ist, Gudruns Großmutter mit tränenverschleierten Augen ins Zimmer
kommt, klagend: "Das war so ein guter Mensch", begreife ich ganz den
unwiederbringlichen Verlust.
Von nun an lebt Opi nur
noch in meinen Träumen.
Viele Jahre lang wird er
in ihnen einen festen Platz haben.
* * *
Die Schule, in die ich
seit Anfang der siebenten Klasse gehe, widerstrebt mir.
Der Bau entstand um die
Jahrhundertwende, und in seinen meterdicken Mauern hat sich noch eine gute
Portion des Geistes jener Zeit erhalten. Die Lehrerschaft besteht zum großen
Teil aus Männern über fünfzig. Unter diesen ist es besonders der
Geografielehrer Nigge, durch den mir bald bewusst werden soll, dass an diesem
Gebäude gut zweieinhalb Jahrzehnte zuvor noch die Hakenkreuzfahne wehte.
Gleichzeitig mit mir ist
noch ein anderer Junge neu in die Klasse gekommen. Seine Familie ist vor kurzem
von Frankfurt/Oder nach Weinböhla gezogen. Durch die große Umstellung fällt es
ihm während der ersten Monate schwer, im Unterricht den Anschluss zu finden, und
seine Noten sind lange Zeit die schlechtesten der Klasse. Das ist für Nigge der
Grund, ihn zum Sündenbock zu stempeln und während seiner Unterrichtsstunden
wiederholt zum abstoßenden Beispiel zu erklären.
Mitte des zweiten
Schulhalbjahres ändert er jedoch plötzlich seine Meinung.
Inzwischen ist es zu ihm
durchgedrungen, dass ich mit einem Kumpel in das Haus eines kurz zuvor
verstorbenen alten Mannes eingebrochen bin, dort ein Kleinkalibergewehr
entdeckt und damit in den Wäldern auf Krähen geschossen habe.
Die Verkündung seines
Meinungswandels leitet er vor der Klasse mit den Worten ein: "Na, was
meint ihr wohl, wer der Schlimmste von allen ist?"
Sicher, dass nur er gemeint
sein kann, hebt der Junge aus Frankfurt verschämt seine Hand. Doch da beruhigt
ihn Nigge mit gemachter Väterlichkeit: "Nein, du nicht. Dich kriegen wir
schon noch hin." Kurz darauf vollführt er mit seinem obligatorischen
Zeigestock einen Schwenk; genau auf mich weist jetzt dessen Spitze.
"Der da, das ist
der Oberübelste!"
In seinem Fach zähle ich
zu den Besten der Klasse. Im Laufe vieler Topografietests hat sich gezeigt,
dass ich mich auf der Weltkarte am besten von allen auskenne. Doch wird am
Schuljahresende auf meinem Zeugnis unter Erdkunde eine 3 stehen.
Wieviel angenehmer war
da doch die Schule in Coswig. Ein Neubau, kurz vor meiner Einschulung
fertiggestellt. Der letzte in dieser Gegend, der noch aus Ziegeln gebaut wurde
und ein Spitzdach hat, und zugleich der erste mit großen Fenstern, hellen
Räumen und einem die gesamte Treppenhausfront überspannenden freundlichen
Glasmosaik. Die Lehrer sind viel jünger; gut die Hälfte davon sind Frauen.
Glückliches Produkt eines kurzen geistig-kulturellen Frühlings in der DDR.
* * *
Das Schuljahr vergeht,
und die Hoffnung, dass bald alles anders werden wird, tröstet mich über die
unangenehmen Erfahrungen hinweg. Nach dem Unterricht gehe ich meist gar nicht
erst nach Hause, denn dort ist doch nur dicke Luft. Ich fahre in unsere Bude im
Wald oder ziehe mit Matthias durch die Konsum-Läden, um Eis und Schokolade zu
klauen.
Anfang Mai 1972 findet
die Scheidung statt. Nun ist es nur noch eine Frage von Wochen, bis ich
tatsächlich nur mit Vati allein dieses Haus und diesen Ort verlassen werde. Am
30. Juni nehme ich gelassen das bisher schlechteste Zeugnis meiner schulischen
Laufbahn in Empfang und verlasse erleichtert das Gebäude. Nie wieder werde ich
meinen Fuß da hinein setzen.
In der Woche darauf
fahre ich mit der ersten Belegung ins Ferienlager an die Ostsee. Als mich Vati
zwei Wochen später mit dem Motorroller in Dresden vom Bahnhof abholt, nimmt er
zu meiner Überraschung nicht den Weg nach Weinböhla, sondern fährt hinauf nach Klotzsche.
Mich beschleicht eine freudige Ahnung.
Am Schenkhübel biegt er
in die Karl-Marx-Straße ein und hält zweihundert Meter vor dem Flughafen bei
einigen Baracken. Schräg gegenüber steht Gebäude 316 des "VEB
Elektromat", seine Arbeitsstelle.
Wir betreten einen der
hölzernen Korridore. Vati holt einen Schlüssel aus der Tasche und öffnet damit
eine Tür: "So, mein Sohn, hier werden wir vorläufig wohnen." Der Raum
ist nur spärlich und sehr einfach eingerichtet, ein typisches Zimmer in einem
Betriebswohnheim eben. Aber das stört mich überhaupt nicht.
Hier möchte ich ewig
bleiben!
* * *
Der Juli ist genauso
heiß und sonnig wie im Vorjahr. Jeden Morgen gehe ich gleich nach dem Frühstück
hinüber zum Flughafen, um den an- und abfliegenden Maschinen zuzuschauen.
Die meisten
Flugzeugtypen kann ich inzwischen schon aus einiger Entfernung unterscheiden,
denn mein Interesse für das Flugwesen hat in den letzten Monaten enorm
zugenommen. Ich habe nämlich erfahren, dass ich mit vierzehn Jahren, also schon
bald, einem Segelflug-Klub beitreten und fliegen kann. Dann werde ich selbst in
einem der Flugzeuge sitzen, die an so vielen Wochenenden im Jahr in geringer
Höhe über den Balkon meiner Großeltern surren, um am gegenüberliegenden Elbufer
zu landen.
Zum Mittagessen treffe
ich mich regelmäßig mit Vati in der Betriebskantine, danach zieht es mich
wieder zum Flughafen. Wenn die Hitze nachgelassen hat, schwinge ich mich aufs
Fahrrad und erkunde die Umgebung. Ich lebe, als könnte sich dieser Zustand
grenzenloser Freiheit niemals ändern.
Deshalb bin ich zuerst
überhaupt nicht begeistert, als nach zwei Wochen eine Kollegin meines Vaters
auf mich zu kommt und fragt, ob ich nicht Lust habe, ausnahmsweise noch einmal
ins Ferienlager zu fahren.
Das bedeutet ja doch nur
wieder, sich ständig den Anweisungen der Betreuer unterordnen zu müssen - genau
das Gegenteil von dem, was ich gerade erlebe. Sogar die Nachricht, dass es
diesmal nicht an die Ostsee gehen soll, sondern in die Tschechoslowakei, lässt mich
im ersten Augenblick kalt.
Doch übt die Aussicht,
zum ersten Mal in ein fremdes Land reisen zu können, einen ungestüm wachsenden
Reiz auf mich aus. Am nächsten Morgen habe ich meine Meinung gründlich
geändert.
* * *
Wieder holt mich Vati
mit dem Roller ab, als die Busse aus der Tschechei auf dem Platz der Einheit
eintreffen. Wir fahren hinauf nach Klotzsche, doch zu meiner Verwunderung
nehmen wir nicht den Weg zum Flughafen, sondern rollen die Kieler Straße
hinunter und halten vor einer der zahlreichen heruntergekommenen Villen. Als
ich ihn nach dem Grund frage, flunkert Vati: "Wir gehen jemanden
besuchen." Doch statt auf die Klingel zu drücken, zückt er einen Schlüssel
und öffnet damit die Tür im Erdgeschoss.
Hier also werden wir
wohnen.
Ich bin etwas
enttäuscht, hatte erwartet, wieder in das Barackenzimmer am Flughafen zu kommen
und das Leben fortsetzen zu können, das ich vor der Reise geführt hatte. Gerade
das Provisorische an diesem Zustand war es, das mir ein beglückendes Gefühl der
Befreiung gegeben und den Wunsch geweckt hatte, er möge ewig dauern. Der
Anblick des düsteren Korridors und der zwei fast leeren Zimmer ruft mir
unbarmherzig ins Bewusstsein, dass die Zukunft mit Pflichten gepflastert sein
wird.
In zwei Wochen sind die
Sommerferien zu Ende.
*
*
* * *
*
*
"Vati, ich würde
gern mit dem Geld, das ich in den Winterferien verdiene, nach Prag fahren und
meinen Freund Rudolf aus dem Ferienlager besuchen. Hättest du etwas
dagegen?"
"Nein, das ist eine
gute Idee. Dafür würde ich dir sogar noch ein paar Mark zugeben."
Seine Reaktion erstaunt
und erfreut mich. Ich kann mich nicht erinnern, dass er jemals so vorbehaltlos
mit einem meiner Wünsche einverstanden war und mich sogar noch darin
unterstützt hat.
Die Woche im Ferienhort
vergeht schnell. Die Betreuung der Schulanfänger macht mir Spaß, und mit ein
paar angelernten Zaubertricks gewinne ich rasch ihre Sympathie. Am
Freitagnachmittag bekomme ich den Lohn ausgezahlt, und gegen Mitternacht mache
ich mich auf den Weg zum Hauptbahnhof. Sehr erwachsen komme ich mir vor, als
ich zu nachtschlafender Stunde die Ankunft des Zuges erwarte. Fünfzig Mark habe
ich einstecken, so viel, wie nie zuvor. Nachdem ich die Fahrkarte gekauft habe,
bleiben mir immer noch dreißig zum Vernaschen.
Der große Moment naht;
der Zug setzt sich in Bewegung.
Wenig später geben sich
Pass- und Zollkontrolleure den Griff der Abteiltür in die Hand. Ein kurzer
Blick auf mich und auf mein Passbild, ein Stempel, und schon ist das Paar neben
mir an der Reihe. Nach der schriftlichen Zustimmung meines Vaters, die ich
einstecken habe, fragt niemand.
So einfach kann ich
jetzt also über die Grenze kommen, dank meines Personalausweises.
Vor zwei Wochen erst
bekam ich ihn ausgehändigt, kurz nach meinem 14. Geburtstag.
* * *
Pünktlich rollt der Zug
in Praha-Stred ein.
Zuerst muss ich mich zum
Wenzelsplatz durchfragen; von dort aus kann ich mit einer der Straßenbahnen
fahren, die Rudolf mir aufgeschrieben hat. Sabines Eltern, die fließend
Tschechisch sprechen, haben mir geraten, mich an ältere Leute zu wenden, da
diese fast alle Deutsch verstünden. So gehe ich auf den ersten älteren Mann zu,
den ich erblicke und frage: "Entschuldigung, sprechen Sie Deutsch?"
Doch er antwortet mir mürrisch: "Ne rozumim."
Ich versuche es noch
einmal bei einer älteren Frau. Die gleiche Reaktion.
Na, macht nichts. Ich kann
ja etwas Tschechisch aus dem Ferienlager und habe letzten Herbst zwei Monate
lang an einem Volkshochschulkurs teilgenommen. "Prominte, gde je Vaclavske
Namesti?"
Etwas verdutzt vernehme
ich die Antwort des jungen Mannes, den ich mit diesen Worten angesprochen
habe: "Du bist doch bestimmt Deutscher, du kannst ruhig Deutsch
reden."
Ich besteige die
Straßenbahn, die er mir anweist. Als ich an der Wohnungstür in der Sokolovska
klingle und Ruda mir öffnet, ist seine Mutter gerade dabei, den Frühstückstisch
zu decken.
* * *
Dass wir uns nur mit
Mühe verständigen können, tut unserer guten Stimmung keinen Abbruch. Für Rudolf
ist mein Besuch bei ihm ein genauso großes Erlebnis wie für mich.
Er und sein jüngerer
Bruder brechen in Lachen aus, als ich eins der schmalen Hörnchen der Länge nach
aufschneide, um die Butter in die Mitte zu schmieren. So bin ich es von den
Brötchen zu Hause gewohnt. Sie zeigen mir, wie sie es machen: einfach das
Hörnchen umdrehen und die Butter auf den abgeplatteten Boden schmieren.
Gleich nach dem
Frühstück verschwindet Rudas Bruder und kommt wenig später mit dem Großvater
zurück, der gut Deutsch spricht. Zu dritt brechen wir auf zu einer Besichtigung
der Altstadt.
Zum zweiten Mal schon
kann ich den tiefen historischen Eindruck des Altstädter Ringes in mich
aufsaugen. Ein halbes Jahr zuvor war ich mit der deutschen Gruppe des
Ferienlagers schon einmal für wenige Stunden in Prag.
Später besichtigen wir
das Verkehrsmuseum und - auf meinen besonderen Wunsch - den Flughafen. Bald,
sehr bald schon werde ich selbst fliegen. Seit dem Herbst bin ich Mitglied in
einem Segelflug-Klub. Der theoretische Vorbereitungslehrgang nähert sich dem
Ende und meine Pflichtstunden in der Werkstatt habe ich auch schon absolviert.
In ein, zwei Monaten - je nach Wetterlage - wird es soweit sein.
Ach, könnte ich Rudolf
doch etwas von meiner Passion verständlich machen!
Aber mit einem Großvater
als Dolmetscher ist das nicht so einfach.
* * *
Ostern 1973 ist es
endlich soweit. Ich bekomme meinen Einweisungsflug. Steil steigt der polnische
"Bocian" an der Seilwinde gen Himmel. Da bin ich!
Vierhundert Meter über
der Erde.
Der Fluglehrer, der die
Maschine steuert, sitzt hinter mir. Was er gerade tut, sehe ich an den
Bewegungen meines Steuerknüppels, der mit seinem gekoppelt ist.
Ich habe Glück, denn wir
erwischen Aufwind. So schwebe ich wenig später in fast tausend Meter Höhe.
Es fällt mir schwer zu
glauben, dass wir über siebzig Kilometer pro Stunde fliegen; so sanft und
gemächlich gleiten wir über die Landschaft. Doch der Fluglehrer überzeugt mich
mit handfesten Argumenten: "Schau mal, der Trabbi da unten auf der
Autobahn fährt bestimmt achtzig Sachen. Den hängen wir doch glatt ab." Er drückt
etwas gegen den Steuerknüppel, die Flugzeugnase senkt sich ein wenig und bald
zeigt die Nadel 120 km/h
an. Der Trabant verschwindet unter der Tragfläche.
Wegen der großen Höhe,
die wir jetzt haben, beschließt der Lehrer, mich gleich in den Kunstflug
einzuführen. Leicht zieht er am Knüppel, die Nase hebt sich. Der Zeiger für die
Geschwindigkeit neigt sich nach links. Als er die 55 erreicht hat, sehe ich vor
mir Knüppel und Pedale ganz nach rechts einschlagen. Das Flugzeug neigt sich
zur Seite, die Nase stürzt gen Boden. Vor mir, unter mir dreht sich Dresden
dreimal um sich selbst.
Nur schade, dass wir so
viel Höhe dabei verloren haben. Schon sind die einzelnen Äste der Bäume zu
erkennen. Wir vollführen zwei Viertelschwenks nach rechts, vor der Kanzel
taucht die Wiese neben der Rollbahn des Flughafens auf und kommt näher.
Einsetzendes Rumpeln verkündet mir, dass die Erde mich wieder hat.
* * *
Ein halbes Dutzend
Jungen und Mädchen, die ich schon vom Einführungskurs kenne, erhalten an diesen
drei ersten Flugtagen des Jahres ebenfalls ihren Einweisungsflug. Auch die
Alten, die schon seit mindestens einem Jahr dabei sind, drängt es nach der
langen Winterpause wieder in die "Buden". So warte ich an diesem
Wochenende vergeblich auf einen zweiten Start.
Doch am darauf folgenden
Sonnabend ist es wieder soweit. Jetzt darf ich schon selbst Hand an die
Steuerung legen und lerne, das Flugzeug im Geradeausflug auf Kurs zu halten.
Kein Samstag, kein
Sonntag vergeht mehr in diesem Frühjahr, ohne dass ich wenigstens ein Mal die
Erde für kurze Zeit verlassen hätte. Wenn in Klotzsche nicht geflogen werden
kann, weil die Armee wieder einmal ihr Besitzrecht am Flughafen geltend macht,
fahre ich hinunter ans Elbufer. Beim dortigen Klub mache ich mich am Boden
nützlich, bis auch für mich ein Start abfällt. Mein Traum ist Wirklichkeit
geworden: Ich selbst steuere das Flugzeug, zu dem Omi gerade von ihrem Balkon
aus aufschaut.
