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Matti

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letzte Änderung 08.04.2015
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Meine Flucht aus der DDR

Die folgenden Aufzeichnungen habe ich in den Jahren 2011 und 2012 verfasst. Mit Ausnahme einiger weniger Ortsnamen und Daten, die ich im Internet recherchieren musste, konnte ich mich an alle wesentlichen Fakten auch nach über 30 Jahren noch klar erinnern.
Unter statistischen Gesichtspunkten war diese Flucht nicht ungewöhnlich, denn von den Balkanstaaten Ungarn, Rumänien und Bulgarien aus konnten während der 28-jährigen Existenz der Berliner Mauer mehrere tausend Menschen der DDR entkommen. Eine Besonderheit hat sie aber doch: Sie ist zweifellos eine von sehr wenigen gelungenen Fluchten – möglicherweise sogar die einzige -, zu der sich spontan drei Personen zusammenschlossen, die sich vorher alle nicht kannten.
Der Zeitpunkt – Spätsommer 1979 – erscheint mir rückblickend symptomatisch für die Situation der DDR insgesamt. Ich halte es daher auch nicht für Zufall, dass wir den „Eisernen Vorhang“ genau an jenem Tag überwinden konnten, an dem zwei Familien aus Thüringen in einem selbst gebauten Heißluftballon die wohl spektakulärste aller Fluchten aus der DDR gelang. Wenige Wochen und Monate zuvor hatten einige weitere Personen der DDR auf recht bemerkenswerte Weise den Rücken gekehrt. So überflogen von Suhl und Potsdam aus zwei junge Männer den Todesstreifen in Segelflugzeugen, und ein Ingenieur aus Dresden, der lediglich Erfahrung mit Segelflugzeugen hatte, konnte mit seiner Familie in einem gestohlenen Motorflugzeug die Bundesrepublik erreichen. Mindestens eine Flucht in dieser Periode endete jedoch tragisch. Am 10. September 1979 ertranken vier Personen im Alter zwischen 19 und 30 Jahren sowie ein zweijähriges Kind bei dem Versuch, auf einem selbst gebauten Katamaran über die Ostsee zu fliehen. Die Summe dieser ungewöhnlichen Fluchten sehe ich heute als ein erstes zaghaftes Signal, dass es mit der DDR zu Ende ging, und dieses Ende näherte sich in Etappen von jeweils fünf Jahren.* (Einige Anmerkungen hierzu im Anschluss an diesen Bericht)
Im Frühjahr 1984 sah sich das SED-Regime erstmals genötigt, das politische Überdruckventil zu öffnen, indem es mehreren zehntausend Menschen, die einen Ausreiseantrag gestellt hatten, das Verlassen der DDR gen Westen gestattete. Das nützte ihm jedoch gar nichts, denn bereits im Sommer 1984 kam es zur ersten Massenflucht ausreisewilliger Personen in die Prager Botschaft der Bundesrepublik Deutschland. Was sich weitere fünf Jahre später - im Sommer und Herbst 1989 - zutrug, ist hinlänglich bekannt.

Vorgeschichte


Ich wurde im Januar 1959 in Dresden geboren und verbrachte in dieser Stadt und in der unmittelbaren Umgebung meine Kindheit und Jugend. Im April 1974 lief ich von zu Hause fort und wurde einige Wochen später in der Tschechoslowakei unweit der Grenze zur Bundesrepublik Deutschland verhaftet. Zwar liebäugelte ich mit dem Gedanken an eine Flucht in den Westen, war dazu aber noch nicht fest entschlossen. Es waren vor allen Neugier und Naivität, die mich dazu trieben, mir die Grenzgegend näher anschauen zu wollen. Außerdem hatte ich gehört, dass Bundesbürger und andere Westeuropäer tschechoslowakisches Geld weder ausführen noch zurückwechseln durften, sondern an der Grenze genötigt wurden, den verbliebenen Betrag dem Roten Kreuz zu spenden. Ich hoffte, dass sie diesen lieber mir, einem "armen Bruder aus dem Osten", schenken würden, so dass ich noch einige Zeit in der Tschechoslowakei überleben konnte. Die Grenze und den Grenzübergang bekam ich jedoch gar nicht zu Gesicht, sondern wurde schon einige hundert Meter vorher festgenommen. Tags darauf wurde ich an die DDR ausgeliefert und musste anschließend 5 Monate in der Untersuchungshaftanstalt Dresden verbringen. Im Oktober 1974 wurde ich plötzlich entlassen, ohne dass ein Verfahren gegen mich eröffnet worden war. (Einzelheiten hierüber sind in meinem Beitrag Autobiographische Skizzen 1971-1974 nachzulesen.)
Danach hatte es zunächst den Anschein, als könne ich wieder ein normales Leben führen und eine berufliche Entwicklung nach meinen Vorstellungen nehmen.
Mein Vater hatte während meiner Abwesenheit eine langjährige Arbeitskollegin geheiratet und bewohnte mit ihr und ihrem damals achtzehnjährigen Sohn eine Zweizimmerwohnung in Dresden-Johannstadt. Er war linientreues SED-Mitglied, ein “Hundertzehnprozentiger“, wie es so schön hieß. Obwohl er seine Kindheit in Bochum verbracht hatte und erst durch die Kriegsumstände auf das Gebiet der späteren DDR geraten war, hatte er bis dahin keinerlei westliche ideologische Einflüsse im Hause geduldet. Bei der Scheidung von seiner zweiten Frau Gudrun im Mai 1972 hatte er als einen der Scheidungsgründe angegeben, sie habe westdeutsche Zeitschriften unter dem Bett versteckt. Mein kleines Taschenradio, ein Erbstück meines Großvaters, hatte er ein Jahr später auf dem Boden zerschmettert, als er mich dabei ertappte, wie ich einen westdeutschen Rundfunksender hörte.
Nach seiner dritten Heirat musste er diesbezüglich jedoch einige Kröten schlucken. Auch meine neue Stiefmutter Brigitte war SED-Mitglied, jedoch wesentlich liberaler eingestellt. Mein Stiefbruder Detlev, mit dem ich mir nun für einige Monate das kleinere der beiden Zimmer teilen musste, hatte eine komplette Wand mit leeren Zigarettenschachteln westlicher Fabrikation tapeziert und besaß eine beeindruckende Schallplattensammlung mit westlicher Rockmusik. Zum Teil war diese in der DDR selbst veröffentlicht, zum Teil aber auch aus der Bundesrepublik eingeschmuggelt worden. So kam es, dass ich am Abend meiner Entlassung aus der Untersuchungshaft - nach fünf Monaten ohne jegliche Musik – zum ersten Mal ein Stück der Beatles hörte: „She loves you yeah yeah yeah ...“
Ich glaubte mich in einem Traum, in einer anderen Welt …