Als die Sommerferien
näher rücken, habe ich gelernt, wie man Kurven fliegt und wie Start und Landung
ausgesteuert werden. Den gesamten Flug kann ich inzwischen allein ausführen,
wenn auch noch in Begleitung eines Fluglehrers. Ich freue mich auf den
zweiwöchigen Ferienlehrgang. Dann werde ich aller Voraussicht nach die
Grundausbildung abschließen können und die Voraussetzungen für den ersten
Alleinflug erfüllen.
Doch da durchkreuzt Frau
Hausdorf, meine Klassenlehrerin, auf unangenehme Weise meine Pläne.
* * *
Im Grunde kann ich es
ihr nicht einmal übel nehmen; sie hat ja recht: Ich vernachlässige zugunsten
des Segelfliegens meine schulischen Pflichten.
Aber was soll ich tun?
Es macht mir einfach alles keinen Spaß mehr.
Die 82. Oberschule
Dresden, in die ich seit einem Jahr gehe, ist genauso ein alter Bau wie jener
in Weinböhla; nur ist die Atmosphäre hier vielleicht nicht ganz so provinziell.
In der Klasse bin ich ein krasser Außenseiter, nicht nur wegen meiner
Leidenschaft für das Segelfliegen, sondern auch wegen meiner Kleidung. Obwohl
Vati überdurchschnittlich verdient, lässt er mich in Opis abgetragenen und
gänzlich unmodernen Hemden und Hosen herumlaufen, die mir viel zu weit sind.
Das ist mir äußerst peinlich, weil ich mich dadurch ständig dem Spott meiner
Klassenkameraden ausgesetzt sehe.
Durch die Erfahrungen
der letzten Jahre hat mein Interesse für die Schule stark nachgelassen. Kaum
etwas von dem, was ich dort vorgesetzt bekomme, spricht mich noch an. Dem
stumpfsinnigen Pauken von Fakten, Formeln und Dateien kann ich keine
interessanten Seiten abgewinnen. Vor allem aber fange ich an zu begreifen, dass
so manches von dem, was uns eingetrichtert wird, die reine Unwahrheit ist.
Die ursprüngliche
Begeisterung für meine erste Fremdsprache Russisch ist einer Ablehnungshaltung
gewichen. Mittlerweile weiß ich, in welchem Verruf diese Sprache nicht nur
hier, sondern vor allem auch in der Tschechoslowakei steht. Die Eins in diesem
Fach nach der 5. und 6. Klasse hat sich zwei Jahre später in eine Vier
verwandelt.
Doch nicht nur in
Russisch habe ich nachgelassen. Seit einigen Jahren schon hat sich mein
Zensurendurchschnitt mit jedem Halbjahreszeugnis weiter verschlechtert. Mit
Staatsbürgerkunde kann ich überhaupt nichts anfangen; die seit Anfang des 8.
Schuljahres an einem Nachmittag im Monat stattfindenden Pflichtveranstaltungen
der "politischen Bildung" habe ich als Einziger in der Klasse noch
nicht ein Mal besucht.
Deshalb setzt sich Frau
Hausdorf im Juni 1973 mit der "Gesellschaft für Sport und Technik" in
Verbindung, der auch die Segelflugverbände unterstehen. Kurz vor Beginn der
Sommerferien werde ich zu einer "Aussprache" geladen, an der neben
meiner Lehrerin zwei Vorstandsmitglieder des Verbandes teilnehmen. Eine Chance
mich zu verteidigen oder Besserung zu geloben bekomme ich nicht. Es geht nur
darum, mir die bereits feststehende Entscheidung mitzuteilen: Während der
kommenden drei Monate darf ich kein Flugzeug mehr besteigen.
So ein Mist! Den
Sommerlehrgang kann ich vergessen.
* * *
Die letzte Woche des
Schuljahres verbringt unsere Klasse in der Tschechoslowakei. Es ist eine Art
Abschlussfahrt, denn zwei Mitschüler werden uns verlassen. Frank, um Fleischer
zu werden, Christel, um auf die Erweiterte Oberschule zu gehen.
Einige Eltern, die ein
Auto besitzen, bringen uns hinauf zum Grenzübergang Zinnwald. Dort steigen wir
in den bereitstehenden tschechischen Bus. Erstes Ziel der Reise ist
Theresienstadt.
Zwei Stunden lang
besichtigen wir dort das ehemalige Konzentrationslager, von dem wir in der
Schule gehört haben. Doch das Wetter ist zu schön, unsere Laune zu gut.
Niemandem von uns wird das Grauenhafte dieses Ortes wirklich bewusst.
Weiter geht es nach
Prag. Am frühen Nachmittag beziehen wir die reservierten Bungalows auf dem
Campingplatz am Moldauufer in Branik.
Was herrscht hier doch
für eine internationale Atmosphäre!
Holländer sind da,
Ungarn, Franzosen ... Nie gesehene Autos und Motorräder stehen herum; Menschen
sprechen nie gehörte Sprachen. Meine Unternehmungslust ist geweckt. Zuerst will
ich Rudolf besuchen, der noch gar nicht weiß, dass ich in der Stadt bin.
Die Gelegenheit ist
günstig, denn für den Rest des Tages gibt es kein Programm. Ich schleiche mich
also davon und besteige die Straßenbahn.
* * *
Als ich zurückkomme,
überschüttet mich Frau Hausdorf mit Vorwürfen. Sie hätte sich solche Sorgen
gemacht, denn schließlich sei sie ja für mich verantwortlich. Ich kann ihre
Ängstlichkeit gar nicht verstehen; ich finde mich hier doch prima zurecht!
Als wir am nächsten Tag
den Hradschin, die Burg, besichtigen, hat sie auf mich ein wachsames Auge. Doch
schon einen Tag später hält mich nichts mehr auf dem Campingplatz. Ich habe
nämlich herausgefunden, dass es in Tocna, am Rande von Prag, einen
Segelflugplatz gibt.
Mit dem Bus fahre ich
hinaus. In gebrochenem Englisch, das ich seit zwei Jahren freiwillig lerne,
unterhalte ich mich mit einigen Fliegern. Erzähle, dass ich in Dresden gerade
die Grundausbildung absolviere.
Nachdem ich dem
Flugbetrieb eine Weile zugeschaut habe, weist plötzlich ein älterer Pilot auf
den Rücksitz eines bereitstehenden Flugzeuges.
Mit einem Fallschirm in
der Hand kommt er auf mich zu.
Zwei Minuten später
steige ich zusammen mit einem Fluglehrer in den Himmel über Prag auf.
* * *
Ein böser Blick meiner
Lehrerin trifft mich, als ich auf den Zeltplatz zurückkomme. Doch diesmal
unterlässt sie es, mir Vorwürfe zu machen.
Sie hat wohl eingesehen,
dass es sinnlos ist.
Die Jungs, mit denen ich
den Bungalow teile, registrieren meinen Bericht von dem Segelflug über Prag mit
ungläubiger Verwunderung. Keiner von ihnen würde es wagen, sich aus dem
Blickfeld der Klasse zu entfernen, in dieser Stadt ganz auf sich allein
gestellt etwas zu unternehmen. Ich erzähle aus einer anderen, für sie
unerreichbaren Welt.
Dadurch empfinde ich
mich in der Klasse leider mehr denn je als Außenseiter.
Selbst auf dem
Campingplatz halte ich mich meist abseits von meinen Mitschülern und suche
lieber Kontakt zu Gästen aus anderen Ländern. Besonders fasziniert bin ich von
einem zehnjährigen niederländischen Jungen, der perfekt Deutsch spricht und mir
manches Interessante über seine Heimat erzählt.
Vor Jahren lag auf
meinem Weihnachtsteller eine Tafel Schokolade, die wohl mein Großonkel aus dem
Ruhrgebiet geschickt hatte. Darauf war eine alte holländische Landschaft
abgebildet, mit Segelschiffen und einer Windmühle. Schon damals begann dieses
Land einen geheimnisvollen Reiz auf mich auszuüben.
Durch die kurze
Bekanntschaft mit dem Jungen verstärkt er sich noch.
* * *
Die Burg Karlstein bei
Beroun und eine Tropfsteinhöhle südlich von Prag zählen zu den Zielen, die
unsere Klasse in den darauf folgenden Tagen ansteuert. Wir bummeln über den
Wenzelsplatz, durch die Prager Altstadt, gehen im "U Fleku" essen und
tummeln uns in einem Freiluftbad mit Sauna. Zweimal noch setze ich mich von den
anderen ab, um meinen tschechischen Freund zu besuchen.
Die Woche vergeht
schnell, und der Tag der Heimreise rückt heran. Diesmal nehmen wir den Zug.
Der kommt aus Rumänien
und trifft mit zwei Stunden Verspätung ein. Mich stört das nicht, denn es
verlängert ja nur unsere Reise. Selbst hier auf dem Bahnhof gibt es schließlich
eine Menge Neues zu entdecken. Den leckeren Orangensaft zum Beispiel, der am
Kiosk verkauft wird. Oder die mehrsprachigen Aufschriften, mit deren Hilfe ich
mir die tschechische und die englische Sprache weiter erschließe.
Dann rollt der Zug,
verlässt die Stadt, begleitet die Moldau auf ihren letzten Kilometern. Nach
einer halben Stunde entschwindet sie dem Blick und hinter Melnik ist es die
Elbe, an deren Ufer wir nun stromabwärts rollen. Zum ersten Mal fahre ich diese
Strecke bei Tage, und ich bin beeindruckt von ihrer romantischen Schönheit.
Eine alte Burg auf einem vorspringenden Felsen bei Usti tut es mir besonders
an.
Bald beginnt die
Böhmische Schweiz, die sich nach wenigen Kilometern übergangslos in die
Sächsische Schweiz verwandeln wird. Doch bevor wir diese erreichen, hält der
Zug und bleibt lange, lange stehen. Vom Schaffner erfahren wir schließlich,
dass die Lokomotive kaputt ist und ausgewechselt werden muss.
Mit fünf Stunden
Verspätung treffen wir in Dresden ein.
* * *
Das Ferienlager in
Lubmin bietet mir nicht viel Neues. Schon zum dritten Mal bin ich jetzt hier,
und es ist doch nur jedes Mal das Gleiche. Je ein obligatorischer Tagesausflug
nach Greifswald und Wolgast, ein Fußballturnier, zwei Tanzabende. Ansonsten
liegen wir die meiste Zeit am Ostseestrand. Wenn das Wetter nicht mitspielt,
ist Tischtennis die einzige Alternative.
Einzig interessant sind
für mich einige der tschechischen Mädchen, die in diesem Jahr zum ersten Mal
hier sind. Doch meine Annäherungsversuche haben leider wenig Erfolg.
Nur einmal gelingt es
mir, für kurze Zeit die Aufmerksamkeit einer blonden Schönen zu fesseln und die
Distanz zwischen uns vorübergehend zu verkleinern.
Als ich ihr in
gebrochenem Tschechisch erkläre, dass der Staatsratsvorsitzende Walter Ulbricht
mitten in die gerade in Ostberlin stattfindenden 10. Weltfestspiele hinein
gestorben ist.
Diese Meldung kam soeben
im Radio.
* * *
In der zweiten
Augusthälfte überrascht mich Vati mit der Idee, für ein Wochenende nach Polen
zu fahren. An einem Freitagmittag steigen wir auf den "Tatran",
seinen alten Motorroller. Bis Bautzen benutzen wir die löcherige Autobahn,
danach die Landstraße.
Die Grenzüberschreitung
nach Polen ist noch unkomplizierter als in die CSSR. Nicht einmal einen Stempel
bekommen wir in den Ausweis. Zügig durchqueren wir Görlitz, das am anderen
Neißeufer Zgorzelec heißt. Fast für uns allein haben wir auf ihren letzten
hundert Kilometern die alte Autobahn von Berlin ins ehemals deutsche Breslau,
das wir in der Schule nur als Wroclaw kennen gelernt haben.
Wir übernachten in einer
Bungalowsiedlung am Stadtrand. Am Samstagvormittag bummeln wir durch eine
Einkaufsstraße und über den historischen Marktplatz.
Gegen Mittag brechen wir
ins Riesengebirge auf. In Karpacz mieten wir für eine Nacht ein Zimmer in einer
Privatpension. Der Inhaber lächelt freudig erstaunt, als ich ihn mit
"Dzien dobry" begrüße, meinen ersten Wörtern auf Polnisch.
Am Sonntagmorgen fahren
wir hinauf zur Talstation des Sessellifts. Der Andrang ist groß; es dauert eine
ganze Weile, bis wir endlich an die Reihe kommen und schaukelnd aufwärts
schweben.
Allmählich ändert sich
die Flora, die Bäume werden immer niedriger. Bei der oberen Station stehen nur
noch Krüppelkiefern von kaum zwei Metern Höhe. Von hier aus ist es noch etwa
eine Stunde Fußweg bis zum Gipfel der wolkenverhüllten Schneekoppe, über den
die Grenze zur CSSR verläuft.
Oben angekommen müssen
wir entdecken, dass es nur auf der tschechischen Seite ein kleines Restaurant
gibt. Dafür haben wir leider nicht das richtige Geld, und das Personal lässt
nicht mit sich reden.
Ohne Stärkung und
wärmendes Getränk machen wir uns also wieder an den Abstieg von der kahlen,
fast vegetationslosen Kuppe.
Uns bleibt noch Zeit,
eine altnorwegische Holzkirche zu besichtigen, die irgendjemand vor wohl
zweihundert Jahren hier errichten ließ. Dann wird es Zeit für die Heimreise,
denn Vati muss am nächsten Morgen wieder zur Arbeit.
Kurz vor der Grenze
machen wir bei einem Wirtshaus halt, um unsere restlichen Zloty auszugeben. In
der Gaststube sitzen ausschließlich ältere Männer. Auch sie honorieren meine
Begrüßung auf Polnisch mit einem sehr freundlichen Lächeln.
Mehr und mehr zerrinnt
meine Befürchtung, die Polen könnten uns als Deutschen pauschal mit Antipathie
begegnen. Nach dem, was ich in der Schule über den Krieg und über das Polen von
Deutschen zugefügte Leid erfahren habe, hatte ich wohl damit gerechnet.
Auch Vati ist von der
einfachen, freundlichen Art der Menschen angetan. "Ich fühle mich hier
wohler als in der Tschechoslowakei", sagt er. "Als ich vor einem Jahr
in Prag war, waren die Leute dort anfangs auch freundlich, aber meist nur so
lange, bis sie erfahren haben, aus welchem Teil Deutschlands ich komme. Da
wussten sie, dass an mir nicht viel zu verdienen war."
* * *
Viel zu langsam vergeht
der September.
Die Tatsache, dass ich
noch immer nicht wieder fliegen darf, motiviert mich keineswegs zu größeren
Anstrengungen in der Schule; eher ist das Gegenteil der Fall. Ich verspüre
zunehmende Frustration.
Doch dann ist es endlich
soweit. Am ersten Samstag im Oktober kann ich meine Sorgen wieder für einige
Minuten am Boden zurücklassen. Vier Wochenenden bleiben mir noch bis zum Ende
der Saison. In dieser Zeit hole ich das versäumte Übungsprogramm rasch auf.
Am letzten
Oktobersonntag haben wir ein Schleppflugzeug zur Verfügung. Das kann uns auf
über tausend Meter Höhe bringen - im Gegensatz zur Winde, die es nur auf etwa
vierhundert Meter schafft. So kann ich an diesem Tag die Gefahreneinweisung
absolvieren, den letzten Programmpunkt vor dem Alleinflug.
Wieder trudelt das
Flugzeug, schraubt sich der Erde entgegen. Doch diesmal bin ich es, der dies
herbeigeführt hat, und ich fange die "Bude" auch selbst wieder ab.
Trudeln ist nicht nur
eine Kunstflugfigur, sondern auch eine Gefahr bei zu langsamem Fliegen. Deshalb
muss jeder Pilot diesen Zustand im Griff haben, bevor er zum ersten Mal allein
ein Flugzeug besteigen darf.
Doch dazu kommt es für
mich nicht mehr. Schon zieht der November eiskalt heran.
Die Saison ist zu Ende.
* * *
Im Februar 1974 fährt
unsere Klasse noch einmal für einen Tag in die CSSR. Diesmal benutzen wir den
Linienbus nach Zinnwald und wandern vom Grenzübergang aus einige Stunden durch
das verschneite Erzgebirge. Bevor wir wieder zum Bus gehen, kaufen die meisten
von uns in einem Laden an der Grenze noch einige Flaschen des begehrten
tschechischen Biers und andere Kleinigkeiten. Ich bin der Letzte in der
Schlange.
Als ich mit voller
Einkaufstasche auf die Straße trete, ist von meiner Klasse niemand mehr zu
sehen. So gehe ich allein über die Grenze, laufe zu den Bushaltestellen. Doch
dort herrscht gähnende Leere. Vor zwei Minuten ist ein Bus nach Dresden
abgefahren, entnehme ich dem Fahrplan.
Sollten sie ohne mich
gefahren sein? Ich kann es mir nur schwer vorstellen.
* * *
Der DDR-Posten am
Grenzübergang kann sich nicht recht an eine Schulklasse erinnern. Zu viele
Leute würden hier hin und her gehen. Doch der tschechische Posten weiß es
genau: Meine Klasse ist vor fünf Minuten zurück in die DDR gegangen.
Für einen Moment
überfällt mich Hilflosigkeit.
Da stehe ich nun mit
meinen gerade fünfzehn Jahren mitten im verschneiten Gebirge, eine Autostunde
von zu Hause entfernt. Schon bricht die Nacht herein und ich habe nicht mehr
genug Geld, um den Bus zu bezahlen.
Mein erster Gedanke ist:
zum Abschnittsbevollmächtigten gehen. "Die Volkspolizei - dein Freund und
Helfer" - hallt es mir noch aus der Schule in den Ohren.
Doch als ich dann vor
dessen Büro neben dem Grenzübergang stehe, besinne ich mich eines Besseren.
Immerhin waren meine wenigen bisherigen Erfahrungen mit der VP nicht besonders
angenehm. Wer weiß, was für ein Lokalpotentat mich da drin erwartet.
Ich mache also kehrt,
überquere die Straße und strecke die Hand heraus.
Soeben rollen drei Autos
am letzten Kontrollposten vorbei auf mich zu. Die Fahrer der ersten beiden
treten aufs Gas, doch der Dritte hält an. Es ist ein Jugoslawe, der nach Meißen
will. Dann muss er ja auf jeden Fall über Dresden fahren.
Die Verständigung
zwischen uns klappt erstaunlich gut, da seine Muttersprache, wie ich
feststelle, dem Tschechischen sehr ähnlich ist.
Noch vor Dippoldiswalde
überholen wir den Linienbus, in dem meine Klassenkameraden sitzen.
Zu schade, dass mich
keiner von ihnen bemerkt hat.
Als wir durch Dresden
rollen und meinem ortsunkundigen Fahrer nichts anderes übrig bleibt als meine
Anweisungen zu befolgen, fragt er misstrauisch, ob ich mich nicht von ihm nach
Hause chauffieren lasse. Doch das liegt mir fern. Ich will ihn ja bloß zum
Elbufer dirigieren. Dort braucht er dann nur noch stromabwärts zu fahren, um
nach Meißen zu kommen.
Bevor ich aussteige,
schenke ich ihm aus Dankbarkeit meine drei Flaschen Bier. Nun restlos von
meiner Aufrichtigkeit überzeugt, revanchiert er sich mit einer Schachtel
jugoslawischer Zigaretten. Mit einem freundschaftlichen Händedruck
verabschieden wir uns.
Nachdem ich zu Hause
angekommen bin, vergeht noch mehr als eine halbe Stunde, ehe auch Sabine, meine
Klassenkameradin und Nachbarin eintrifft.
Frau Hausdorf, erfahre
ich, habe in Zinnwald kurz und bündig entschieden: "Wenn er allein nach
Prag fahren kann, kommt er auch allein nach Hause."
Ich empfinde doppelten
Triumph. Einmal darüber, dass es mir gelungen ist, meine Lehrerin von meiner
Selbstständigkeit zu überzeugen. Zum anderen ist mir, als hätte ich gerade eine
Reifeprüfung für das Leben bestanden.
* * *
Am letzten Samstag im
Februar fahre ich hinaus zur Flugzeugwerft, wo sich die Werkstatt unserer
Segelflugzeuge befindet. Dort will ich meine restlichen Baustunden ableisten,
die Bedingung für die nächste Starterlaubnis sind.
In der Halle ist der
Rumpf eines einsitzigen "Pirat" aufgebockt. Zusammen mit zwei
vierzehnjährigen Neulingen soll ich beschädigte Stellen an der Verkleidung
abschmirgeln. Die beiden sind genauso neugierig wie ich es am Anfang war.
Bereitwillig erkläre ich ihnen die Funktionen der Instrumente.
Um zu zeigen, wie im
Flug die Geschwindigkeit gemessen wird, blase ich in die Venturi-Düse am Bug,
gegen die normalerweise der Fahrtwind andringt.
Leider habe ich dessen
Macht schwer unterschätzt. Der Zeiger auf dem Instrumentenpult hat sich zweimal
um seine Achse gedreht und weist auf über vierhundert Stundenkilometer. Eine
solche Geschwindigkeit ist mit diesem Flugzeug in der Praxis unmöglich; es
würde vorher auseinander brechen.
Für mich vergeht eine
Schrecksekunde, ehe sich die Nadel wieder nach links zu neigen beginnt. Träge
vollführt sie anderthalb Umdrehungen und bleibt auf 85 km/h stehen. Kein
Schütteln, kein Klopfen, kein nochmaliges Blasen kann sie dazu bewegen, sich
auf die Null-Marke zurück zu drehen. Der Fahrtmesser ist hinüber.
Wenige Tage später
erhalte ich die formale Mitteilung, dass ich wegen wiederholter Klagen von
Seiten der Schule sowie fahrlässiger Beschädigung eines Instruments aus dem
Segelflugverband ausgeschlossen wurde.
*
*
* * *
* *
Ich bin enttäuscht von
Vati.
In den knapp zwei
Jahren, die wir nun in Klotzsche wohnen, hat er bei mir schwer an Ansehen
eingebüßt.
Als wir damals weggingen
aus Weinböhla, empfand ich für ihn noch Stolz, hatte das, was er mir sagte,
noch den Wert einer absoluten Wahrheit.
Inzwischen sehe ich in
ihm fast nur noch einen kleinkarierten, kurzsichtigen Spießer.
Morgens geht er aus dem
Haus, bevor ich aufstehe; abends kommt er gegen zehn, oft noch später zurück.
So vergehen manchmal mehrere Tage, ehe ich ihn wieder zu Gesicht bekomme.
Das Einzige, was ihn
interessiert, sind seine Arbeit und sein Studium. Ich, sein Sohn, bin ihm
völlig gleichgültig.
Nachdem wir hier
eingezogen waren, hat er mir noch beim Einrichten meines Zimmers geholfen.
Zusammen sind wir zum Einkauf in die Stadt gefahren, und ich konnte mir einen
Fußbodenbelag und ein Bett aussuchen. Damit war die Sache für ihn erledigt.
Danach hat ihn an mir
eigentlich nur noch interessiert, dass meine Haare ja keinen Zentimeter zu lang
sind und dass ich nicht rauche. Aber gerade damit kann er sich bei mir schon
seit einiger Zeit nicht mehr durchsetzen.
Ein einziges Mal ist
Vati mit mir seitdem in die "Jugendmode" gefahren, um mir eine Hose
zu kaufen. Vermutlich hatte ihn zuvor meine Lehrerin oder ein Kollege darauf
hingewiesen, wie unmöglich meine Kleidung aussieht.
Als ich am Tag darauf in
die Schule kam, wurde ich schon von weitem mit Oho-Rufen begrüßt. Eine ganz
normale zeitgemäße Hose, wie sie die anderen Jungs aus meiner Klasse täglich
trugen, erregte an mir gewaltiges Aufsehen.
Zwar hat er mich seit
seiner Scheidung von Gudrun nie mehr geschlagen. Doch ich kann inzwischen nicht
mehr daran glauben, dass er wirklich zu irgendeiner Einsicht gelangt ist und
sich neuen Erziehungsprinzipien zugewandt hat. Der Grund dafür scheint eher
darin zu liegen, dass ich inzwischen genauso groß bin wie er.
Auch seine
uneingeschränkte Zustimmung zu meiner Reise nach Prag sehe ich inzwischen in
einem ganz anderen Licht. War er nicht einfach bloß froh, sich meiner auf
bequeme Weise für ein paar Tage entledigen zu können?
Einzig von der kurzen
Reise nach Polen im letzten Sommer habe ich eine angenehme Erinnerung an ihn
zurückbehalten. Denn dort entwickelte sich zwischen uns etwas, was ich
ansonsten weder vorher noch nachher erlebt habe: ein Ansatz von
Partnerschaftlichkeit.
* * *
Solange ich noch fliegen
konnte, habe ich mir über all das kaum Gedanken gemacht.
Meine Erlebnisse in der
Luft konnten den Mangel an Zuwendung einigermaßen ausgleichen. Doch jetzt, Ende
März 1974, einen Monat nach dem totalen Flugverbot, bricht es um so stärker in
mir auf.
Er ist ja mein
leiblicher Vater. Darum wiegt die Enttäuschung über ihn schwerer als der Bruch
mit Gudrun.
Diese hatte ich zwar
lange Zeit für meine Mutter gehalten, da man es mir so beigebracht hatte und da
sie bei mir war, seit mein Erinnerungsvermögen einsetzte. Doch hatte sie sich
mir gegenüber oft so verhalten, dass ich schon mit drei oder vier Jahren zum
ersten Mal dachte: So etwas tut eine richtige Mutter nicht!
Besonders eine Szene aus
jener Zeit hat sich mir tief eingeprägt.
Wir wohnten damals noch
in Dresden. Vati arbeitete und Gudrun, die ich mit "Mutti" anredete,
war den ganzen Tag mit mir allein zu Haus.
Ich weiß nicht mehr, was
ich eigentlich getan hatte, das sie so erzürnte.
Plötzlich fand ich mich
mit dem Rücken an der Wand wieder, eingeklemmt in die Nische zwischen zwei
Küchenschränken. "Schämst du dich nicht?!" fragte sie drohend. Ihre
Gebärden sprachen eine deutliche Sprache: Mir stand eine Ladung Ohrfeigen ins
Haus. Ein Entkommen war unmöglich, denn sie versperrte in ihrer ganzen Größe
den Ausgang. Es gab nur eine Chance, den Schlägen zu entgehen: Ich musste die
richtigen Worte finden, um sie zu besänftigen. Dabei hatte ich jedoch ein
großes Problem: Ich wusste nicht, was das bedeutete - sich schämen. Es gehörte
damals einfach noch nicht zu meinem Wortschatz.
Doch ich kannte Gudrun
inzwischen gut genug, um zu wissen, dass ich mit dieser einfachen Wahrheit bei
ihr keine Chance hatte. Sie würde sie prompt zur unerhörten Frechheit erklären
und mich noch schlimmer schlagen.
So blieb mir nur die
Entscheidung zwischen einem Ja und einem Nein als mögliche Antwort auf ihre
Frage. Meine Chancen standen damit - so glaubte ich damals - eins zu eins.
Unglücklicherweise
entschied ich mich für das Nein.
* * *
Seit jener Zeit plagte
mich das unbestimmte Gefühl, dass da etwas nicht stimmte.
Im Alter von zehn Jahren
habe ich dann erfahren, was es war:
Im Schülerhort erzählte
ich eines Nachmittags von zu Hause.
Frau Hänsel, unser alte
Betreuerin, unterbrach mich plötzlich und sagte:
"Aber das ist doch
gar nicht deine Mutter!"
Ich war verdutzt.
"Doch ... !?" brachte ich zögernd hervor.
"So?" erwiderte
sie. "Und ich dachte immer, das wäre gar nicht deine Mutter."
Am nächsten
Sonntagmorgen erzählte ich diese Begebenheit am Frühstückstisch. Vati blickte
daraufhin vielsagend zu Mutti, wurde geradezu feierlich und sagte:
"Na, du hättest es
ja doch irgendwann erfahren."
Nach einer Pause fuhr er
fort: "Deine Mutter und ich, wir sind geschieden worden, als du anderthalb
Jahre alt warst. Ein paar Monate später habe ich dann Gudrun kennen gelernt und
wir haben bald darauf geheiratet."
Ja, aber wer war dann
meine Mutter? Wo lebte sie jetzt?
Über sie erzählte mir
Vati lediglich, dass sie mich schlecht behandelt und vernachlässigt habe.
Mein Vertrauen zu ihm
war noch ungebrochen und ich glaubte ihm bedingungslos. Seine Schilderung
erstickte in mir für viele Jahre den Wunsch, meine Mutter kennen zu lernen.
* * *
In der Woche darauf
geschah im Schulhort etwas, das mich für Wochen völlig verwirrte. Frau Hänsel
fuhr mich plötzlich giftig an: "Wie kannst du zu Hause erzählen, ich hätte
gesagt, das wäre nicht deine Mutter! Das habe ich überhaupt nicht gesagt!"
Ich verstand die Welt
nicht mehr. Sollte ich ihre Worte vielleicht nur geträumt haben?
Aber das war ja am Ende
gar nicht so wichtig. Daran, dass es jetzt heraus war, dass ich es wusste,
konnte es doch nichts mehr ändern.
* * *
"Du bist überhaupt
nicht meine Mutter, du hast mir gar nichts zu sagen! Ich brauche mir von dir
überhaupt nichts gefallen zu lassen!"
Diese Worte wagte ich
niemals offen auszusprechen. Doch Gudrun spürte schon bald, wie ich ihr
gegenüber jetzt empfand. Immer entschlossener setzte ich mich zur Wehr, wenn
sie mich wieder einmal mit dem Teppichklopfer verprügeln wollte oder mir einen
Schuh an den Kopf warf.
In dieser Zeit erwachte
in mir der Wunsch nach einem Leben nur mit Vati allein.
Zwar hatte ich auch von
ihm während meiner Kindheit manches auszustehen
Auch er schlug mich
regelmäßig mit dem Teppichklopfer.
Unter dem Eindruck
dieser Erfahrungen habe ich mir schon, als ich zehn war, etwas geschworen: Wenn
ich einmal groß sein werde und selbst Kinder habe, so werde ich sie NIEMALS so
brutal und lieblos behandeln, wie es meine Eltern mit mir tun.
Diesen stillen Schwur
leistete ich, während ich eines Abends in der Küche auf dem Fußboden saß. Vati
hatte gerade wieder einmal zugeschlagen.
Und doch sprach ich ihn
damals noch gänzlich frei von jeder Schuld, schob diese stattdessen Gudrun zu
und deren Oma - meiner Stief-Urgroßmutter -, die ich mit "Großmutter"
anzureden hatte.
Vor allem die Letztere
war es, die mir an den Nachmittagen das Leben schwer machte. Überall war ich
ihr nur im Wege, und ihre Spezialität waren "Kopfnüsse" - Schläge
gegen die Schläfen mit den Knöcheln der zur Faust geballten Hand. Wenn Vati und
Gudrun dann am Abend nach Hause kamen, erstattete sie umgehend Bericht über
meine "Sünden". Je länger ihr Rapport dauerte, desto zahlreicher
waren meist auch die Prügel, die ich kurz darauf einstecken musste.
So zog mich bald nichts
mehr nach Hause; ich begann, mich nach der Schule einfach in der Gegend
herumzutreiben. Immer später kam ich nach Hause und immer häufiger und heftiger
wurden die Schläge. Zwischen meinem achten und meinem elften Lebensjahr verging
fast kein Wochentag, an dem ich nicht abends verprügelt und dann meist ohne
Abendessen ins Bett geschickt wurde. Aber das war mir immer noch lieber als den
ganzen Nachmittag über der verkalkenden Großmutter ausgesetzt zu sein.
Außerdem gab mir das
Herumstromern in der Natur - in den Wäldern, auf den zahlreichen Seen und
Teichen, in den ausgedehnten Obstplantagen - einen immer wichtiger werdenden
Ausgleich zu den häuslichen Zuständen: Es weckte in mir an jedem Tage die
Lebenslust neu.
*
*
* * *
*
*
Mittwoch, 10. April
1974. Ungewöhnlich früh ertönt das Rasseln des Schlüssels in der Wohnungstür.
Es ist noch nicht einmal achtzehn Uhr. Vatis Blick verrät mir sofort, dass er
es endlich erfahren hat. Vier Mal, fünf Mal schlägt er zu, mit einer
Brutalität, wie ich sie noch nicht erlebt habe.
Als ich schließlich in
der Küche auf dem Boden liege, meint er nur kurz:
"Wenn du morgen
nicht in die Schule gehst, dann komm lieber gar nicht erst wieder nach
Hause!"
Dann verschwindet er in
seinem Zimmer, um weiter zu studieren.
Abends im Bett grüble
ich lange nach, was ich tun soll. In die Schule gehen? Nein!!! Morgen ist
Donnerstag, da haben wir wieder ESP - Einführung in die Sozialistische
Produktion - in der Berufsschule. Gerade dort hat ja vor zwei Wochen alles
angefangen. Der Lehrer hatte entdeckt, dass ich in den sieben Monaten, die das
neunte Schuljahr nun schon andauerte, kaum vier Sätze in meinen Hefter
geschrieben hatte.
"Sie werden heute
vier Stunden nachsitzen und schreiben! Und jedesmal, wenn Sie wieder hier sind,
werden Sie zwei Stunden länger dableiben als die anderen, so lange, bis Sie die
versäumten Aufzeichnungen nachgeholt haben!"