Dass sich mein weiteres Leben doch nicht so ganz in den erhofften Bahnen würde entwickeln können, begann ich schon am darauf folgenden Tag zu ahnen, als ich im Präsidium der Volkspolizei meinen Personalausweis abholen wollte. Statt diesem bekam ich einen so genannten PM 12, eine zweiblättrige Klappkarte mit der Aufschrift: „Vorläufiger Personalausweis für eingezogenen Personalausweis der DDR“. Sie war ein Jahr gültig und stigmatisierte mich bei zahlreichen Gelegenheiten als ausgestoßene Person.
Als ich im Oktober 1975 erneut im Volkspolizeipräsidium erschien, um meinen Personalausweis in Empfang zu nehmen, erhielt ich stattdessen einen Vermerk in den PM 12, dass dessen Gültigkeit um ein Jahr verlängert wurde. Auf meine Frage nach dem Grund erklärte mir die Beamte barsch: “Wir sind nicht verpflichtet, Begründungen zu geben!“ Dieselbe Prozedur sollte sich noch zweimal wiederholen. Nach dem dritten Jahr, im Oktober 1977, reichte es mir, und ich schrieb Eingaben an mehrere Dienststellen der Volkspolizei. Daraufhin bekam ich zweimal Besuch von Polizeibeamten in Zivil. Natürlich konnten sie mir keinerlei nachvollziehbare Begründung für diese Maßnahme geben und konnten oder wollten mir auch keine Hoffnung für die Zukunft machen. Sie mahnten mich lediglich, mich weiterhin entsprechend den gesetzlichen Vorschriften zu verhalten. Im Oktober 1978 schließlich zeigte sich, dass meine Eingaben nicht umsonst gewesen waren, denn nach Ablauf der dritten Verlängerung erhielt ich anstandslos meinen alten Personalausweis zurück.

Mittlerweile war jedoch etwas geschehen, was meine Zukunftsaussichten in der DDR noch viel nachhaltiger beeinflussen sollte.
Seit meiner Entlassung aus der Haft besuchte ich die 52. Oberschule Dresden in Johannstadt, nur wenige hundert Meter von unserer damaligen Wohnung entfernt. Dort wiederholte ich das neunte Schuljahr. Ich fügte mich recht gut in die neue Klasse ein, und meine Zensuren am Schuljahresende waren besser als zuvor in Klotzsche. Im März 1975 zogen wir in eine geräumigere Wohnung in Dresden-Plauen, am Südrand der Stadt. Nun hatte ich endlich wieder ein eigenes Zimmer, musste jedoch täglich etwa eine Stunde Straßenbahnfahrt für den Weg in die Schule und zurück auf mich nehmen.

Seit meiner Kindheit stand mein Berufswunsch fest: Ich wollte Straßenbahnfahrer werden. Dafür gab es in der DDR eine zweijährige Berufsausbildung zum „Facharbeiter für städtischen Nahverkehr“, in der unter anderem mit der Wartung und Reparatur von Straßenbahnen und Bussen vertraut gemacht wurde. In jeder Dresdner Straßenbahn hingen Werbeplakate für diese Berufsausbildung, denn bei den Verkehrsbetrieben der Stadt herrschte großer Fachkräftemangel. Mit meinem damaligen Zensurendurchschnitt von ca. 2,3 wäre ich mit Kusshand genommen worden und machte mir deshalb um meine berufliche Zukunft keine Sorgen.
Später wurde mir bald klar, dass ich diese Arbeit wohl nicht lange durchgehalten hätte. Doch hätte ich eine abgeschlossene Berufsausbildung gehabt, die Voraussetzung für den Zugang zum Abiturkurs an der Volkshochschule war. Zwei Jahre später hätte ich dann die Hochschulreife erlangt und ein Studium aufnehmen können. Leider kam alles ganz anders …

Gegen Ende der 9. Klasse fand die so genannte Berufsberatung statt. Dazu wurden alle Schülerinnen und Schüler einzeln vor ein Gremium aus Lehrern und Vertretern des Ministeriums für Volksbildung gebeten. Als die Reihe an mir war, kam ich kaum dazu, meinen Berufswunsch auszusprechen. Sofort fiel mir der Schuldirektor Pinkert ins Wort: „Nein, du lernst Agrotechniker auf einem Staatsgut bei Löbau.“
Der Schock dieser Worte begann sich erst ganz allmählich in mir auszuwirken. Zunächst standen die Sommerferien vor der Tür, während derer ich die Realität noch ein wenig durch zahlreiche Reisen per Anhalter verdrängen konnte. Da ich mit meinem vorläufigen Personalausweis nicht einmal mehr nach Polen und in die ČSSR reisen durfte, zog ich kreuz und quer durch die DDR, fuhr mehrmals für ein bis zwei Tage nach Thüringen, nach Berlin und an die Ostsee.
Mit Beginn der 10. Klasse jedoch erfasste mich tiefste Frustration. Wenngleich ich einige Jahre meiner Kindheit in kleinstädtisch-ländlichen Verhältnissen verbracht hatte, hatte es mich doch immer zu meinen Großeltern ins nahe Dresden gezogen, und mittlerweile fühlte ich mich vollständig als Großstadtmensch. Die Vorstellung von einem Leben als Bauer in der Einöde zwischen Bautzen und der polnischen Grenze war mir schlichtweg ein Graus.
Irgendjemand wollte mich offenbar aus Dresden weghaben. Bis heute weiß ich nicht, welche konkrete Rolle mein Vater in dieser Sache gespielt hat, doch bin ich überzeugt, dass er daran beteiligt und wahrscheinlich sogar der Initiator war. Als linientreuer Genosse sollte es ihm jedenfalls nicht schwer fallen, andere SED-Mitglieder für seine Pläne zu gewinnen.

Im Herbst 1975 hatte ich meine Zukunft weitgehend abgeschrieben. Bis zum Beginn der Winterferien im Februar 1976 war ich an 52 Tagen, d.h. an etwa der Hälfte aller Schultage, dem Unterricht ferngeblieben. In der DDR war das ein hinreichender Grund für die Einweisung in einen Jugendwerkhof.
Am 25. März 1976 brachte mich mein Vater persönlich in den Jugendwerkhof „Junge Welt“ im nahen Freital. Bis zu meinem 18. Geburtstag im Januar 1977 musste ich hier im Schichtbetrieb im Edelstahlwerk arbeiten. Der Tagesablauf außerhalb der Arbeit ähnelte Kasernendrill.