In der großen Pause ließ
ich mir von einem Klassenkameraden meine Schultasche zum Fenster herausreichen
und verschwand. Am nächsten Tag kam ich nicht wieder in die Schule, auch nicht
am übernächsten, noch in der Woche darauf. Denn was hatte das alles schließlich
für einen Sinn. Sie wollen ja doch nur irgendeine stumpfsinnige Marionette aus
mir machen. Doch dafür bin ich mir zu schade.
Das Schlimmste aber ist,
dass mein eigener Vater das alles voll mitmacht. Und nicht nur das. Er sieht
nicht im geringsten, dass ich eine eigenständige Persönlichkeit bin, mit eigenen
Gefühlen, Vorstellungen, Ansichten. Immer mehr habe ich den Eindruck, dass der
ganze Zweck seiner "Erziehung" darauf gerichtet ist, aus mir eine Art
hirnlose Pappschablone von sich selbst zu machen. Doch je mehr ich dies
begreife, desto größer wird auch mein innerer Widerstand dagegen. Immer öfter
höre ich mich in letzter Zeit zu mir selbst sagen: "SO nicht!!!"
Deshalb kann ich an
diesem Mittwochabend auch erst einschlafen, nachdem ich einen unumstößlichen
Entschluss gefasst habe:
"Dann komme ich
eben nicht wieder nach Hause!!!"
* * *
Am nächsten Morgen -
Vati ist längst auf Arbeit - packe ich ein paar Kleidungsstücke und alles
Essbare, das ich im Küchenschrank finde, in meinen Rucksack und mache mich auf
den Weg zur Bushaltestelle. In meinem Portmonee habe ich gerade drei Mark
fünfzig. Neunzig Pfennig davon gehen für die Fahrkarte nach Ottendorf-Okrilla
drauf. Dort führt die Autobahn nach Bautzen vorbei.
Als ich an der Auffahrt
stehe und die wenigen vorbeifahrenden Autos anwinke, beschleicht mich ein
ungutes Gefühl. Jeden Moment kann hier ein grün-weißer Lada der Volkspolizei um
die Ecke biegen und meine Flucht zu Ende sein, noch ehe sie richtig begonnen
hat. Deshalb beschließe ich, mich neben der Autobahn durch den Wald zu
schlagen, bis ich an einen Parkplatz komme.
Der Anblick der
dahinrasenden Autos entfacht in mir eine Sehnsucht nach der großen weiten Welt.
Auffällig viele Westdeutsche sind hier unterwegs. Aber das ist ja auch nicht
verwunderlich. Es ist Gründonnerstag.
Ich habe Glück und
erreiche schon nach zwei Kilometern einen kleinen Parkplatz. Gerade hat sich
hier eine westdeutsche Familie zum Frühstücken niedergelassen.
Sie wollen zu Verwandten
nach Ostritz, einem Dorf an der polnischen Grenze, und sind gleich bereit, mich
bis dorthin mitzunehmen. Auf ihre Frage, wo ich hin will, erkläre ich, dass ich
einen Onkel in Breslau besuchen möchte.
Leider gibt es in
Ostritz keinen Grenzübergang; der nächste ist zwanzig Kilometer weiter
nördlich, in Görlitz. Ich überlege, ob ich mich nicht einfach quer durch die
Felder ins Nachbarland durchschlagen soll, doch dann fällt mir ein, dass hier
ja die Neiße die Grenze bildet. Also stelle ich mich wieder winkend an die
Straße und werde wenig später von einem jungen Motorradfahrer mitgenommen.
In Görlitz habe ich es
nicht schwer, den Grenzübergang zu finden, denn eine endlose Schlange
bundesdeutscher PKWs weist mir den Weg. Leider sind fast alle Fahrzeuge restlos
belegt. Die Plätze, auf denen niemand sitzt, liegen voller Gepäckstücke. Nur
ein allein reisender älterer Herr aus dem Ruhrgebiet hat noch Platz auf dem
Beifahrersitz. Als ich ihn frage, ob er mich mitnehmen würde, sagt er mir
sofort ins Gesicht: "Na, mit dir stimmt doch was nicht. Du bist bestimmt
von zu Hause abgehauen." Doch fügt er sogleich versöhnlich hinzu:
"Geh erst mal rüber. Wenn ich durch die Kontrolle bin und du stehst noch
da, nehme ich dich mit."
Also mache ich mich auf
den Weg ans andere Neiße-Ufer. Wieder überquere ich die Grenze ohne Probleme.
Der DDR-Grenzbeamte schöpft nicht den geringsten Verdacht; ohne zu zögern
reicht er meinen Personalausweis an seinen polnischen Kollegen weiter.
Vier Stunden lang bemühe
ich mich mit halber Kraft um eine andere Mitfahrgelegenheit. Dann erscheint auf
der Brücke der grüne Ford Taunus mit dem Wuppertaler Kennzeichen. Als wir wenig
später über die verwaiste Autobahn in Richtung Wroclaw rasen, zeigt das
Tachometer auf 180 - eine für mich bislang unbekannte Geschwindigkeit.
Obwohl er inzwischen
restlos überzeugt ist, dass ich von zu Hause ausgerissen bin, macht der Mann
mir keine Vorwürfe, sondern bewirtet mich mit Orangen und Schokolade.
"Falls du mal in Schwierigkeiten kommst", sagt er schließlich
"geh zu einem Pastor. Der hilft dir bestimmt."
Eigentlich wollte er
mich höchstens bis Wroclaw mitnehmen. Doch aus irgendeinem Grund fährt er am
dortigen Parkplatz vorbei und hält erst sechzig Kilometer weiter in einem Dorf.
Mir ist das sehr recht, denn ich möchte ja nur eins: möglichst weit weg von zu
Hause. Außerdem beginnt hier, hinter Wroclaw, für mich der Reiz des bisher
Unbekannten.
Bevor ich aussteige,
drückt mir der Mann aus Wuppertal noch 85 Zloty in die Hand - nach offiziellem
Kurs fat 20 DDR-Mark. Inzwischen ist die Dunkelheit hereingebrochen und ich
sehe mich nach einer Möglichkeit zum Übernachten um. Doch hier in dem kleinen
Dorf sieht es damit schlecht aus. Also stelle ich mich wieder an die
Hauptstraße und halte die Hand heraus. Zehn Kilometer weiter liegt die
Stadt Brzeg; die möchte ich
zumindest noch erreichen. Gleich
darauf hält vor meiner Nase ein Bus. Er
sammelt Arbeiter auf, um sie zur Nachtschicht in eine entferntere Fabrik zu
bringen. Scheinbar hat mich der Fahrer für einen seiner Kollegen gehalten.
Dennoch nimmt er mich freundlich auf, und auch das halbe Dutzend Männer in den
vorderen Sitzreihen scheint mir Sympathie und Interesse entgegen zu bringen.
Als Brzeg schon in Sicht ist, biegt der Bus von der Hauptstraße ab. Nun stehe
ich auf freiem Feld, ein kalter Wind pfeift mir um die Ohren.
Einige Minuten später
sitze ich zum dritten Mal an diesem Tage in einem Auto mit westdeutschem
Kennzeichen. Der Fahrer ist mit seinem kleinen Sohn unterwegs nach Rybnik,
einer Stadt südlich des oberschlesischen Kohlenreviers. Dort endet für mich
kurz vor Mitternacht die Reise - gut fünfhundert Kilometer entfernt von zu
Hause.
Nachdem sich
herausgestellt hat, dass meine 85 Zloty für eine Übernachtung im Hotel nicht
ausrei-chen, beziehe ich mein Nachtlager auf der Sitzbank eines unverschlossen
geparkten LKW.
* * *
Am folgenden Morgen
fahre ich zunächst per Anhalter nach Gliwice, von dort mit dem Bus nach
Katowice. Bis zum Nachmittag habe ich fast mein gesamtes Geld für Essen, Eis
und Limonade ausgegeben. Im Laufe dieses sonnigen Karfreitags ist in mir der
Wunsch erwacht, nun auch die polnische Hauptstadt kennen zu lernen. So geselle
ich mich gegen Abend zu einigen Männern, die winkend an der nördlichen
Ausfallstraße stehen. Als eine Stunde später ein klappriger 'Warszawa' anhält,
muss ich mir die Rückbank mit drei anderen Anhaltern teilen. Zu meiner
Enttäuschung geht die Fahrt nur gut sechzig Kilometer weit, bis Czestochowa -
Tschenstochau.
Da die anderen Mitfahrer
dem Schofför vor dem Aussteigen einige Münzen geben, will auch ich mich nicht
lumpen lassen. Ich reiche ihm meine letzten zehn Zloty.
Nach einer weiteren
Stunde Winkens hält endlich ein kleiner LKW, dessen Fahrer nach Warschau will.
Die Verständigung mit ihm gestaltet sich ziemlich mühselig, da er noch nicht
einmal ein paar Wörter Russisch spricht. Doch begreift er, dass ich kein Geld
habe und in Warschau irgendeine kostenlose Bleibe für die Nacht suche. Meine
komplizierte Ausrede, die ich ihm mit Hilfe eines kleinen Wörterbuchs erläutere
- dass mich mein Vater mit auf Dienstreise nach Kattowitz genommen hat, aber
plötzlich ganz dringend in den Norden Polens reisen musste, während ich
dummerweise gerade in einer Diskothek mein ganzes Geld verjubelt habe -,
scheint ihn nicht besonders zu interessieren.
Wahrscheinlich hat er ja
auch überhaupt nichts verstanden.
Spät am Abend rollen wir
auf einer beleuchteten vierspurigen Ausfallstraße an der Seejungfrau mit Schild
und Schwert, dem Wahrzeichen der polnischen Hauptstadt, vorbei. Ich habe das
Gefühl, etwas Großartiges zu erleben. In zwei Tagen allein und ohne Geld bis
Warschau - das soll mir erstmal jemand aus meiner Klasse nachmachen!
Wir überqueren die
Weichsel und halten in einer schmalen Gasse vor einer grauen Mietskaserne.
Voller Stolz zeigt der Mann auf ein winziges zweisitziges Auto von einer recht
bizarren Form. Wenn ich ihn richtig verstehe, hat er es selbst gebaut.
Er bedeutet mir
freundlich, ihm zu folgen. Wir steigen hinauf bis in den dritten Stock und
betreten ein Zimmer von vielleicht 12 Quadratmetern Grundfläche. Hier wohnt der
Kraftfahrer mit seiner jungen Frau und ihrem Baby.
Ich bin etwas bestürzt,
denn solch beengte Wohnverhältnisse habe ich in der DDR noch nicht kennen
gelernt. Der Raum ist zugleich Wohn- und Schlafzimmer; in der Ecke hinter einem
Vorhang befindet sich das "Badezimmer" - ein Waschbecken und eine
kleine Plastikbadewanne.
Die Frau scheint deshalb
zunächst überhaupt nicht begeistert, dass ihr Mann auch noch Besuch mitbringt.
Doch findet sie sich schnell damit ab und bereitet mir auf einer Campingliege
ein Nachtlager. Die Couch verwandelt sie in ein Ehebett.
* * *
Am nächsten Morgen
bekomme ich von ihr ein ausgiebiges Frühstück vorgesetzt.
Dann mache ich mich auf
an den nördlichen Stadtrand von Warschau, denn inzwischen ist in mir der Wunsch
erwacht, auch Danzig, die legendäre Hafenstadt an der Ostsee, kennen zu lernen.
Doch die Leute scheinen
heute nicht besonders viel Lust zu haben, Anhalter mitzunehmen. Nach gut zwei
Stunden Winkens gebe ich es auf und fahre mit der Straßenbahn zurück in die
Stadt.
Der Weg führt mich an
einem Flugplatz vorbei, auf dem einige einmotorige Sportmaschinen stehen. Meine
Neugier ist sofort geweckt. Vielleicht gibt es hier ja auch einen
Segelflugverein und ich kann das Flugabenteuer von Prag in Warschau
wiederholen? Ich umrunde den gesamten abgezäunten Flugplatz auf der Suche nach
einem Segelflugzeug. Doch davon ist leider keine Spur zu erkennen. So
schlendere ich zurück zu den Wohnvierteln.
Der imposante, wohl
einhundertfünzig Meter hohe Kulturpalast weist mir den Weg ins Stadtzentrum.
Ich wandle die legendäre Marszalkowska-Allee hinauf und hinab. Mit Prag ist die
Architektur hier nicht zu vergleichen, viel eher mit der Ernst-Thälmann-Straße
und der Randbebauung des Altmarkts in Dresden: stalinistischer Pomp und
Betonklötze, erbaut, nachdem das völlig zerstörte Zentrum von Trümmern
gesäubert worden war.
Am Abend, als die
einsetzende Dämmerung mir bewusst macht, dass es Zeit ist, mir ein Nachtlager
zu suchen, beschließe ich, noch einmal bei dem Kraftfahrer und seiner Frau
anzuklingeln. Den Weg dorthin zurückzufinden fällt mir nicht schwer. Jedes
Gebäude, an dem ich am Morgen vorbeigekommen bin, haftet mir noch frisch im
Gedächtnis.
Auf der Treppe des
Hauses versperrt mir eine Gruppe aufgeregter älterer Leute den Weg. Einer der
Männer spricht etwas Deutsch. Er fragt, was ich hier mache. Erst nachdem ich
erklärt habe, zu wem ich möchte, lässt er mich weitergehen.
Die Wohnungstür wird mir
von der Frau geöffnet. Sofort schlägt mir eine immense Wolke Wodka-dunst
entgegen. In der Tiefe des Zimmers erblicke ich den Mann, der regungslos auf
dem Sofa liegt.
Die Worte der Frau kann
ich nicht verstehen. Dennoch begreife ich sofort, was sie mir sagen will: Ein
volltrunkener Ehemann reicht ihr; sie hat keine Lust, auch noch mich auf dem
Hals zu haben. Ich muss mir woanders eine Bleibe für die Nacht suchen.
Ich irre durch die
Straßen, schaue in Hinterhöfe. Entdecke einen Schuppen, der nicht verschlossen
ist. Darin befinden sich zu beiden Seiten eines schmalen Ganges Zellen von
jeweils vielleicht anderthalb
Quadratmetern Grundfläche. In der letzten zur rechten Seite liegen nur
einige Bündel alten Papiers. Hier kann ich es wohl für eine Nacht aushalten. Um
etwas sehen zu können, während ich mein Lager zurechtmache, entzünde ich ein
Stück Papier und lege es in eine Mauerspalte. Doch ein Windhauch weht es in die
Nachbarzelle, die verschlossen ist. Die Flamme erlischt zwar, aber wenig später
dringt dicker Rauch durch die Ritzen, der mir fast den Atem nimmt.
Ich flüchte ins Freie,
hoffe, dass der Rauch sich wieder legt und ich in das Gelass zurückkehren kann.
Doch dann erstarre ich
vor Schreck.
Vor mir, kaum drei Meter
entfernt, hat sich die Gardine eines Fensters bewegt. Nur schemenhaft erkenne
ich dahinter ein Gesicht. Zwei, drei Minuten lang starren wir uns gegenseitig
an. Keiner von uns beiden wagt sich zu bewegen.
Mittlerweile zerrinnt
meine Hoffnung, dass der Rauch sich wieder legt; in immer dichteren Schwaden
dringt er jetzt durch die halb geöffnete Schuppentür. Ich entschließe mich zur
Flucht.
Noch einmal erschrecke
ich, als mir an der nächsten Kreuzung zwei Milizionäre entgegenkommen. An ihren
Hüften baumeln Gummiknüppel. Sind sie etwa schon auf der Suche nach mir?
Mir fällt ein Stein vom
Herzen, als sie an mir vorbeischlendern, ohne mich zu beachten.
Es muss wohl schon
Mitternacht vorbei sein, als ich ein Haus entdecke, das gerade renoviert wird.
Darin liegen einige Stapel Strohmatten von der Art, wie sie für Zwischenwände
benutzt werden. Es ist zwar alles furchtbar staubig, doch ich habe zumindest
ein weiches Lager und etwas zum Zudecken.
Mittlerweile ist es
unangenehm kalt geworden.
* * *
Der Ostersonntag begrüßt
mich mit wärmendem Sonnenschein.
Das fehlende Frühstück
erleichtert mir meine Entscheidung, zurück nach Hause zu trampen.
Vati wird das wohl eine
Lehre gewesen sein, denke ich.
Doch dann geschieht
etwas Unerwartetes.
Hinter Lodsch werde ich
von einer Familie in einem VW "Käfer" mitgenommen. Sie sind nicht der
Typ Mensch, der regelmäßig Anhalter aufsammelt, doch mein Anblick hat vor allem
das Mitleid der Frau geweckt. Ich habe gerade einen Gewitterguss überstanden
und triefe vor Nässe.
Der Mann ist besonders
erfreut darüber, dass ich Deutscher bin. Er besucht seit drei Monaten einen
Deutschkurs, und ich bin der Erste, bei dem er seine neu erworbenen Kenntnisse
in der Praxis ausprobieren kann. Ich erfahre, dass er Dirigent an der Danziger
Philharmonie ist und dass seine Frau ebendort als Sprecherin arbeitet. Den
"Käfer" bekam er vor kurzem von seinem Vater geschenkt, der seit
einiger Zeit in der Bundesrepublik arbeitet. Nun sind sie darin mit ihrem
neunjährigen Sohn Piotr auf einer österlichen Rundreise zu sämtlichen
Verwandten. Eben fahren sie nach Leszno, zu den Eltern der Frau.
So komme ich meiner
Heimatstadt Dresden um mehr als die Hälfte näher.
Lange bevor wir Leszno
erreichen, laden sie mich ein, mitzukommen zu den Eltern.
Ich könne dort auch gern
übernachten.
Da ich mich bei ihnen
ausgesprochen wohl fühle, brauchen sie mich nicht lange darum zu bitten.
Die Eltern wohnen im
Nebengebäude einer Kirche aus dem 18. oder 19. Jahrhundert. Von innen ähnelt
die Wohnung einem Adelsschloss, denn viele der Möbel sind geradezu antiquarisch
und an den hohen Wänden hängen riesige Ölgemälde.
Zum Abendessen
versammeln sich um den runden, reichlich gedeckten Tisch im größten der drei
Zimmer etwa zwölf Personen. Ich begreife selbst noch nicht ganz, wie mir
geschieht, aber ich fühle mich, als würde ich zu dieser Familie gehören.
Doch nicht nur ich
empfinde so, sondern auch Barbara und Grzegorz - so heißen die beiden aus
Danzig - bekunden mir gegenüber dieses Gefühl. Irgendwann im Laufe des Abends
meint Barbara scherzhaft: "Nicht wahr, du kommst morgen mit uns nach
Gdansk?"
Ich bin nicht nur erstaunt
darüber, dass ich jedes einzelne ihrer Worte auf Polnisch verstanden habe,
sondern vor allem bin ich hellauf begeistert. Sollte ich nun doch noch
Gelegenheit bekommen, die polnische Hafenstadt kennen zu lernen? Ohne zu
überlegen signalisiere ich ihr, dass ich einverstanden bin.
Das Paar sieht sich
einen Moment lang etwas verwundert an. "Musst du nicht in Schule?"
fragt mich Grzegorz. Doch in diesem Moment fällt es mir überhaupt nicht schwer,
ihm vorzulügen, dass in der DDR noch zwei Wochen Ferien sind.
Nach kurzer Beratung mit
seiner Frau wendet er sich wieder zu mir.
"Ja, gut."
* * *
Die Familie bewohnt eine
Zweieinhalb-Zimmer-Wohnung im Neubaugebiet Gdansk-Przymorze. Mich bringen sie
im Zimmerchen ihres Sohnes unter, der einstweilen bei ihnen schläft. Ich
genieße völlige Freiheit und grenzenloses Vertrauen. Da die beiden am Dienstag
wieder arbeiten müssen, geben sie mir Wohnungsschlüssel. So kann ich kommen und
gehen, wann ich will.
Für mich verbindet sich
Danzig zu diesem Zeitpunkt hauptsächlich mit zwei Begriffen: mit den
Fünflingen, die hier vor einigen Monaten geboren wurden und mit der
Westerplatte. Dieser Ort, an dem im September 1939 die ersten Schüsse des
Zweiten Weltkriegs fielen, wird am Dienstag mein erstes Ausflugsziel.
Doch außer ein paar
alten Panzern und einer Gedenktafel auf Polnisch kann ich nichts Interessantes
entdecken; deshalb fahre ich bald wieder zurück in die Stadt.
Es zieht mich zum Hafen.
Der Anblick der riesigen
Schiffe weckt in mir eine Sehnsucht nach fernen Ländern. Vergessen ist jetzt
Vati, vergessen ist Dresden. Ich schaue, ob ich mich nicht irgendwo an Bord
schleichen kann.
Doch die paar Schiffe,
zu denen ich ohne Probleme gelange, sehen nicht so aus, als ob sie bald die
Anker lichten würden. Eher scheint der Seitenkanal, an dem ich mich jetzt
entlang schleiche, ihre letzte Ruhestätte zu sein. Also lasse ich von diesem
Plan wieder ab, auch weil es mir für ein so tollkühnes Unternehmen an der
nötigen Entschlossenheit fehlt.
Stattdessen fahre ich
zum Segelflugplatz, von dem mir Barbara am Morgen erzählt hat. Leider ist in
der Woche kein Flugbetrieb und ich komme wieder nicht zu meinem ersehnten Flug.
In Dresden - kommt es
mir kurz in den Sinn - hätte ich am vergangenen Wochenende wohl zu meinem
ersten Alleinflug aufsteigen können. Wenn sie mich bloß nicht vor anderthalb
Monaten aus dem Verein geschmissen hätten ...
* * *
Am Mittwochvormittag
haben Barbara und Grzegorz frei. Sie müssen erst abends zum Konzert in der
Philharmonie sein. Sie laden mich ein zu einem Bummel durch die historische
Altstadt, zeigen mir die gerade restaurierten historischen Gassen, die im Krieg
fast völlig zerstört wurden.
Als wir die
mittelalterliche Mariannenkirche betreten, bekreuzigt sich Grzegorz. Diese
Geste erstaunt mich. Bisher habe ich niemanden kennen gelernt, der dies tun
würde. Alle meine Großeltern waren bereits in der ersten Hälfte des
Jahrhunderts aus der Kirche ausgetreten, und in der Schule wurde uns stets
beigebracht, dass nur rückständige und naive Menschen religiös sind.
Doch währt meine
Verwunderung und mein Nachdenken nur kurz.
* * *
"Dokad pan
jedzie?" - Wohin fahren Sie? - frage ich. Von der umschweifigen Antwort
des Kraft-fahrers verstehe ich nur das Wort Warszawa. Ich steige ein.
Es ist Freitagmorgen.
Vor einer halben Stunde hat mich Grzegorz zur Ausfallstraße gebracht. Zum
Abschied hat er mir noch vierzig Zloty in die Hand gedrückt. Nun sitze ich in
einem LKW, der nach Warschau fährt. Oder zumindest in diese Richtung.
Der Fahrer beginnt mir
etwas zu erzählen, doch ich verstehe fast kein Wort. Mir bleibt nichts anderes
übrig, als ihn zu unterbrechen und ihm in gebrochenem Polnisch zu erklären,
dass ich kein Pole bin. Er sieht mich erstaunt an, so als würde es ihm
schwerfallen, es zu glauben.
Draußen ziehen
sonnenüberflutete Felder vorbei, über die Bauern mit Pferdegespannen zuckeln.
Vereinzelt steht ein Storch auf einer Weide.
Hinter mir zurück bleibt
Gdansk, bleibt Familie Sutt, die mir für eine knappe Woche ein Zuhause gegeben
hat. Wie Eltern sind mir Barbara und Grzegorz in diesen Tagen gewesen, bessere
Eltern, als ich sie selbst habe. Wann immer sie Zeit hatten, haben sie sie mir
gewidmet. Gestern noch waren wir zusammen im Meereskundemuseum in Gdynia und an
der Mole von Soppot.
In dieser gegenseitigen
Zuneigung liegt wohl auch der Grund dafür, dass ich die wenigen Worte Polnisch,
die ich bis jetzt kann, perfekt und ohne jeden deutschen Akzent ausspreche.
Durch diese Erfahrung
habe ich immer weniger Lust, nach Hause zurückzukehren.
Vielleicht treffe ich
hier ja noch einmal solche Menschen?
* * *
Der Fahrer ist achtzig
Kilometer vor der Hauptstadt abgebogen und hat mich in Plock abgesetzt. Deshalb
habe ich meinen ursprünglichen Plan, noch einmal nach Warschau zu fahren,
aufgegeben und bin über Nacht Richtung Westen getrampt. Unterwegs hat mich eine
Milizstreife angehalten. Ich musste in ihren Wagen einsteigen und glaubte
schon, dass dies das Ende meiner Reise sei. Doch da meine Papiere in Ordnung
waren und da ich zufällig gerade in Richtung DDR unterwegs war, ließen sie mich
schließlich wieder laufen.
In einem Vorort von
Poznan nahm mich in den frühen Morgenstunden der junge Fahrer eines Kleintransporters
mit. Er lud mich ein zu einem Frühstück in der Betriebskantine des
Lokomotiv-schuppens, für den er arbeitet. Danach stellte er mich einem älteren
Kollegen vor, der fließend Deutsch spricht.
Ein paar Stunden lang
habe ich mich in dessen Pförtnerhäuschen mit ihm unterhalten. Bevor ich
schließlich in die Stadt aufbrach, lud er mich für den Abend zu seiner Familie
ein.
Diese Einladung habe ich
dankend angenommen, und ich konnte in einem Feldbett auf dem Boden ihres Hauses
übernachten. Am nächsten Tag bin ich nach Leszno getrampt und habe noch einmal
bei Barbaras Eltern angeklingelt. Die waren etwas verwundert, doch als ich
erklärte, dass ich auf dem Heimweg nach Dresden sei, ließen sie mich gern noch
einmal bei sich übernachten. Am Morgen gab mir Barbaras Vater sogar noch etwas
Geld mit auf den Weg.
* * *
Mittlerweile ist es
Montagabend, ich bin wieder in Breslau.
Unter der Brücke, auf
welcher ich nun stehe, führt die Autobahn hindurch, über die ich vor elf Tagen
nach Osten gerast bin.
Noch einmal schwanke
ich. Zweihundertfünfzig Kilometer sind es bis nach Hause. Mit etwas Glück
könnte ich die Nacht wieder in meinem Klappbett in Klotzsche verbringen.
Doch der Reiz des
Abenteuers hat mich inzwischen voll in seinen Bann gezogen. Was ist der graue
Alltag in Dresden gegen das, was ich hier erlebe! Wie viel mehr habe ich in
diesen wenigen Tagen über die Welt und über das Leben gelernt, als man es mir
in der Schule beibringen könnte!
Noch nicht einmal Hunger
brauchte ich bis jetzt zu leiden, denn immer bin ich rechtzeitig auf Menschen
getroffen, die mich bewirtet und mir etwas Geld gegeben haben, ohne dass ich
sie darum bitten musste.
Also gehe ich nicht zu
dem Parkplatz neben der Fahrspur in Richtung Westen, sondern stelle mich an die
Tankstelle gegenüber. Wenig später werde ich von einem LKW-Fahrer mitgenommen.
Er hat einen weiten Weg vor sich; die ganze Nacht werden wir auf Achse sein.
Ich bin froh, im Warmen zu sitzen, denn draußen ist es heute unangenehm kalt und
windig. Gerade noch bekomme ich mit, wie wir die provisorische Holzbrücke
überqueren, über die ich vor anderthalb Wochen schon einmal gefahren bin, dann
falle ich in tiefen Schlaf.
Ich wache erst wieder
auf, als es schon hell ist und wir durch eine große Stadt fahren. "Gdzie
jestesmy?" - Wo sind wir? - frage ich.
"W Krakowie",
ist die Antwort des Fahrers. Wenig später weist er nach links auf eine Burg,
die sich über mächtigen Mauern und Felsen erhebt. Nicht ohne Stolz sagt er:
"Wawel".
Dies also ist das berühmte
polnische Königsschloss.
Nun habe ich auch das zu
Gesicht bekommen.
Fünfzig Kilometer hinter
Krakau ist die Reise zu Ende.
Die Berge ringsumher
sind schon die Ausläufer der Hohen Tatra. Einige der Männer und Frauen, die auf
Pferdewagen an mir vorbeirollen, tragen Trachtenkostüme. Hier beginnt das Reich
der legendären Góralen, des polnischen Bergvolkes.
Meine wachsende
Sehnsucht nach fernen Ländern hat mich auf die Idee gebracht, mich durchs
Gebirge in die Slowakei durchzuschlagen. Von dort aus ist es nicht mehr weit
bis nach Ungarn ...
Doch ein heftiger
Gewitterguss kühlt meine erhitzte Fantasie vorerst wieder etwas ab. Ich
beschließe, zurückzutrampen ins oberschlesische Kohlenrevier.
Wieder werde ich von
einem Lastwagenfahrer mitgenommen. Er ist sichtlich erfreut über die
Abwechslung, die ich, der Gast aus einem anderen Land, für ihn bedeute. Ob ich
nicht Lust habe, ihn und seine Familie in Katowice besuchen zu kommen, fragt
er.
Natürlich habe ich Lust.
Als in einiger
Entfernung von der Straße ein paar Baracken auftauchen, weist er darauf und
sagt: "Oswiecim".
Fragend sehe ich ihn an.
"Auschwitz",
wiederholt er auf Deutsch.
Ich weiß nicht recht,
wie ich das Lächeln auf seinen Lippen deuten soll.
* * *
Am nächsten Morgen ist
der Mann längst wieder mit seinem Lastwagen unterwegs, als seine Frau mir ein
paar Brote für den Weg macht. Den Abend habe ich zusammen mit der Familie vor
dem Fernseher verbracht, und übernachten konnte ich im Kinderzimmer der
inzwischen verheirateten Tochter.
Bevor ich gehe, steckt
die Frau mir noch einen Fünfzig-Zloty-Schein zu.
Inzwischen kenne ich die
Stelle ja schon, an der man von Katowice aus in Richtung Norden trampen kann.
Gegen Mittag bin ich zweihundert Kilometer entfernt.
Eigentlich wollte ich
wieder nach Warschau fahren. Doch mittlerweile bin ich einem Anfall von naivem
Größenwahn erlegen. Wenn ich nun schon so weit gekommen bin, denke ich bei mir,
dann schaffe ich es vielleicht auch bis nach ... Indien.
Dazu muss ich durch den
Bug, den polnischen Grenzfluss, schwimmen, und in der Sowjetunion soll es, nach
allem, was ich gehört habe, mit dem Trampen noch besser gehen als in Polen. In
Asien müsste ich mich dann durchs Gebirge schlagen, und ich bin nicht einmal
sicher, ob Indien direkt an die Sowjetunion grenzt. Aber irgendwie werde ich
das schon schaffen.
Also verlasse ich in
Piotrków Trybunalski die Straße nach Warschau und wende mich Richtung Osten,
nach Lublin.
Doch dem Mann, der mich
bis dorthin mitnimmt, bin ich äußerst verdächtig.
"So ein junger
Kerl, und raucht schon wie ein Schlot! Und dass du einen Onkel in Kiew besuchen
willst, glaube ich dir auch nicht. Die lassen dich doch überhaupt nicht über
die Grenze.
Ich werde dich in Lublin
am besten bei der Miliz abliefern."
Als wir in die Stadt
hineinrollen, bekräftigt er noch einmal seinen Entschluss, mich zur Miliz zu
bringen. Doch seine Worte haben einen fast fragenden Unterton, als wollte er
sich vergewissern, dass ich damit auch einverstanden bin.
Er parkt seinen
Kleintransporter vor dem Hauptgebäude der Miliz und verschwindet darin. Mich
hat er einstweilen auf dem Beifahrerplatz sitzen gelassen. Ich könnte jetzt
aussteigen und davonlaufen, doch - aus welchen Gründen auch immer - ich tue es
nicht.
Eine Minute später kommt
der Fahrer mit einem Polizisten zurück, der mich auffordert, ihm zu folgen. Ich
muss meinen Ausweis abgeben und werde kurz darauf zu einem Polizeiwagen
gebracht. Die Fahrt endet nach wenigen hundert Metern vor einer Baracke, deren
Fenster mit Gittern gesichert sind.
Außer mir sind hier noch
zwei polnische Jungs in meinem Alter, die dabei erwischt wurden, als sie nachts
in einen Kiosk einbrachen. Der Polizist, der uns bewacht, ist mir gegenüber
ausgesprochen freundlich und duldsam, viel freundlicher als zu den beiden
Polen. Fast scheint mir, dass er voll heimlicher Bewunderung für mich ist,
dafür, dass ich mich alleine so weit durchgeschlagen und dabei so gut Polnisch
gelernt habe.
Vier Tage bleibe ich in
diesem Durchgangsheim, und trotz der vergitterten Fenster empfinde ich diese
Zeit geradezu als erholsam. Ich bekomme immerhin geregeltes Essen, habe ein
warmes Bett und sehe keinen Grund, mir über irgend etwas Gedanken machen zu
müssen. Zwar weiß ich nicht, was weiter geschehen wird, aber die Freundlichkeit
des Polizisten hat mir jede Angst vor der näheren Zukunft genommen. Den Tag
kann ich mir zusammen mit den anderen beiden Jungs mit allerlei Spielen
vertreiben.
Am Sonntagabend
erschrecke ich eben, als ich in der halb geöffneten Tür des Büros ein
vertrautes Gesicht erblicke: Vati!
Schweigend gehen wir
wenig später nebeneinander her in Richtung Bahnhof. Keine Drohung, kein Vorwurf
kommt aus seinem Mund. Aber das liegt wohl in erster Linie an der fremden
Umgebung und an seiner Erschöpfung. Er ist erschlagen von der Tatsache, dass er
die bisher weiteste Reise seines Lebens unternehmen musste, um mich abzuholen.