Nach meiner Entlassung unternahm ich einen letzten Versuch, mich mit dem System der DDR zu arrangieren. Ich arbeitete zunächst in einer Gewürzmühle und besuchte ab September 1977 einen Volkshochschulkurs zum Abschluss der 10. Klasse.
Wenige Wochen nach mir nahm auch ein Hilfspolizist – eine jener hirnlosen Personen, deren dumpfe Machtsucht vom Polizeisystem der DDR gern für Spitzeldienste auf vorgeschobenen Posten missbraucht wurde – die Arbeit in der Gewürzmühle auf. Heute bin ich überzeugt, dass er ausschließlich wegen mir auf diesen Arbeitsplatz gesetzt worden war. Am 15. Juni 1977 fand in Dresden ein spektakulärer Lohngeldraub auf offener Straße statt. Als die fieberhafte Suche nach den Tätern zunächst erfolglos blieb, begann sich dieser Hilfspolizist plötzlich einzubilden, ich sei an jenem Tag nicht zur Arbeit erschienen, und teilte dies seiner Dienststelle mit. Offenbar brauchte er dringend ein Erfolgserlebnis. Umgehend bekam ich auf Arbeit Besuch von der Polizei und wurde ins Präsidium in der Schießgasse gefahren. Dort erwartete mich eine Sonderkommission aus Berlin. Als mir klar wurde, dass sie mich dieses Lohngeldraubes verdächtigten, musste ich laut lachen. Das konnten die Herren aber gar nicht vertragen. Einer packte mich beim Kragen, drückte mir die Kehle zu und zischte mich an: “Mit den Sachsen kannst du das vielleicht machen, aber nicht mit uns!“ Dennoch mussten sie bald einsehen, dass ich mit der Sache nicht das Geringste zu tun hatte.

Nach einem Jahr war ich der Arbeit in der Gewürzmühle überdrüssig und suchte mir eine neue Beschäftigung als Radialbohrer im „VEB Elektromotorenwerke Dresden“. Wenige Monate später schloss ich die 10. Klasse an der Abendschule mit einem Zensurendurchschnitt von 1,5 ab. Leider konnte ich den Schulbesuch nicht fortsetzen, denn wie erwähnt brauchte ich zunächst eine abgeschlossene Berufsausbildung. Für eine direkte Lehre war ich mittlerweile zu alt, und die Lust am Straßenbahn Fahren hatte auch nachgelassen. So nahm ich an der Abendschule eine Ausbildung zum Zerspaner (Dreher, Fräser, Bohrer) auf. Vom Betrieb erhielt ich keinerlei Unterstützung, denn statt an den Maschinen, denen die Ausbildung galt, wurde ich an Pressen und ähnlichen Vorrichtungen eingesetzt, an denen ich täglich hunderte oder tausende Male dieselben Bewegungen wiederholen musste – Arbeit, die sonst niemand machen wollte. Außerdem wurde mir immer klarer, wie weit der Weg zu einem Studium für mich noch war. Wäre ich nach der 8. Klasse auf die Erweiterte Oberschule oder nach der 10. Klasse zur Berufsausbildung mit Abitur delegiert worden – das Zeug dafür hatte ich ja durchaus -, würde ich jetzt schon mitten im Studium stecken. So aber würde es noch zwei Jahre bis zum Abschluss der Berufsausbildung dauern, danach würde mich wahrscheinlich die NVA zum anderthalbjährigen Grundwehrdienst einziehen - vielleicht würden sie mich mit Hinblick auf meinen gewünschten Studiengang auch zu „freiwilligen“ 3 Jahren Wehrdienst erpressen -, anschließend dann noch zwei Jahre Abiturlehrgang, so dass ich bei etwas Glück mit 25 oder 26 hätte anfangen können zu studieren. Dafür fehlte mir schlichtweg die Geduld, denn ich war von einem gewaltigen Fernweh beherrscht und verband mit einer akademischen Berufsausbildung auch immer die Hoffnung auf Auslandsreisen

Ganz hatte ich den Gedanken an eine Flucht aus der DDR in den letzten 4 Jahren nie aufgegeben, doch nun, im Herbst 1978, begann ich mir wieder verstärkt Gedanken darüber zu machen. Als ich von einem Engländer las, der auf einem mit Tragflächen und Propeller ausgestatteten Fahrrad den Ärmelkanal überflogen hatte, war ich von der Idee einer solchen Flucht fasziniert. Die Autobahn von Dresden nach Berlin führte in ihrem letzten Abschnitt geradewegs auf Rudow in West-Berlin zu und endete 2 km vor der Mauer. Nach Mitternacht war sie stets für einige Stunden völlig verwaist, so dass ich dort ungestört hätte Anlauf nehmen können.
Nun ja, erst einmal hätte ich ein solches Fahrrad ja bauen müssen, doch ich wusste nicht, wie, und ich wusste nicht, wo. Von Aerodynamik hatte ich zwar einige Ahnung; dennoch hätte ich erst einige Probeflüge machen müssen, und mir war klar, dass das in doppelter Hinsicht gefährlich war. Zum einen hätte ich abstürzen können, zum anderen wäre das zweifellos irgendjemandem aufgefallen, und ich hätte bald wieder Besuch von der Staatsmacht bekommen.
Diesen Plan habe ich also nie ernsthaft in Angriff genommen. Dafür wurde ich sofort hellhörig, als ich im Februar 1979 mit meinem Saufkumpan Siggi im Radeberger Keller am Postplatz saß und er ganz beiläufig den Vorschlag machte, wir könnten ja im Sommer mal nach Bulgarien fahren. Natürlich: Seit vier Monaten hatte ich wieder meinen normalen Personalausweis; die Chancen standen also nicht schlecht, nun endlich auch eine Reiseerlaubnis für die Balkanstaaten zu bekommen. Und von Bulgarien aus kam man ganz einfach in die Türkei, da brauchte man nur am Schwarzmeerstrand entlang zu laufen. Das jedenfalls hatte mir ein Mitgefangener während meiner Haft erzählt …