Nach einer Weile
versuche ich vorsichtig, ein Gespräch anzuknüpfen. "Vati, hier in Lublin
ist doch das ehemalige Konzentrationslager Majdanek. Wollen wir das vielleicht
besuchen gehen, ehe wir zurückfahren?"
Dieses Lager kenne ich
aus dem Gedicht "Die Kinderschuhe von Lublin", das wir vor einiger
Zeit in der Schule besprochen haben. Es erzählt davon, wie hier 1944 tausende
Paar Schuhe ermordeter Kinder gefunden wurden.
Der Reiz des Unfassbaren
ist es, der mich drängt, dieses Lager zu sehen.
Vati scheint nicht
einmal abgeneigt zu sein. Einen Moment lang schwankt er. Doch dann lassen wir
beide diese Idee wieder fallen. Es ist wohl einfach nicht der richtige Moment.
Dennoch wirkt Vati jetzt
lockerer und vertraulicher. Bald erzählt er mir, wie er hierher gekommen ist. Von Berlin ist er nach Warschau
geflogen, von da aus mit dem Zug weitergefahren.
Als wir wenig später im
Bahnhofsrestaurant auf den Zug warten, fühle ich mich ihm zum ersten Mal
überlegen. Niemand spricht hier Deutsch, und so bin ich es, der ihm einige
Gerichte auf der Speisekarte übersetzt.
Dennoch ist mir Vati
jetzt fremder als je zuvor. Obwohl hier, weit weg von zu Hause, seine
autoritäre Art wie weggeblasen zu sein scheint, habe ich mein Vertrauen in ihn
verloren. Intuitiv spüre ich, dass ich zu ihm nie wieder die gleichen Gefühle
haben werde wie zuvor.
Und ich will eigentlich
auch gar nicht mehr nach Hause!
Deshalb überlege ich, ob
ich nicht einfach verschwinde, als sich Vati Stunden später im Zug von Warschau
nach Dresden erschöpft auf der Sitzbank ausstreckt und sofort einschläft. Aus
seiner Gesäßtasche ragt das Portmonee hervor, das, wie ich gesehen habe, prall
gefüllt ist mit Hundert-Zloty-Scheinen. Wohl eine Stunde lang ringe ich mit dem
Vorsatz, es herauszuziehen und mich damit aus dem Staub zu machen. Doch ich
bringe es nicht fertig. Ich weiß selbst nicht, was stärker ist, mein Mitleid
mit ihm oder die Angst, er könnte mich totschlagen, falls er davon erwachen
würde.
"Morgen gehst du
erst mal wieder in die Schule und dann sehen wir weiter", sagt Vati, als
wir am darauf folgenden Abend wieder in Dresden sind.
Nun ja, mir wird nichts
anderes übrig bleiben, wenn ich auch nicht die geringste Lust dazu verspüre.
Dennoch nehme ich, als er gerade im Bad ist, zweihundert Zloty aus seinem
Portmonee. Für alle Fälle, denke ich bei mir.
Er wird das sowieso
nicht merken.
Am Morgen darauf stelle
ich zu meiner Überraschung fest, dass ich zum Helden der Klasse avanciert bin.
Mit großem Hallo werde ich vor dem Klassenzimmer empfangen. Ich sehe mich im
Mittelpunkt neugieriger und bewundernder Blicke. "Braun bist du
geworden", sagt anerkennend Frank Appel, der Kräftigste und körperlich
Reifste der Klasse. Auch die schöne Ilona Kamin, die mich für meinen Geschmack
bisher viel zu wenig beachtet hat, kann ihren Blick jetzt kaum von mir lassen.
Später, im
Physikunterricht, zeige ich meinem Banknachbarn die zweihundert Zloty. Er
betrachtet sie neugierig. Das erregt die Aufmerksamkeit Herrn Bergers, des
Lehrers.
"Was hast du denn
da? Gib mal her! Wo hast du die her?"
"Die habe ich in
Polen von jemandem geschenkt bekommen."
"Das werden wir
nachprüfen. Wenn es stimmt, bekommst du sie zurück. Aber bis dahin werde ich
sie behalten."
In der anschließenden
Pause begegnet mir auf dem Gang der Schuldirektor. "Das wird noch ein
Nachspiel haben, mein Lieber", sagt er lapidar im Vorbeigehen.
Den Sonnenuntergang
desselben Tages erlebe ich zweihundertfünfzig Kilometer entfernt - in Wroclaw.
*
*
* * *
*
*
"Nie spij!" -
Schlaf nicht! - sagt ein älterer Mann neben mir. "Milicja." Am
anderen Ende des Wartesaals schieben sich zwei Polizisten durch die Sitzreihen.
Ich sehe, wie ein Mann ihnen seinen Ausweis reicht, dann fallen meine Augen
erneut zu.
Zwei Wochen bin ich nun
schon wieder in Polen, doch diese Zeit verlief ganz anders als jene vierzehn
Tage zuvor. Kein einziges Mal mehr bin ich von Menschen nach Hause eingeladen
worden. Mittlerweile kann ich ganze Sätze fehlerfrei auf Polnisch sagen und
werde kaum noch als Deutscher erkannt. In Lodsch hat sich sogar eine
Straßenbahnschaffnerin furchtbar aufgeregt, als ich sie in bestem Polnisch
fragte, ob sie deutsch versteht. Mein äußerlicher Zustand verschlechtert sich
mit jedem Tag; am linken Knie beginnt sich meine Hose in ihre Bestandteile
aufzulösen - jene einzige moderne Hose, die Vati erst vor drei Monaten gekauft
hat. Seit mir Anfang Mai in Warschau der Rucksack gestohlen wurde - ich hatte
mich nur für einen Moment um zwei, drei Meter von ihm entfernt - habe ich auch
keine Wechselkleider mehr.
Während der ersten Tage
trieb ich mich am Warschauer Hotel "Forum" herum - jenem pompösen
ockerfarbenen Bau, wie ich ihn in München oder Paris, aber nicht in Warschau
erwartet hätte. Auf dem Parkplatz am Eingang standen fast ausschließlich
westliche Luxuslimousinen; die Gäste stammten vorwiegend aus Westeuropa,
Nordamerika und den arabischen Ölstaaten. Auf Deutsch und auf Englisch
erbettelte ich täglich ein-, zweihundert Zloty. Das reichte für eine
Übernachtung in der Jugendherberge, drei Mahlzeiten im Restaurant, Zigaretten
der teuersten Marken und alles was mich sonst noch zum Geld Ausgeben verlockte.
Doch am vierten Tag wurde ich dieses Lebensstils überdrüssig. Wieder begann ich
kreuz und quer durch das Land zu trampen. Das tat ich vorzugsweise nachts und
auf langen Strecken, um der nächtlichen Kühle zu entgehen und auf dem
Beifahrersitz eines LKW ein warmes Plätzchen zu Schlafen zu haben. Tagsüber
streifte ich durch eine polnische Großstadt - mal durch Katowice, dann wieder
durch Torun, Bydgoszcz, Wroclaw -, und am darauffolgenden Morgen war ich meist
wieder in Warschau.
Nun ist es Mitte Mai und
ich befinde mich nördlich von Danzig. Ich habe nicht gewagt, Familie Sutt noch
einmal zu besuchen, sondern bin schnurstracks in Richtung Hel weitergetrampt,
jener langen, schmalen Halbinsel am Ausgang der Danziger Bucht. Immer deutlicher
wird mir, dass ich in Polen keine dauerhafte Perspektive habe. Den Text eines
DDR-Schlagers habe ich umgedichtet zu "... ich werde bald verreisen, wohl
nach Schweden oder Dänemark ..." und diese Worte schwirren mir nun ständig
durch den Kopf. Vielleicht kann ich auf Hel ein kleines Boot stehlen und damit
nach Bornholm rudern - oder wenigsten auf die offene See hinaus, um von einem
dänischen oder schwedischen Fischerboot an Bord genommen zu werden ...
Doch dann verbringe ich
den Nachmittag damit, Bernstein zu sammeln, den die Fühjahrsstürme an den
Strand gespült haben. Ich finde eine ganze Menge, aber die Stücke sind zu klein
als dass ich sie verkaufen könnte. Dabei bräuchte ich dringend ein paar Zloty,
denn seit über drei Tagen schon hatte ich nichts mehr im Magen. Lediglich an
Zigaretten hat es mir nie gefehlt; mehr als einmal geschah es, dass mir ein
Mann eine halbe oder ganze Packung schenkte, als ich um eine Zigarette bat. So
konnte ich das Hungergefühl eine Zeit lang durch Rauchen unterdrücken, doch
allmählich wird es zur Qual. Unter diesen Bedingungen werde ich es wohl auch
nicht schaffen, über die Ostsee zu rudern.
Am frühen Abend bin ich
der Verzweiflung nahe.
Vor zwei Tagen habe ich
in Tschenstochau versucht, in einem Lebensmittelladen zu stehlen, doch gleich
beim Betreten verfolgten mich vier oder fünf Augenpaare von Verkäuferinnen, die
beschäftigungslos herumstanden. Auf diese Art ist hier also kaum etwas zu
holen.
Plötzlich fällt mein
Blick auf etwas Rundes, Silbriges im Sand des Fußwegs. Tatsachlich: ein
Zehn-Zloty-Stück! Genau gegenüber befindet sich eine Imbiss-Stube. Das Geld
reicht für eine Suppe, zwei Brötchen und eine Limonade - meine erste Mahlzeit
seit beinahe vier Tagen. Zum ersten Mal in meinem Leben glaube ich, dass es so
etwas wie einen Gott gibt.
Bei Einbruch der
Dunkelheit nimmt mich ein Mann in einem klapprigen "Syrena" bis nach
Slupsk mit. Dort beschließe ich, die Nacht im Wartesaal des Bahnhofs zu
verbringen.
* * *
Es können nur Sekunden
gewesen sein, doch mir kam dieser Schlaf wie eine Ewigkeit vor. Jemand rüttelt
an meiner Schulter; als ich die Augen öffne, erkenne ich zwei graue
Milizuniformen. Nachdem ich meinen Personalausweis gereicht habe, wollen die
Männer auch mein Portmonee sehen. Darin befinden sich gerade vierzig Groszy,
die von den zehn Zloty übrig geblieben sind. Damit ist die Sache für die
Polizisten klar. Sie fordern mich auf, mitzukommen. Widerstandslos folge ich
ihnen hinaus zu ihrem blau-weißen Polski-Fiat. Am Stadtrand halten wir vor
einer kleinen Villa. Als ich die vergitterten Fenster erkenne, weiß ich sofort,
wo ich gelandet bin: Die ist so eine Verwahranstalt für Kinder und Jugendliche,
wie ich sie schon in Lublin kennen gelernt habe.
Doch hier treffe ich auf
wesentlich mehr Jungens bis zu meinem Alter; der Schlafsaal mit etwa zwanzig
Betten ist gut zur Hälfte belegt. Wenn abends das Licht gelöscht worden ist,
darf nicht mehr gesprochen werden. Alle paar Minuten erscheint der wachhabende
Polizist an der Tür, um zu lauschen und durch den Spion zu schauen. Doch durch
sein Klopfen an der Tür und seinen Ruf nach Ruhe lassen wir uns immer nur für
ein paar Sekunden zum Schweigen bringen. An meinem zweiten Abend reißt dem
Milizjonär die Geduld, er schließt die Tür auf und befiehlt, uns alle in einer
Reihe im Flur aufzustellen. Ich weigere mich, bleibe einfach im Bett.
Bei einem polnischen
Jungen wäre jetzt sicher der Gummiknüppel zum Einsatz gekommen, aber mit mir
als Ausländer weiß der Mann nicht recht umzugehen. Er verzichtet also auf
Gewalt, doch am folgenden Morgen werde ich in die Amtsstube befohlen, wo ich
mein Verhalten rechtfertigen soll. Ich erkläre, dass ich das auf Polnisch nicht
kann. Dann soll ich es eben deutsch aufschreiben.
Ich schreibe: "Ich
bin kein polnischer Verbrecher, sondern ein Tourist aus der DDR, dem das Geld
ausgegangen ist, und ich möchte auch so behandelt werden."
Eine halbe Stunde später
werde ich wieder in das Zimmer gerufen. Dort sitzt jetzt ein älterer Mann in
Zivil, der gebrochen Deutsch spricht. Den Sinn meiner Worte auf dem Zettel hat
er offenbar mehr erahnt als verstanden. Er verlangt von mir eine nähere
Erklärung, doch ich wiederhole immer nur, was ich bereits aufgeschrieben habe.
Mein Verhalten hat
offenbar Eindruck gemacht, vor allem was die weitere Verfahrensweise für mich
betrifft. Die Wärter behandeln mich jetzt etwas respektvoller, und am Morgen
des vierten Tages erklärt mir einer von ihnen, dass ich nach Danzig ins
"Konsulat generalny" der DDR gebracht werde. Dort bekäme ich dann eine
Fahrkarte nach Hause.
Ich bin erleichtert,
dass Vati mich nicht wieder abholen wird.
Wenig später verlässt
ein einzelner Polizist mit mir das Haus. Er ist zunächst recht umgänglich; auf
dem Weg vom Auto zum Bahnsteig lässt er mich frei neben sich her laufen und
gibt mir auf meine Bitte hin sogar eine Zigarette. Beim Einsteigen in den Zug
ensteht Gedränge. Plötzlich ist der Polizist schon im Waggon, während ich noch
an die zwei Meter entfernt auf dem Bahnsteig stehe. Dies wäre die ideale
Gelegenheit zur Flucht, doch ich denke vorläufig gar nicht daran. Brav folge
ich ihm ins Abteil. Eigentlich müsste der Mann jetzt doch überzeugt sein, dass
ich keine Fluchtabsicht hege, aber er hat es offenbar mit der Angst zu tun
bekommen. Als wir nebeneinander Platz nehmen, fesselt er meinen Arm mit einer
Handschelle an den seinen.
Im Hauptbahnhof von
Danzig übergibt er mich zwei anderen Milizjonären, die mich zunächst in eine
größere Zelle einschließen. Der Raum ist duster und abgesehen von einer
niedrigen Sitzbank an der Wand völlig leer. In der Mitte liegt ein
sturzbetrunkener Mann von vielleicht Mitte fünfzig. Nach etwa zehn Minuten
erscheinen zwei Polizisten, um ihn abzuholen. Vergeblich bemühen sie sich, ihn
zum Aufstehen zu bewegen. Sie ziehen an seinen Ohren, an seinen Haaren - der
Mann öffnet nicht einmal die Augen. Da zückt einer der Polizisten seinen
Gummiknüppel und versetzt ihm einen Hieb auf den Oberarm. Sofort ist der Alte
hellwach, murmelt etwas von "Ich komme schon, ich komme schon ...",
erhebt sich und lässt sich bereitwillig hinausführen. Nach gut einer halben
Stunde werde auch ich abgeholt. Vor dem Bahnhof steht ein grauer Transporter
der Miliz. Der Laderraum ist in der Mitte durch ein Gitter geteilt; in den
beiden Hälften befinden sich je zwei gegenüberliegende Reihen Holzbänke. Ich
muss zu zwei Männern einsteigen, die mit einer Handschelle aneinander gefesselt
sind. Neben mir nimmt ein Milizjonär Platz. Nach wenigen Minuten hält der Wagen
in einer mit Linden bestandenen Allee vor einer weißen Villa - dem
Generalkonsulat der DDR. Die Sekretärin, die mich in Empfang genommen hat,
behandelt mich sehr freundlich und fürsorglich, eben gerade wie einen
DDR-Bürger, dem ohne eigenes Verschulden das Geld für die Heimreise fehlt. Sie
fragt mich als erstes, ob ich Hunger habe und bringt mir wenig später eine
Portion leckere Eierkuchen. Eine Fahrkarte nach Dresden könne sie mir nicht
ausstellen, denn im Konsulat gäbe es nur Fahrkarten nach Berlin. Dort würde
mich dann mein Vater abholen.
Der Zug geht erst am
späten Abend, daher muss ich die nächsten Stunden mit Warten verbringen. Gegen
siebzehn Uhr bittet mich der Generalkonsul in sein Auto, um mich mit in seine
Wohnung zu nehmen. Sie befindet sich in einer grauen Betonsiedlung in Soppot.
Gemeinsam mit seiner Frau und seinem Sohn, der etwas jünger ist als ich, essen
wir zu Abend, danach verbringen wir mehrere Stunden vor dem Fernseher. Gegen
zehn bringt mich die Familie im Wagen zum Bahnhof von Gdynia. Bis zur Abfahrt
des Zuges bleibt der Konsul vor meinem Abteilfenster stehen, um darüber zu
wachen, dass ich nicht wieder aussteige. Doch damit hat die Kontrolle über mich
ein Ende, ich bin nun wieder allein und kann aussteigen, wo ich will. Im Laufe
der Nacht rollt der Zug nahe der polnischen Ostseeküste gen Westen. Noch habe
ich keine Entscheidung getroffen, ob ich bis Berlin fahren werde. Es ist schon
hell, als wir Stettin erreichen, den letzten Bahnhof in Polen.
Kurzentschlossen springe
ich aus dem Zug.
Vor dem Bahnhof fließt
ein Arm der Oder. Am Ufer montiert gerade ein älterer Mann einen Außenbordmotor
auf ein Ruderboot. Neben ihm liegt Angelgerät. Er spricht gut Deutsch und ist
sehr freundlich. Als ich frage, ob er mich mit zum Angeln hinaus nimmt, ist er
gleich einverstanden. Wir tuckern etwa einen Kilometer oderaufwärts.
Der Morgen ist warm und
sonnig, doch die Fische wollen heute einfach nicht beißen. Bis zum Mittag wirft
der Mann vergeblich seine Angel aus. Mittlerweile hat er seine Frühstücksbrote
mit mir geteilt; als wir wieder vor dem Bahnhof anlegen, schenkt er mir eine
Essensmarke seiner Betriebskantine und erklärt mir den Weg. Satt und zufrieden
stelle ich mich am frühen Nachmittag an die Fernstraße Richtung Norden. Mein
nächstes Ziel steht längst fest: Swinoujscie. Dort fahren nämlich die
Fährschiffe nach Schweden und Dänemark ab.
Auf halbem Wege dorthin
geschieht es mir zum ersten Mal, dass ein Kraftfahrer, der auf mein Winken hin
angehalten hat, sofort fragt, ob ich Geld habe. Als ich verneine, schlägt er
die Tür zu und fährt weiter. In Polen ist es üblich, dass Anhalter den Fahrern
etwas Geld oder eine der offiziellen Trampermarken geben, die zur Teilnahme an
einer Lotterie berechtigen. Solange ich Geld hatte, war ich nicht knauserig,
aber auch wenn mein Portmonee leer war gab es bisher kaum Probleme. Nur einmal,
in Kattowitz, verlangte der Fahrer eines Kleintransporters, der mich kaum drei
Kilometer mitgenommen hatte, beim Aussteigen Geld von mir. Da sagte ich nur
rasch, dass ich keins hätte, und sprang aus dem Wagen.
Die beiden Frauen, die
mich schließlich bis Swinemünde mitnehmen, halten mich zunächst für einen
Schweden, wegen meiner Aussprache des Ortsnamens Swinoujscie. Das ehrt mich und
nährt meine Hoffnung, dass ich mich vielleicht unauffällig an Bord eines der
Fährschiffe schmuggeln kann.
Doch da ist leider
nichts zu machen, der Zugang zum Schiff ist hermetisch abgeriegelt.
Damit gebe ich meinen
Plan, über die Ostsee nach Skandinavien zu gelangen, endgültig auf und wende
mich in eine andere Richtung. Vierundzwanzig Stunden später stehe ich am anderen
Ende des Landes, am Fuße des Riesengebirges. Hier sind viele Touristen aus der
DDR unterwegs. Immer wenn sich ein Fahrzeug mit hellem Nummernschild nähert,
winke ich mit meinem blauen Personalausweis. Ein junger Mann aus dem Vogtland
nimmt mich schließlich bis in die Berge mit. Er will nach Szklarska Poreba, zur
Europameisterschaft im Motorrad-Geländefahren. Zum Glück stellt er keine
unangenhmen Fragen, sondern ist sehr hilfsbereit. Als er erfährt, dass ich
keine Unterkunft habe, bietet er mir an, in seinem Trabbi zu übernachten. Er
selbst bezieht ein bestelltes Hotelzimmer. Am nächsten Morgen nimmt er mich und
zwei Freunde zur ersten Etappe der Meisterschaft mit. Unterwegs hält er vor
einem Laden und einer der Freunde steigt aus, um etwas zum Frühstücken zu
kaufen. Der Fahrer fragt mich, ob ich auch etwas möchte. Zögerlich sage ich:
"Ja, zwei Brötchen und eine Flasche Milch." Ich bin erleichtert, dass
er nicht nach Geld fragt. Gegen Mittag verabschiede ich mich und begebe mich
auf die abschüssige Straße Richtung Karpacz.
Plötzlich taucht aus dem
Wald ein Junge in meinem Alter auf, der nur mit einer schmutzigen Unterhose
bekleidet ist. Zwischen den Lippen hält er einen winzigen Zigarettenstummel. Er
fragt nach Feuer und versucht mich in ein Gespräch zu verwickeln. Er wirkt
verwahrlost und roh; er ist mir nicht geheuer. Ich sehe, dass ich weiterkomme.
Zum Glück parkt in
geringer Entfernung ein tschechischer Touristenbus. Ich frage den Fahrer, ob
er vielleicht nach Karpacz fährt und
mich bis dorthin mitnehmen kann. Ja, in zwei Stunden ungefähr würde er fahren,
und ich könne dann auch gern mitkommen. Der verwilderte Junge ist nicht mehr zu
sehen, doch ich verbringe die Wartezeit lieber in der Nähe des Busses.
Gegen fünfzehn Uhr
erreichen wir die Talstation des Sessellifts, mit dem ich vor einem
Dreivierteljahr in Richtung Schneekoppe geschwebt bin. Von den tschechischen
Touristen will mir niemand die neun Zloty Fahrgeld geben. Der Umtauschkurs sei
für sie sehr schlecht, und Polen sei für sie sehr teuer. Also mache ich mich
auf dem nahen Wanderpfad zu Fuß auf dem Weg. Doch schon nach wenigen hundert
Metern bekomme ich beim Anblick des langen, steilen Anstieges weiche Knie. An
einer Lichtung sitzt auf einem Feldstein ein dicker, gemütlich wirkender Mann.
Dem Dialekt nach kommt er aus Bayern. Als ich frage, ob er mir das Geld für den
Lift geben würde, zückt er sein Portmonee und reicht mir zehn Zloty.
Erleichtert kehre ich um und reihe mich in die Schlange an der Kasse.
Eine gute Stunde später
stehe ich auf dem Gipfel. Doch diesmal gelange ich nicht bis zu dem Restaurant
auf der tschechischen Seite. Ein Soldat hält mich an und möchte meinen Ausweis
sehen. Da ich keinen aktuellen Einreisestempel habe, weiß er sofort, dass ich
aus Polen komme und schickt mich wieder dorthin zurück.
Na gut, dann muss ich es
eben woanders versuchen. Östlich der Schneekoppe erstreckt sich eine Bergkette,
deren Gipfelkamm die Grenze bildet. Darauf verläuft der "Pfad der
polnisch-tschechischen Freundschaft", welcher von Bürgern beider Länder
betreten werden darf. Hier und da liegen halb entblößte Menschen am Wegrand,
die sich von der intensiven Gebirgssonne bräunen lassen. Nach einem guten
Kilometer kommen mir zwei Uniformierte entgegen. Plötzlich verschwinden sie auf
der tschechischen Seite zwischen den Krüppelkiefern, um kurz darauf mit einem
dritten Soldaten ihren Weg zur Schneekoppe fortzusetzen. Mich beachten sie
glücklicherweise überhaupt nicht.
Die Stelle scheint also
zur Zeit unbewacht zu sein. Ich streife mein Hemd ab und lege mich südlich des
Weges in die Sonne. Nachdem einige Minuten lang alles ruhig geblieben ist,
ziehe ich meine Kleidung wieder an und lasse mich vorsichtig, Meter um Meter,
den Hang hinunterrollen. Bald werden die Bäume höher, der Wald wird dichter.
Nun kann ich aufstehen und laufen. Minuten später erschrecke ich heftig: mitten
auf einer Lichtung, deren Rand ich gerade erreicht habe, steht ein hölzerner
Turm. Doch schnell wird mir klar, dass dies kein Grenzwachturm sein kann; es
ist nur ein Jägeranstand. Ich bin also schon mitten in der Tschechoslowakei.
Jetzt läuft es sich leichter.
Bald mündet der Waldweg
in eine asphaltierte Straße. Ich bin unsicher, in welche Richtung ich gehen
muss, um Pec, die nächstgelegene tschechische Stadt zu erreichen. Ich wende
mich zunächst nach links. Kurz darauf habe ich erneut Grund zum Erschrecken.
Zunehmendes Motorengeräusch verkündet ein großes entgegenkommendes Fahrzeug. Um
die Kurve biegt jener Bus, mit dem ich am Nachmittag von Szklarska Poreba nach
Karpacz gefahren bin. Der Schofför und die Fahrgäste schauen mich im
Vorbeifahren voller Erstaunen an, und aus meinem Blick spricht sicherlich
leichtes Entsetzen. Als der Bus meinem Blick entschwunden ist, springe ich in
die Büsche und halte mich dort ein paar Minuten versteckt. Dann beruhige ich
mich wieder, aber ich bin mir jetzt sicher, dass ich in die verkehrte Richtung
laufe. Der Bus kann schließlich nur vom Grenzübergang gekommen sein, und das
bedeutet, dass ich genau auf die Grenze zu gehe. Umkehren also, wieder
zurücklaufen zu jenem Waldweg und daran vorbei! Tief in der Nacht erreiche ich
Pec, wo ich mein Nachtlager auf der Rückbank eines ausgedienten Skoda-Octavia
aufschlage.
Am Mittag des
darauffolgenden Tages - es ist Montag, der 20. Mai - bin ich erst sechzig
Kilometer weiter. Die zwei Brötchen und die Milch in Szklarska Poreba waren die
einzige Nahrung, die ich in den vergangenen drei Tagen zu mir genommen habe.
Während ich durch Jicin laufe und ein Auto nach dem anderen an mir vorbeifährt
ohne anzuhalten, mache ich meiner Frustration durch wütendes Füßestampfen Luft.
Das hat ein halbes Dutzend Mädchen
gesehen, die in einer Berufsschule auf der anderen Straßenseite am Fenster
stehen. Laut lachend verspotten sie mich. Das macht mich noch wütender und ich
sehe zu, dass ich weiterkomme.
Am Ortsaugang von Jicin
machen hinter einem Drahtzaun drei Bauarbeiter Mittagspause. Ich erzähle ihnen,
dass mir in Pec mein Geld gestohlen worden ist und bitte um eine Kleinigkeit zu
essen. Sie reichen mir ein dickes Kuchenbrot mit dem Durchmesser eines
mittleren Tellers. Ungläubig staunend beoachten sie, wie es in Sekunden in
meinem Mund verschwindet. Ich bedanke mich und stelle mich wieder an die
Straße. Wenig später kommt von dem Betriebsgelände eine Frau mit einem
Geldschein wedelnd auf mich zu.
"Ich habe gehört,
was Ihnen bei uns passiert ist. Hier, nehmen Sie doch wenigstens eine
Kleinigkeit, nur eine Kleinigkeit." Mit diesen Sätzen in bestem Deutsch
drückt sie mir den Zehn-Kronen-Schein in die Hand. Dann bittet sie mich
mitzukommen in den Betrieb. Dort gäbe es einen Laden, wo ich mir etwas zu essen
kaufen könne. Ich entscheide mich für zwei Packungen Kekse und zwei Flaschen
Limonade, welche sich in kürzester Zeit
zu dem Kuchenbrot gesellen. Die Frau erzählt, dass von einem hiesigen Betrieb
häufig LKWs in die DDR fahren. Sie wolle dort anrufen und fragen, ob mich nicht
jemand mitnehmen kann. Doch heute gehen leider keine Fuhren in diese Richtung.
Schließlich fragt die Frau, ob ich in Pec nicht zur Polizei gegangen bin.
"Doch", sage ich, "aber die meinten, sie könnten auch nichts
machen."
"Ich will einmal
unsere Polizei hier in Jicin anrufen. Irgendwie muss Ihnen doch geholfen
werden." Mein Erschrecken versuche ich zu verbergen, so gut es geht.
"Ach, das ist nicht
nötig. Ich komme schon irgendwie nach Hause." In der Hoffnung, sie damit
von ihrem Vorhaben abgebracht zu haben, stelle ich mich wieder an die Straße.
Fünf Minuten später erscheint die Frau erneut. "Ich habe bei der Polizei
angerufen; sie meinten, sie schicken jemanden, aber es kann eine Weile dauern.
Wie lange, konnten sie mir nicht sagen."
Auweia, jetzt ist Eile
geboten; nix wie weg aus Jicin!
Ein paar Meter weiter
hat gerade ein LKW angehalten. Der Beifahrersitz ist zwar besetzt, aber ich
erkenne, dass es im hinteren Teil der Kabine noch zwei Sitzplätze gibt. Ja, er
würde mich schon mitnehmen, sagt der Fahrer, aber er fahre erst in zwanzig
Minuten weiter.
Es ist die Zeit der
alljährlichen "Radfernfahrt für den Frieden Warschau - Berlin -
Prag". Während ihrer Mittagspause verfolgen die beiden im Radio die
Live-Übertragung vom Etappenziel. Leicht nervös blicke ich mich um. "Kann
ich vielleicht schon einsteigen?" "Ja, gut, komm rein."
Uff, so bin ich
zumindest dem Blickfeld entschwunden.
Nach wenigen Kilometern
ist der Lastwagen von der Route nach Prag abgebogen, und ich stehe nun an einer
Straßengabelung auf freiem Feld. Hier ist mir wesentlich wohler. Bald schon
hält ein zweiter LKW, der bis nach Prag fährt. Die Straße, auf der wir in die
Stadt rollen, kommt mir bekannt vor. Das ist ja die Sokolovska! Ich schaue auf
die Hausnummern: 97 ... 73 ... 55 ... 49! Hier wohnt Rudolf.
Er ist erstaunt und
erfreut, dass ich ihn schon wieder besuchen komme. Diesmal bleibe ich fast eine
Woche, in der wir eine Menge Unsinn verzapfen, herumbalgen, die Leute auf dem
Fußweg mit Wasser begießen ...
Rudas Mutter behandelt
mich freundlich und fürsorglich wie bei meinen vorangegangenen Besuchen. Dabei
ist ihr offenbar schnell klar geworden, dass ich diesmal von zu Hause
ausgerissen bin. Als ich schließlich sage, dass ich am nächsten Tag heimfahren
werde, verlässt sie das Haus und kommt eine Stunde später mit einer
Zugfahrkarte nach Dresden zurück.
Am Sonntag Mittag
verabschiedet mich die gesamte Familie auf dem Bahnsteig. Erneut stehe ich vor
der Frage, wo ich aussteigen soll, doch diesmal steht meine Entscheidung schon
früh fest. Schließlich bin ich illegal in der CSSR, und wenn ich jetzt die
Grenze überquere, werde ich wahrscheinlich verhaftet. Also fahre ich nur bis
Decin. Von dort aus trampe ich am Abend zum Grenzübergang Zinnwald/Cinovec, wo
ich am nächsten Morgen sicher einen Autofahrer finden werde, der mich wieder
ins Landesinnere mitnimmt. Die Nacht verbringe ich auf einer Sitzbank im
Omnibus-Wartehäuschen.
Montag, 27. Mai 1974.
Bis zum Nachmittag bin ich über Prag nach Pilsen gelangt. In der Pförtnerloge
einer Fabrik bitte ich um ein Stück Karton und einen Stift. In großen
Buchstaben schreibe ich auf Deutsch: Zur Grenze.
Nicht dass ich mich
schon fest zur Flucht entschlossen hätte; es sind vor allem finanzielle Gründe,
die mich jetzt in Richtung Bayern treiben. Touristen aus der Bundesrepublik
dürfen, wie ich erfahren habe, ihr restliches tschechoslowakisches Geld aus dem
Zwangsumtausch weder ausführen noch zurückwechseln. Stattdessen werden sie am
Kontrollpunkt genötigt, ihre letzten Kronen dem Roten Kreuz zu spenden. Wenn
ich als „armer Bruder aus dem Osten“ die Schlange der Autos vor dem Übergang
abklappere, bekomme ich vielleicht ein ganz hübsches Sümmchen zusammen, denke
ich. Bei dieser Gelegenheit kann ich auch gleich die Lage erkunden und schauen,
ob sich ein Durchschlupf findet ...
Mein Schild hat
geholfen; nach kaum zwanzig Minuten hält ein Tanklastzug der Marke Büssing. Der
Fahrer, vielleicht fünfunddreißig Jahre alt, blond, ein echter Bayer, ist
unterwegs nach Bayerisch Eisenstein. Der Name des Grenzortes auf der
tschechischen Seite, Zelezna Ruda, bedeutet, wie er mir erklärt, das gleiche:
Eisenerz. Aus dem Radio tönt es "Strahler-Küsse schmecken besser ..."
Ich glaube, er würde
mich sogar in seinem LKW über die Grenze schmuggeln, wenn er nur eine Chance
sähe. Doch er beschreibt mir haarklein, wie gründlich die Tschechen den Wagen
kontrollieren. Da ist nichts zu machen.