Zunächst war es nur eine Idee, doch im Juni entwickelte sich das Ganze zu einem handfesten Plan, den ich nun mit aller Entschlossenheit umsetzte. Vorausgegangen waren einige Ereignisse, die mir restlos bewusst machten, in welch gigantischer Kontrollmaschine ich saß.
Zu Pfingsten 1979 organisierte die FDJ ein so genanntes Nationales Jugendfestival in Ost-Berlin als kleinen Abklatsch der Weltfestspiele von 1973. Bei dieser Gelegenheit durften etwa 75'000 geladene linientreue Jugendliche in Blauhemden vor der Partei- und Staatsführung vorbeidefilieren. Die Vorbereitungen dazu hatte ich bisher kaum zur Kenntnis genommen, da mich das Ganze nicht im Geringsten interessierte.
Als ich am letzten Montag im Mai gegen Mitternacht von der Spätschicht nach Hause kam, prangte an unserer Wohnungstür eine Postkarte mit einem riesigen Stempel der Kriminalpolizei und der Aufforderung, am darauf folgenden Morgen um 8 Uhr in ihrer Dienststelle zu erscheinen.
Ich dachte nicht daran!
Gegen 9 Uhr - ich war gerade aufgestanden – hielt ein Lada vor unserem Wohnblock, dem zwei Herren in identischen braunen Anzügen entstiegen. Mir war sofort klar, dass sie zu mir wollten.
Es dauerte eine ganze Weile, ehe sie zur Sache kamen. Zunächst wollten sie natürlich wissen, warum ich nicht um 8 Uhr bei ihnen erschienen war. Meine Erklärung, dass ich Schicht arbeitete und meinen Schlaf brauchte, nahmen sie widerspruchslos zur Kenntnis. Es folgte eine Reihe belangloser Fragen, wie es mir gehe, wie mir meine Arbeit gefalle, was ich im Urlaub vorhabe …
Schließlich zogen sie die Schlinge enger: „Und was haben Sie zu Pfingsten vor?“
Darüber hatte ich mir noch gar keine Gedanken gemacht. „Sie wollen nicht zufällig nach Berlin fahren?“ Jetzt erst begann es bei mir zu dämmern. „Nein.“
„Und …Sie können uns versprechen, dass Sie nicht nach Berlin fahren werden?“ Dieses Versprechen fiel mir nicht schwer. Ich hatte niemals auch nur angedacht, an jenem Wochenende nach Berlin zu fahren. Was sollte ich dort?
„Wir können Sie hier nicht festhalten, aber falls Sie doch nach Berlin fahren, hätte das ernsthafte Konsequenzen für Sie!“
Als sie schon in der Tür standen, meinte einer von ihnen noch: „Und denken Sie daran: Ob Sie im Urlaub nach Bulgarien fahren können, hängt auch von uns ab!“
Keine Viertelstunde später klingelte es erneut. Diesmal war es der Abschnittsbevollmächtigte**, ein etwa Dreißigjähriger, der auf jugendlich machte und mich verständnisvoll lächelnd fragte: „Hallo, wie geht’s, alles klar?... Wann gehst du auf Arbeit?“
„Um eins.“
„Ok, kannst du vorher kurz in meinem Büro vorbeikommen? Ist nur ’ne Kleinigkeit, dauert keine drei Minuten.“
Die Kleinigkeit bestand aus einem vorgefertigten Formular mit etwa folgendem Text:
„Ich, Matthias Behlert, wurde darüber belehrt, dass ich in der Zeit vom 2. bis 5. Juni 1979 Berlin, Hauptstadt der Deutschen Demokratischen Republik, nicht zu betreten und mich auch ansonsten entsprechend den gesetzlichen Bestimmungen zu verhalten habe. Zuwiderhandlungen werden mit Ordnungsstrafverfahren bzw. Strafverfahren geahndet.“
Ich brauchte nur zu unterschreiben, und schon konnte ich meinen Weg zur Arbeit fortsetzen.
Vom Mittwoch auf den Donnerstag derselben Woche tauschte ich auf Wunsch meines Meisters die Schicht und arbeitete am Donnerstag daher schon vormittags. Gegen 10 Uhr rief mich der Meister in sein Büro, wo ich zwei mir bereits bekannte Herren in identischen braunen Anzügen erblickte. „Wir wollten Sie noch bitten, das hier zu unterschreiben."
„…Aber das habe ich doch schon unterschrieben!“
Die beiden Herren verstanden zunächst überhaupt nichts. „Sooo…? Wo denn?“
„Beim ABV.“
„Sooo …? Hmmm … ja … also wenn das so ist … wenn Sie das schon unterschrieben haben … dann brauchen sie das natürlich nicht noch mal zu unterschreiben.“
Am Pfingstsonntag – ich hatte auf einem Campingplatz mit Bekannten durchgemacht und war gerade in mein Bett gesprungen – klingelte es gegen 10 Uhr morgens an der Wohnungstür. Ich hörte, wie mein Vater öffnete und wenig später etwas murmelte von „… grundsätzlich Verständnis, aber ist das nicht etwas übertrieben …“ Kurz darauf klopfte es an meiner Zimmertür, und einer der braunen Herren steckte seinen Kopf herein: „Guten Morgen, Herr Behlert, ich wollte mich nur überzeugen, dass Sie tatsächlich nicht nach Berlin gefahren sind.“ Mittlerweile war auch meine Stiefmutter im Korridor erschienen, und ich hörte, wie sie dem Herrn ins Treppenhaus nachrief: „Arschloch!“

Irgendwie hatte es sich ergeben, dass ich die Balkanreise nicht mit Siggi, sondern mit meinem Stiefbruder plante. Detlev ließ kaum eine Gelegenheit aus, sich abfällig über die „Zone“ zu äußern, und obwohl ich ihn eigentlich nicht sehr gut kannte, hatte ich, was meine Fluchtgedanken anging, volles Vertrauen zu ihm. Er selbst schien von einer Flucht zunächst auch begeistert, änderte während der verbleibenden Monate jedoch ständig seine Meinung. Zum einen konnte er wohl nicht recht an ein Gelingen glauben und hatte große Angst vor einer Verhaftung, zum anderen beängstigten ihn auch die Verhältnisse im Westen. Seit seiner Entlassung vom Wehrdienst arbeitete er als Kraftfahrer in der Nähe von Leipzig, wo er auch westliche Fernsehprogramme empfangen konnte (anders als in Dresden, das deshalb den Spitznamen „Tal der Ahnungslosen“ trug). Anfang August sah er eine Reportage über den harten beruflichen Existenzkampf von Kraftfahrern in der Bundesrepublik. Daraufhin legte er sich endgültig fest, dass er keine Flucht versuchen würde.
Im Juli fuhren wir zusammen für ein Wochenende nach Polen, wo wir ein kleines Zelt und eine Luftmatratze für zwei Personen kauften. Ein oder zwei Wochen später erstand ich in Prag einen geräumigen Rucksack mit Tragegestell. Solche für den Campingurlaub unentbehrlichen Gegenstände waren in der DDR kaum zu bekommen.
Etwa zur selben Zeit hatte ich die Reisegenehmigung für die Balkanstaaten beantragt. Anfang August erschien ich zur Abholung und bekam sie zu meiner großen Freude und Erleichterung tatsächlich ausgehändigt. Es war nur ein kleiner Zettel mit dem Aufdruck “Reiseanlage für den visafreien Reiseverkehr“. Auf der Rückseite war mit Schreibmaschine vermerkt:

15 Tage VR Ungarn
15 Tage SR Rumänien
15 Tage VR Bulgarien

Nun schien alles klar, doch sollte meine Reise im letzten Moment noch mehrmals in Gefahr geraten. Zunächst machte sich, als ich schon beim Packen war und alles Nötige übersichtlich ausgebreitet hatte, unser Zwergpapagei ausgerechnet über die Reisegenehmigung her und begann sie genüsslich zu zerknabbern. Zum Glück bemerkte ich das ziemlich schnell, so dass er nur eine Ecke beschädigen konnte.
Am Vortag unserer Abreise fuhr ich nach Dresden-Niedersedlitz und wechselte in der dortigen Filiale der Staatsbank Geld in die Währungen der Länder, die ich bereisen würde. Zurück am Hauptbahnhof spielte mir mein Portmonee einen Streich. Als ich es öffnete, klappte das hintere Fach auf, und zwei Dutzend blaue, grüne, rote und gelbe Scheine flatterten über den windigen Bahnhofsvorplatz. Glücklicherweise halfen mir mehrere Passanten beim Einsammeln, und ich bekam tatsächlich alles zurück. Niemand hatte auch nur geschaut, um welche Währung es sich handelte.
Ursprünglich sollte Freitag, der 24. August 1979, mein letzter Arbeitstag werden und unsere Reise am Samstag beginnen. Da Detlev aber bereits Urlaub hatte, fragte ich am Mittwoch meine Kaderleiterin, ob ich nicht schon ab Freitag Urlaub nehmen könne. Sie hatte keine Einwände, und das war vielleicht mein größtes Glück.
Wie ich später erfuhr, klingelten an jenem Freitag Nachmittag gegen 15.00 Uhr – als ich mit Detlev im Zug nach Prag saß und die DDR bereits verlassen hatte – zwei Polizisten an der Wohnung meiner Oma, bei der ich des öfteren gewohnt hatte. Der Zeitpunkt deutete stark darauf hin, dass sie mich bei Schichtende am Betriebstor erwartet hatten. Als ich dort nicht erschien, machten sie sich auf die Suche nach mir.
Von meinen Fluchtabsichten hatte ich nur einem polnischen Arbeitskollegen erzählt, mit dem ich befreundet war. Allerdings konnte ich später nie glauben, dass er mich verpfiffen hat, zumal er kaum Deutsch sprach. Während der letzten Arbeitstage war ich in den Pausen jedoch ständig damit beschäftigt gewesen, Straßenkarten der Balkanländer zu studieren. Einmal ertappte mich ein älterer Kollege – SED-Mitglied oder zumindest in der Gewerkschaft aktiv - dabei, wie ich mich auf die Grenzgegend zwischen Bulgarien und Griechenland konzentrierte, und sagte: „Willst du etwa abhauen? Im Westen gehst du unter!“ Natürlich gab ich mir alle Mühe, seinen Verdacht zu zerstreuen, doch vermutlich war er es, der mir die Polizei auf den Hals gehetzt hat. Von meinem vorgezogenen Urlaubsantritt hatte er zum Glück nichts mitbekommen.

Das Land meiner Träume war nicht die Bundesrepublik, das waren die Niederlande. Im Frühjahr hatte ich auf einem Flohmarkt in Breslau ein uraltes Langenscheidt-Wörterbuch Deutsch-Niederländisch erstanden und begonnen, die Sprache zu erlernen. Seit dem Frühsommer hielt ich mich häufig auf Campingplätzen auf und suchte dort vor allem Kontakt zu Niederländern. So bekam ich mehrere holländische Zeitungen und Zeitschriften geschenkt. (Die Einfuhr deutschsprachiger Presserzeugnisse aus dem westlichen Ausland war streng verboten, doch gegen Zeitschriften in anderen Sprachen, hatten die DDR-Zöllner nichts einzuwenden.) Ein Bekannter, der im „Graphischen Großbetrieb 'Völkerfreundschaft'“ arbeitete, zweigte für mich zudem drei Science-Fiction-Romane auf Niederländisch ab, die dort gedruckt wurden.
Mein Plan war es, mich bis in die Niederlande durchzuschlagen und dort um politisches Asyl zu bitten. Wie ich erst nach der Wende erfuhr, wäre das auch durchaus möglich gewesen. Doch sollte alles etwas anders kommen.

Die Idee, mich am Schwarzen Meer entlang von Bulgarien in die Türkei zu schleichen, hatte in den Wochen vor unserer Abreise zwar immer noch einen festen Platz in meinem Kopf, doch zog ich nun zunehmend auch andere Wege in Betracht. Ich war nicht mehr so naiv wie bei meiner Verhaftung 1974 und ahnte, dass die Flucht von Bulgarien in die Türkei wohl doch nicht so einfach sein würde, wie mir im Knast geschildert worden war. Zuletzt spielte ich vor allem mit dem Gedanken, über die Rhodopen nach Griechenland zu fliehen. Dass es auch an dieser Grenze eine intensive Überwachung gab, war mir klar. Aber im Hochgebirge hatte sie vielleicht ein paar größere Lücken …


Reise auf den Balkan


Am sonnigen Freitagvormittag saß ich eine gute Stunde vor einer Cafeteria gegenüber dem Hauptbahnhof und schaute die Prager Straße entlang – im Bewusstsein, dass es für lange Zeit mein letzter Blick auf Dresden sein würde. Gegen Mittag reiste Detlev aus Leipzig an, und am frühen Nachmittag bestiegen wir den Zug nach Prag. Aus meinem schnarrenden alten Kassettenrecorder tönte Musik von Procol Harum, als die DDR-Grenzer die Abteiltür öffneten und unsere Dokumente kontrollierten. Für sie war es Routine, und sie hatten keinerlei Verdacht. Wären wir einen Zug später gefahren, hätten sie möglicherweise schon einen Steckbrief von mir gehabt. Doch das konnte ich zu jenem Zeitpunkt nicht ahnen. Eine knappe halbe Stunde nach Abfahrt befanden wir uns bereits in der Tschechoslowakei.
Obwohl Detlev drei Jahre älter als ich war, überließ er mir von nun an widerspruchslos das Kommando, da ich mich im Ausland viel sicherer bewegte und mir besser zu helfen wusste als er. Vor allem in Prag kannte ich mich mittlerweile bestens aus, und vor meinen Sprachkenntnissen hatte Detlev großen Respekt.
Am frühen Abend schlugen wir unser Zelt am Moldauufer im Prager Stadtteil Braník auf – auf jenem Campingplatz, auf dem ich sechs Jahre zuvor schon eine Woche mit meiner Schulklasse verbracht hatte. Auch hier suchte ich vor allem Kontakt zu Niederländern und freundete mich mit zwei Brüdern aus der Provinz Nordholland an. Sie waren in einem alten buckligen Volvo, Baujahr 1963, angereist. Das fand ich etwas seltsam, denn alle anderen Autos aus dem westlichen Ausland waren viel moderner und schnittiger. Für einen echten Oldtimer wiederum war er noch nicht alt genug. Am Samstag und Sonntag unternahmen wir zu viert einige Touren durch die Stadt. Den Namen des Dörfchens, aus dem die beiden Brüder stammten, prägte ich mir fest ein, und acht Jahre später sollte ich sie zu Hause besuchen.
Dass sich der Sommer dem Ende entgegen neigte, spürten wir vor allem an den sehr kühlen Nächten in Prag. Für Temperaturen unter 10° C waren unsere Schlafsäcke nicht ausgelegt. Als wir unsere Reise am frühen Montagnachmittag wie geplant in Richtung Budapest fortsetzten, war ich nicht nur deshalb froh, sondern auch, weil das Abenteuer für mich jetzt erst richtig losging. So gut ich Prag mittlerweile auch kannte – östlich oder südöstlich davon war ich noch nie gewesen. Die dichten, finsteren Fichtenwälder, die der Zug nun durchquerte, hatten für mich etwas Magisches. Ich fühlte mich an die düsteren Sagengestalten aus dem Buch „Slowakische Märchen“ erinnert, aus dem uns im Schulhort oft vorgelesen worden war.

Es dämmert schon, als wir endlich die Grenze erreichen und zur Rechten die Donau in Sicht kommt. Eine gute halbe Stunde dauert die Fahrt nach Budapest jetzt noch. Im letzten Abendlicht versuche ich zu erkennen, was in Ungarn anders ist als in den Ländern, die ich bisher kenne. Nun ja, ein paar kleine Unterschiede sehe ich – in der Architektur und Farbgebung der Häuser, in den Nummernschildern der Autos …, aber nichts Gravierendes.
Seit Prag haben wir nichts mehr gegessen, also zieht es uns auf dem Westbahnhof zuerst ins Bahnhofsrestaurant. Das hat einen etwas morbiden Charme. Es ist noch aus der Zeit der K.u.K. Monarchie übrig geblieben und seitdem offenbar nicht mehr renoviert worden. Eine kleine Zigeunerkapelle sieht in uns Neuankömmlingen ideale Opfer. Demonstrativ postieren sie sich neben unserem Tisch und ziehen erst ab, nachdem wir ihnen etliche Forint hingelegt haben.
Anschließend überqueren wir mit der Straßenbahn die Donau. Die Fahrt führt über das Südende der legendären Margareteninsel, einem beliebten Treffpunkt und Schlafplatz junger ostdeutscher Touristen, der, wie wir gehört haben, in letzter Zeit jedoch regelmäßig von der Polizei geräumt wird. Deshalb besteigen wir am Budaer Ufer die Vorortbahn HÉV und fahren gen Norden zum Romai Camping. Eine Übernachtung in unserem kleinen Zelt kostet hier umgerechnet etwa 20 Mark. Das erschreckt uns nicht nur deshalb, weil es fast 30-mal teurer ist als auf den Campingplätzen in der DDR, sondern auch, weil unser Vorrat an Forint sehr begrenzt ist und wir hier nichts mehr umtauschen können. Am Kiosk gibt es zahlreiche Biersorten zu kaufen, darunter die begehrten ostdeutschen Marken Radeberger und Wernesgrüner, die in der DDR kaum zu bekommen sind. Jedoch kostet eine Flasche etwa fünf Mark. Wenigstens ist es hier noch hochsommerlich warm, auch nachts.
Am nächsten Morgen rufe ich Kati an, eine junge Budapesterin, die ich im Mai in Prag kennen gelernt habe. Ich hoffe, dass sie uns helfen kann, eine günstigere Unterkunft zu finden. Sie selbst lebt in beengten Verhältnissen, gibt uns aber die Telefonnummer ihrer älteren Schwester. Diese bewohnt mit ihrem Mann eine Dreizimmerwohnung in einer Villa am Gellértberg. Da sie gerade Besuch haben, müssen wir zunächst unser Zelt im Vorgarten aufschlagen. Die Nacht verläuft etwas ungemütlich, denn das Gelände ist leicht abschüssig, und wir rutschen ständig zum Fußende. Am nächsten Morgen bringen wir unser Gepäck in die Wohnung und können nun endlich unbeschwert die Stadt erkunden. Hier gibt es tatsächlich fast alles zu kaufen, Schallplatten der Rolling Stones (die in der DDR nicht gespielt werden dürfen), Levis-Jeans, Schweizer Schokolade … Leider ist das meiste für uns völlig unerschwinglich. Auf einem großen Obst- und Gemüsebasar herrscht eine fast orientalisch anmutende Atmosphäre. Die östlichste Stadt, die ich je gesehen habe, und zugleich die westlichste.
Die verbleibenden zwei Nächte verbringen wir im Bett im Gästezimmer. Am regnerischen Donnerstag unternehmen wir eine Fahrt mit der Kindereisenbahn durch die Berge am Budaer Ufer. Während ich auf der Sitzbank Platz nehme, erkenne ich gegenüber ein Ehepaar aus der Nachbarschaft meiner Oma, mit dessen beiden Söhnen ich seit der Kindheit lose befreundet bin. „Die Welt ist doch ein Dorf!“ sagt die Frau. Es ist wohl das letzte Mal, dass ich sie sehe.
Am Freitagmorgen scheint wieder die Sonne. Nachdem wir uns reisefertig gemacht haben, spülen wir sämtliches Geschirr und bringen die Küche auf Hochglanz. Das ist die einzige Art, die mir einfällt, uns für die Gastfreundschaft erkenntlich zu zeigen. Dann verschließen wir die Wohnungstür, werfen den Schlüssel in den Briefkasten und machen uns auf den Weg zur Ausfallstraße Richtung Süden. Da unser ungarisches Geld zu Ende geht, versuchen wir es von hier ab per Anhalter. Nach einer halben Stunde Winken hält ein fabrikneuer Bus der Marke Ikarus. Seine Sitze sind mit Plastikfolie überzogen; er wird wohl gerade ausgeliefert. Nun fahren wir durch die Puszta, scheinbar endloses Grasland ohne die geringste Erhebung. Nur hier und da steht ein Gehöft mit dem typischen ungarischen Ziehbrunnen. Am Nachmittag setzt uns der Fahrer in Szeged ab, und nachdem wir in einem Fischrestaurant am Rande der Stadt gegessen haben, fragen wir uns zur Straße Richtung Rumänien durch. Die Grenze ist nicht mehr weit; wir hoffen, sie heute noch erreichen zu können. Leider winken wir für den Rest des Tages vergeblich. Die paar Autos, die hier vorbeikommen, sind entweder voll besetzt oder fahren - wie uns die Insassen mit Gesten klarmachen - nur bis in ein nahes Dorf.
Als die Sonne schon tief steht, sehen wir jemanden auf uns zu kommen. Erst nach einer Weile wird uns klar, dass es sich um einen Mann handelt. Die mehr als schulterlangen glatten blonden Haare ließen zunächst eher an eine Frau denken. Mit seiner runden Nickelbrille wirkt er wie ein jüngerer John-Lennon-Verschnitt. Sein einziges Gepäckstück ist eine Umhängetasche, aus der ein paar Zeltstangen hervorschauen. Es ist Frank aus Berlin-Köpenick, der ebenfalls in Richtung Bulgarien unterwegs ist.
Die Nacht verbringen wir auf einem schmalen Grasstreifen neben der Straße. In der Morgendämmerung erwachen wir, weil das Zelt über uns zusammenfällt und wir draußen Männerstimmen hören. Es sind zwei Polizisten, die für wildes Zelten keinerlei Verständnis haben. So stehen wir schon früh morgens wieder an der Straße und werden nach einer guten Stunde alle drei in einem PKW mitgenommen. Der Fahrer will eigentlich nur in das Städtchen Makó, hat aber sofort begriffen, dass wir nach Rumänien unterwegs sind, und fährt wegen uns fast 20 km weiter bis zum Grenzübergang Nagylak. Es ist Samstag, der 1. September 1979.
Die rumänischen Zöllner kennen auf Deutsch scheinbar nur ein Wort, und das ist zugleich das einzige, was sie an uns interessiert, denn während sie in unserem Gepäck wühlen, fragen sie mehrmals „Waffen?“
Dreißig Meter hinter dem Grenzübergang nehmen wir am Straßenrand Aufstellung. Links und rechts ziehen sich Felder. In einem Graben gegenüber quaken tausende Frösche. Etwa 700 Meter weiter ist das erste rumänische Dorf zu erkennen. Uns ist ein wenig bange, was uns im „wilden“ Rumänien wohl erwartet. Kürzlich erst habe ich eine haarsträubende Geschichte gehört von einer ostdeutschen Familie, die mit dem Auto in Rumänien unterwegs war, als plötzlich ein Zigeunerjunge über die Straße lief. Der Fahrer konnte nicht mehr bremsen und überfuhr das Kind. Zu Fuß machte er sich auf ins nächste Dorf, um die Polizei zu verständigen, und ließ Frau und Kind im Auto. Als er zurückkam, fand er das Auto ausgebrannt und Frau und Kind an einem Baum erhängt. Einige Monate später werde ich in Düsseldorf haargenau dieselbe Geschichte zu hören bekommen - nur dass sie diesmal nicht in Rumänien spielt, sondern in Marokko …