Nach einer guten Stunde
sind von einer Anhöhe herab ein paar Dächer erkennbar. "Da vorn ist schon
Bayerisch Eisenstein." Der Fahrer hat Angst, mich direkt bis zum Übergang
mitzunehmen und setzt mich schon bei den ersten Häusern von Zelezna Ruda ab.
Bevor ich aussteige, schenkt er mir noch drei D-Mark. Dann fährt er weiter, und ich, nichts Böses
ahnend, mache mich zu Fuß auf den Weg in die gleiche Richtung.
Drei einheimische Männer
haben den Vorgang von der anderen Straßenseite aus beobachtet. Der jüngste von
ihnen springt auf seine weinrote 'Java' und prescht zu mir heran. "Kam
jdes?" - Wohin gehst du? "Hranice?" Na klar, wohin denn sonst.
Er rauscht davon und
taucht Sekunden später wieder auf. Hinter ihm sitzt jetzt ein bewaffneter
Offizier. Der springt ab, verlangt meinen Ausweis und fordert mich auf, ihm zu
folgen. Zweihundert Meter entfernt befindet sich zur Linken ein Gebäude, das
etwas größer und grauer ist als die umgebenden Einfamilienhäuser. Davor lungert
eine Hand voll Soldaten herum. Vom Grenzübergang selbst ist noch nichts zu
erkennen. Der Offizier verschwindet mit meinem Ausweis im Haus, während ich in
Gesellschaft mehrerer Maschinenpistolen vor der Treppe warten muss.
Es vergeht eine kleine
Ewigkeit, ehe der Mann wieder erscheint und mich auffordert, in einen Jeep zu
steigen. Die Fahrt endet schon nach Sekunden. Ich werde in einen Raum mit
winzigen Fenstern geführt, in dem nur ein Tisch und ein paar Stühle stehen.
Hier erwartet uns ein Mann in Zivil, der fließend Deutsch spricht. Er redet
freundlich mit mir, ist aber ungeheuer beharrlich. Stundenlang wiederholt er
die gleiche Frage: "Du hast keinen Einreisestempel, also: Wie bist du in
die CSSR gekommen?" Für zwei, drei Stunden halte ich gegen, wiederhole
ebenso beharrlich meine Version, dass ich mit dem Zug über Decin eingereist
bin. Aus irgendeinem Grund habe man mir diesmal keinen Stempel gegeben.
Vielleicht war es ein Versehen; kann ja mal vorkommen, oder?
Doch als es draußen
dunkel wird, fordern die Strapazen der Reise ihren Tribut. Zwar konnte ich mich
bei Rudolf etwas erholen, aber die vielen Tage des Hungerns und des wenigen
Schlafes haben tiefere Spuren hinterlassen Deshalb wiederhole ich, während sich
mein Kopf allmählich der Tischplatte zuneigt, schließlich nur noch: "Ich
hab Hunger und ich bin müde."
"Sag uns, wie du in
die CSSR gelangt bist, dann bekommst du zu essen und kannst schlafen."
"Ich hab Hunger ..."
Nach wohl vier Stunden
wird auf dem Tisch eine Straßenkarte der Tschechoslowakei ausgebreitet.
"Du brauchst uns nur zu zeigen, wo du in die CSSR gekommen bist, dann
kriegst du zu essen und kannst schlafen." Ich schaue meinem Zeigefinger
zu, wie er sich hebt und zum oberen Rand der Karte bewegt ...
Damit ist für die beiden
der Auftrag erfüllt. Der Dolmetscher verschwindet und kommt wenig später mit
zwei Schmalzbroten zurück, die ich gierig verschlinge. Dann werde ich wieder
zum Jeep gebracht und in eine nahe Villa gefahren. In einem Raum im ersten
Stock stehen fünf oder sechs Holzpritschen die nur am Kopfende ein wenig
gepolstert sind. Der Offizier bedeutet mir, dass ich mich hier hinlegen kann, was
ich noch im selben Moment tue. Dass mir jemand eine Filzdecke überwirft,
bekomme ich nicht mehr mit.
Die Sonne steht schon
hoch, als ich erwache. Am Fußende der Pritschen trippelt ein Soldat mit
geschulterter Maschinenpistole hin und her. Ich bin sein einziger Gefangener.
Vor dem vergitterten Fenster stehen Apfel- und Kirschbäume in ihrer schönsten
Blüte. Dieser Anblick erfüllt mich mit Wehmut. Wenn ich auch nicht weiß, was
weiter geschehen wird, so fühle ich doch tief in mir, dass ich solche Bilder vorläufig
nicht mehr häufig zu sehen bekommen werde.
Bald holen mich zwei
Männer in Zivil ab. Die Fahrt in einem blauen 'Wolga' geht Richtung Nordwesten,
immer in der Nähe der Grenze zu Bayern entlang. Als wir nach gut zwei Stunden
Cheb durchqueren, wird mir das Ziel der Reise klar. Kurz darauf nimmt mich in
Schönberg ein Grenzbeamter der DDR in Empfang, legt mir Handschellen an und
führt mich in einen Keller.
An einer Wandseite
befinden sich etwa zehn Türen, von denen die Hälfte verschlossen ist. Der
Offizier schiebt mich auf eine der halb geöffneten Türen zu und schließt hinter
mir ab. Die Zelle hat kaum einen Quadratmeter Grundfläche; wenn ich mich auf
das in den Beton eingelassene Brett an der Rückwand setze, berühren meine Knie
schon fast die Tür.
Bald bemerke ich, dass
ich mich in Gesellschaft von fünf oder sechs Leidensgefährten befinde. Aus den
anderen Zellen tönen immer wieder Rufe der Beschwerde über die Behandlung; Mein
Zellennachbar findet es unerhört, dass man ihn in Cheb mitten auf der Straße verhaftet
habe und beteuert seine Unschuld. "Das wird der Staatsanwalt klären",
ertönt draußen der lakonische Kommentar.
Ich selbst bleibe stumm
Nach Stunden wird
endlich der Bitte um etwas zu trinken entsprochen; auch ich bekomme ein halbes
Glas Orangensaft hereingereicht.
Es muss schon später
Nachmittag sein, als erneut die Schlüssel rasseln. Einzeln werden wir zu einer
"Grünen Minna", einem grün-beigen Kleinbus der Marke 'Barkas'
geführt. Der Raum hinter der Fahrerkabine ist in etwa acht Zellen aufgeteilt,
die so winzig sind, dass ich nur in Hockstellung darin sitzen kann. Es gibt
kein Fenster; eine winzige Glühlampe an der Decke verhindert völlige
Dunkelheit. Ich muss gegen die Fahrtrichtung in der letzten Zelle zur Rechten
Platz nehmen, welche wegen der Rundung in der Karosserie offenbar noch kleiner
ist als andere. Noch immer bin ich in Handschellen.
Die Fahrt in diesem Sarg
dauert eine gute halbe Stunde.
Als ich anschließend in
ein grauschwarzes Sandsteingebäude geführt werde, erhasche ich neben der Tür einen
Blick auf das „Firmenschild": Justizvollzugsanstalt Plauen. Die
erwachsenen Männer, welche mit mir hierher überführt wurden, bekomme ich nur
kurz zu Gesicht, denn ich werde gleich darauf in den Hof gebracht, wo mich zwei
Volkspolizisten in einem 'Lada' erwarten. In einem Polizeirevier in der
Innenstadt von Plauen nimmt man mir endlich die Handschellen ab und ich bekomme
etwas zu essen. Die Nacht verbringe ich in einer über zwanzig Quadratmeter
großen, schmutzig-grauen Zelle, die nur mit einer einzelnen Holzpritsche
ausgestattet ist.
Tags darauf übernimmt
mich ein älterer Taxifahrer; ich muss auf der Rückbank seines Wartburg Platz
nehmen. Auf meine Frage, wohin er mich bringt, antwortet er nur "Ins
Kinderheim nach Karl-Marx-Stadt." Ansonsten verläuft die Fahrt auf der
Autobahn ohne Worte.
Das Durchgangsheim, eine
dreistöckige Villa unweit der Autobahn, ähnelt mit seinen vergitterten Fenstern
jenem Gebäude, in welchem ich in Slupsk ein paar Tage verbringen musste. Durch
eine geöffnete Saaltür im Erdgeschoss erspähe ich verschiedene Spiele, Bücher
und ein Fernsehgerät. Die übrigen Kinder und Jugendlichen können sich hier
während des Tages frei bewegen, doch ich werde, nachdem meine Habseligkeiten
registriert und in Verwahrung genommen wurden, in einem Zimmer im Dachgeschoss
eingeschlossen. Es ist vollgestellt mit eisernen Doppelstockbetten. Dreimal
täglich bekomme ich Essen gebracht; eine halbe Stunde später wird das Geschirr
wieder abgeholt. Wenn ich auf die Toilette will, muss ich klingeln und warten,
bis ein Wärter erscheint. Ansonsten bleibt mir zwei Tage lang nichts anderes zu
tun als auf einem der Betten zu sitzen und der Dinge zu harren, die da kommen
werden.
Am Freitagmittag werde
ich endlich wieder ins Erdgeschoss geholt. Ich muss den Erhalt meines Portmonees,
meiner Bernsteinsammlung und anderer Kleinigkeiten quittieren. Dann empfängt
mich ein rüder Kerl mit den Worten: "Gommse, gommse, Herr
Grensvorrläddsor!"
Draußen steht ein
ziviler 'Wolga'. Der Mann befiehlt mir barsch, mich auf der Rückbank genau in die
Mitte zu setzen, die Hände neben die Beine auf den Sitz zu legen und mich ja
nicht zu bewegen. "Beim geringsten Fluchtversuch mache ich von der
Schusswaffe Gebrauch!"
Auf der Autobahn fährt
er stets genau die erlaubten hundert Stundenkilometer. Als einmal ein anderes
Auto zum Überholen ansetzt, hupt er, droht mit der Faust und zeigt auf eine
Polizeimütze, die im Rückfenster liegt. Der andere Wagen ordnet sich brav
wieder hinter uns ein.
In Dresden-Wilder Mann
verlassen wir die Autobahn und halten nach wenigen hundert Metern vor einer von
hohen Buchen umstandenen Villa. Ich lese: Kinder-Durchgangsheim Dresden. Der
Mann, der mich in Empfang nimmt, fragt in freundlichem Ton, in welchem
Stadtbezirk ich wohne, und in diesem Moment keimt Hoffnung in mir auf, dass ich
noch heute wieder frei sein werde. Doch ich komme kaum dazu zu sagen; "In
Klotzsche", als mir der Polizist ins Wort fällt. "Nee, nee, das is ä
gans schwährorr Junge, der gommd in'n
Gnasd!"
* * *
Zwei Stunden später
überquere ich auf dem Rücksitz eines 'Wartburg' die Augustusbrücke. Wieder
liegen meine Arme in Handschellen. Am Altstädter Ufer erstreckt sich zur Linken
die Brühlsche Terasse, zur Rechten der Theaterplatz mit der Katholischen
Hofkirche und genau vor mir die Passage vom Schloss zum Marsstall, welche -
obwohl seit Februar 1945 nur noch eine
ausgebrannte Ruine - nach wie vor Würde und Schönheit ausstrahlt.
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Hier enden meine
Aufzeichnungen aus den 1980er Jahren. Die darauf folgenden
viereinhalb Monate verbrachte ich in der Untersuchungshaftanstalt des
Volkspolizeipräsidiums in der Dresdner Schießgasse. Ich konnte mich
nie dazu durchringen, mich allzu detailliert an diese Zeit zu
erinnern. Deshalb hier auch nur ein grober Zustandsbericht:
Fast den ganzen Tag lang
war ich mit ein bis zwei anderen Jugendlichen zwischen 14 und 17
Jahren in einer sechs Quadratmeter kleinen Zelle eingeschlossen.
Darin befanden sich ein stählernes Doppelstockbett, ein an die Wand
klappbarer Tisch und Sitz, ein Schemel, ein kleiner Wandspind, ein
Waschbecken und eine Toilette. Unter dem Doppelstockbett lag ein
Brett mit einer Matratze darauf, das nachts hervorgezogen wurde, wenn
die Zelle mit drei Personen belegt war. An der Decke baumelte eine
unverkleidete Glühbirne, die morgens um 5 Uhr ein- und abends um 19
Uhr ausgeschaltet wurde. Das Fenster bestand aus Glasziegeln, durch
die sich gerade noch erkennen ließ, ob es draußen Tag oder Nacht
war. Darunter befand sich ein Schieber für die Lüftung, der jedoch
so angebracht war, das ein Blick nach draußen unmöglich war.
Gegen 9 Uhr morgens gab es
20 Minuten Hofrundgang. Dazu mussten wir im Gänsemarsch und in
gewissem Abstand voneinander die Treppe hinuntergehen und
anschließend im engen Innenhof – ebenfalls im Gänsemarsch - einen
kreisrunden Plattenweg entlang marschieren. Wer gehbehindert war oder
z.B. durch Sprechen auffiel (denn das war strikt verboten), musste
auf einem engeren inneren Plattenweg einsam seine Kreise ziehen.
Wer Geld auf seinem
Anstaltskonto hatte, konnte einmal pro Woche nach dem Hofgang an
einem Schalter einige zusätzliche Lebensmittel einkaufen. Zigaretten
wurden erst ab 18 Jahren verkauft, so dass in meiner Zelle niemals
jemand Zugang zu Tabakwaren hatte. Vereinzelt gelang es uns jedoch,
während der Rückkehr vom Rundgang bei erwachsenen Häftlingen etwas Obst
oder Honig gegen eine Schachtel Zigaretten einzutauschen.
Von einzelnen Ausnahmen
abgesehen – konkret erinnere ich mich an einen Brandstifter –
waren alle meine Zellengenossen Jugendliche, die in der Nähe der
Westgrenze verhaftet worden waren, die meisten in der
Tschechoslowakei wie ich, einige andere auf dem Bahnhof
Eisenach.
Das einzige Geräusch, das
von draußen zu uns drang, war das Hupen der Elbdampfer an den nahen
Anlegestellen unter der Brühlschen Terrasse. Es gab keinen Fernseher
und kein Radio, also auch keinerlei Musik. Als nach über drei
Monaten einmal Radiomusik aus dem Aufenthaltsraum der Schließer an
mein Ohr drang, kam mir das wie ein Traum vor.
Die Zeit war für mich
nicht traumatisch, dh. ich wurde nicht vergewaltigt und auch nur
ein Mal von einem Schließer geschlagen und getreten, aber angenehm
war sie ganz sicher nicht.
In diesen Monaten fand die
Fußball-Weltmeisterschaft in der Bundesrepublik statt, während der
die Bundesrepublik in der Gruppenphase mit 1:0 von der DDR besiegt,
später aber dennoch Weltmeister wurde. Dies alles bekamen wir
natürlich mit, wenn auch immer mit ein bis zwei Tagen Verzögerung,
da unsere einzige Informationsquelle die Tageszeitungen waren, die
wir abonnieren konnten. Neben Zeitungen gab es auch Bücher zu lesen.
Einmal pro Woche kam ein Kalfaktor mit einem Bücherwagen vor die
Zelle, und jeder Häftling konnte sich für eine Woche ein Buch
ausleihen. Wenn wir zu dritt in der Zelle waren, gab es also immer
drei Bücher, die wir untereinander austauschen konnten, so dass wir
die ganze Woche über einigermaßen beschäftigt waren. Einmal musste
ich jedoch zwei Wochen allein in der Zelle verbringen, und das war
die schlimmste Zeit. Das Buch hatte ich jeweils nach zwei Tagen
ausgelesen; danach gab es fünf Tage lang so gut wie nichts mehr,
mit dem ich mich beschäftigen und damit einigermaßen ablenken
konnte. Wenn die Tageszeitung „Junge Welt“ hereingereicht wurde,
begann ich auf Seite 1 links oben und hatte sie nach einer halben
Stunde bis zur letzten Seite rechts unten durchgelesen.
Zu Vernehmungen war ich
nur in den ersten zwei Wochen zwei- oder dreimal geholt worden.
Anklagepunkt war natürlich der berüchtigte Paragraph 213
(Ungesetzlicher Grenzübertritt), Absatz 3: „Vorbereitung und
Versuch sind strafbar.“ Dass ich tatsächlich ungesetzlich eine
Grenze überquert hatte, nämlich die von Polen in die
Tschechoslowakei, spielte dabei keinerlei Rolle, sondern es ging
lediglich darum, mir eine Fluchtabsicht in den Westen nachzuweisen.
Doch beharrte ich bei den Vernehmungen stets darauf, dass ich
lediglich an die Grenze gefahren sei, um bei ausreisenden
Westdeutschen etwas Geld zu erbetteln.
Am Donnerstag, den 17.
Oktober 1974 wurde ich plötzlich aus der Untersuchungshaft
entlassen, ohne dass ein Verfahren gegen mich eröffnet worden war.
Danach sollte ich noch knapp fünf Jahre in der DDR leben.