Nicht mehr als drei bis vier Autos überqueren stündlich die Grenze, und in keinem ist Platz für drei Anhalter mit Gepäck. Wir müssen uns in Geduld üben. Nach einiger Zeit kommt ein Lastwagen einen Feldweg entlanggefahren. Auf der Ladefläche sitzen einige Frauen und Männer neben einem Berg Wassermelonen. Als er auf die Hauptstraße einbiegt, läuft ihm Frank hinterher und streckt sehnsüchtig die Arme aus. Sofort greift ein Mann eine Melone und versucht sie so vorsichtig wie möglich in den Straßengraben rollen zu lassen. Leider zerbricht sie trotzdem, doch aus den Bruchstücken können wir nun in der prallen Sonne wenigstens etwas Flüssigkeit zu uns nehmen. Am frühen Nachmittag kommt vom Grenzübergang ein kleiner Lieferwagen auf uns zu und hält. Ich als der Sprachgewandteste muss auf dem Beifahrersitz Platz nehmen, während sich Detlev und Frank auf der Ladefläche ausstrecken. Meine bisherigen Sprachkenntnisse nützen mir hier allerdings wenig, denn der rumänische Fahrer spricht kein einziges Wort irgendeiner anderen Sprache. Ein klein wenig können wir uns dennoch verständigen, denn ich meine, hin und wieder ein Wort zu verstehen, das mir aus dem Spanischen oder Italienischen vertraut ist. Als wir die Großstadt Arad durchqueren, erblicke ich auf dem Fußweg eine wunderschöne junge Frau. Ich kann nicht anders, als sie aus vollem Herzen anzulächeln. Sie lächelt ebenso herzlich zurück.

Immer noch befinden wir uns in der ungarischen Tiefebene. Dann aber taucht in der Ferne ein mächtiges Gebirge auf. Es schießt so steil und unvermittelt aus dem Flachland, dass ich mir nicht vorstellen kann, wie dort eine Straße hinaufführen soll. Noch haben wir jedoch eine halbe Stunde Fahrt bis dorthin, und beim Näherkommen erweist sich der Hang als etwas weniger steil. In Serpentinen schlängelt sich die Straße nun kontinuierlich aufwärts. Irgendwann halten wir zum Essen auf einem Parkplatz. Es scheint ein beliebter Haltepunkt für Kraftfahrer zu sein. Davon zeugen die Unmengen an Müll, die ringsherum im Wald liegen. Später kommt das Gespräch zwischen mir und unserem Fahrer unweigerlich auf
Ceauşescu. Er scheint noch einen gewissen Stolz auf seinen Staatspräsidenten zu empfinden, denn er erklärt mir gestenreich, das sei ein starker Mann, der die Russen aus Rumänien ferngehalten habe. Einige Monate zuvor habe ich Ceauşescu sogar persönlich zu Gesicht bekommen, als er zusammen mit Honecker aus Prag kommend die Dresdner Bergstraße herunterrollte. Auf dem Rücksitz des offenen Wagens wirkten die zwei winkenden schmächtigen Männer ziemlich unscheinbar.
Wenig später kam es zu einem eklatanten Bruch zwischen Rumänien und den übrigen „sozialistischen Bruderstaaten“. Kurz vor Beginn der Urlaubssaison 1979 verkündete Rumänien, es werde ausländischen Touristen Benzin künftig nur noch gegen westliche Devisen verkaufen. Damit hat die rumänische Regierung deutlich demonstriert, was sie von „sozialistischer Bündnistreue“ hält, und dieser Beschluss soll noch großen Einfluss auf unsere Fluchtpläne haben. Ungarn wird seine Grenze zu Österreich und Jugoslawien bis zum Sommer 1989 fast ausschließlich im Interesse der DDR-Regierung abriegeln, denn ungarische Staatsbürger dürfen längst in den Westen reisen. Auch Bulgarien sichert seine Süd- und Westgrenze vor allem aus Willfährigkeit gegenüber Moskau und Ostberlin. Rumänien hingegen hält seine Grenze zu Jugoslawien zwar auch dicht, allerdings nur, um die eigenen Landsleute an der Flucht zu hindern. Ausländer interessieren sie eher wenig.*** Das beginnen wir aufgrund der „Benzin-Affäre“ zu ahnen, und diesen Umstand sollen wir uns bald zunutze machen.
Nach etwa 250 km setzt uns der Mann in Deva ab. Er hält vor einer Bar und bittet uns, noch zu warten, während er darin verschwindet. Wenig später kommt er mit drei Flaschen Bier und drei Schachteln Zigaretten zurück, die er an uns verteilt. Wir sind sehr angetan von dieser Geste.
Nun befinden wir uns bereits in Siebenbürgen und müssen eine Übernachtungsmöglichkeit finden, denn der Tag neigt sich dem Ende entgegen. Hier in Deva gibt es keinen Campingplatz, erfahren wir. In Simeria, zehn Kilometer weiter, gibt es einen. Also stellen wir uns noch einmal an die Straße. Eine Gruppe von Zigeunern, die hier am Ortsausgang unweit von uns herumlungert, beunruhigt uns, und wir wollen so schnell wie möglich weiter. Als die Dämmerung hereinbricht, zücken wir unsere Taschenlampen und winken damit die vorbeifahrenden Autos an. Sie bremsen zwar, doch als sie sehen, dass es sich nicht um Polizei handelt, hupen sie wütend und fahren weiter. Wir wollen bloß weg von den Zigeunern und laufen daher ein paar hundert Meter weiter. Als es schon stockdunkel ist und wir mitten im Wald stehen, hält doch noch ein PKW. Das Ehepaar erweist sich als ausgesprochen hilfsbereit, wenngleich wir zunächst skeptisch sind, als der Mann den Kofferraum öffnet und uns auffordert, unser Gepäck hineinzulegen. Wir haben schon von Autofahrern gehört, die das Gepäck von Anhaltern erst nach Zahlung einer üppigen Summe wieder herausrücken. Doch die beiden haben nichts dergleichen im Sinn. Sie fahren uns bis zum Eingang des Campingplatzes, und als ich ihnen ein paar Lei in die Hand drücken will, lehnen sie entschieden ab.
Der Platz ist fast leer, nur ein kleines Zelt und ein Wohnmobil stehen darauf. Das Zelt gehört zwei jungen Bukaresterinnen, mit denen wir uns leider kaum verständigen können. Im Wohnmobil ist ein älteres Ehepaar aus Österreich unterwegs. Sie verbringen ihren Urlaub jedes Jahr in Rumänien, beklagen sich aber über die ständigen Schikanen der rumänischen Zöllner. “Wenn das so weiter geht“, sagt die Frau „kommen wir nicht mehr nach Rumänien, denn so schön ist es nun auch wieder nicht.“ Ihre Meinung kann ich in diesem Moment überhaupt nicht teilen, denn für mich ist es das gewaltigste Naturerlebnis, das ich bisher hatte. Deshalb widerspreche ich ihr auch: „Doch, es ist wunderschön.“ Gleich hinter dem Zeltplatz erheben sich mächtige romantische Berge. Die unbefestigte Straße entlang watscheln Scharen von Enten und Gänsen. Im Laufe des Sonntags ist nur ein-zweimal kurz das Geräusch eines Autos zu hören; während der übrigen Zeit kommen wir uns vor wie in einem früheren Jahrhundert. Gleich hinter der Straße fließt das Flüsschen Strei. Es ist kaum einen Meter tief, aber so reißend, dass Stehen nur mit Mühe möglich ist. Dabei spüre ich ständig, wie mir kiloschwere Steine gegen die Füße gespült werden.
Am Sonntagmittag treffen zwei weitere Camper ein. Aufgrund ihrer Kleidung, die zwar eindeutig westlicher Herkunft, aber schon etwas verschlissen ist, sind wir sicher, dass es sich um Ostdeutsche handelt und begrüßen sie lautstark auf Deutsch. Zu unserer Verblüffung verstehen sie kein Wort, denn sie kommen … aus England.
Am Montagmorgen schenken uns die Österreicher noch ein paar Konserven westlicher Herkunft, dann machen wir uns auf den Weg an die Fernstraße. In Rumänien gibt es deutlich weniger Autos als in den anderen Ostblockländern, die ich bisher kennen gelernt habe. Obendrein sind fast alle vom selben Typ. 90% aller Pkws sind Dacia 1300, Lizenznachbau des Renault 12. Nur sehr vereinzelt ist ein Lada oder ein
Škoda unterwegs. Die Lkws sind alle von der Marke ROMAN, Lizenznachbau eines MAN. Heute müssen wir jedoch nicht lange warten; bald nimmt uns ein Dacia-Fahrer bis Haţeg mit, wo wir erst einmal in einem Restaurant zu Mittag essen. Bisher haben wir in Rumänien immer dasselbe Menü serviert bekommen, nämlich ein gegrilltes Steak mit ein paar gerösteten Kartoffeln. Da wir auf den Straßen schon mehrere überfahrene Hunde gesehen haben und sich auf dem Fleisch stets Spuren vom Grillrost abzeichnen, scherzen wir, es handele sich um überfahrenen Hund mit Reifenspuren.
Hinter Petro
şani beginnen die Hochkarpaten. Zur Linken geht es jetzt fast senkrecht viele hundert Meter aufwärts, zur Rechten ebenso steil abwärts. Ausgerechnet hier nimmt uns ein angetrunkener LKW-Fahrer mit. Wir müssen uns zu dritt auf den einzigen Beifahrersitz des ROMAN quetschen; der Fahrer hält in der linken Hand das Lenkrad, in der rechten eine halbvolle Flasche Weißwein. Einmal streift er mit dem Hinterrad das kaum 50 cm hohe Mäuerchen zur Rechten, den einzigen Schutz vor einem Absturz in das Flüsschen Jiu. Er hält an und steigt aus, um nachzuschauen, was passiert ist, kommt aber gleich zurück und winkt lächelnd ab: 'Halb so schlimm.’ Es bleibt der einzige Zwischenfall, und wir erreichen unversehrt Tîrgu Jiu, wo die Landschaft wieder flacher wird. Hier scheint es weit und breit keinen Campingplatz zu geben, deshalb schlagen wir, als die Nacht hereinbricht, unsere Zelte auf einem Acker, in Sichtweite eines qualmenden Kraftwerks, auf.
Am darauf folgenden Nachmittag erreichen wir Craiova. Kaum sind wir aus dem Auto gestiegen, kommen ein paar Kinder bettelnd auf uns zu gelaufen „Chewing gum! Chewing gum!“ Doch die Mutter, die am Straßenrand sitzt, ruft sie zurück. 'So etwas macht man nicht!' Ohnehin haben wir keine Kaugummis dabei, noch nicht mal ostdeutsche.
Von hier aus ist es nicht mehr allzu weit bis zur bulgarischen Grenze. Wir wissen, dass es südwestlich von hier, in Calafat, einen Grenzübergang und eine Fähre über die Donau gibt. Doch die Straße dorthin ist auf unserer Karte in gelb als Straße 2. Ordnung verzeichnet, während jene, die nach Bechet direkt im Süden führt, als Straße 1. Ordnung rot eingezeichnet ist. Deshalb gehen wir fest davon aus, dass wir auch dort die Grenze überqueren können. In mehreren Etappen, unter anderem auf dem Anhänger eines Traktors, nähern wir uns der Donau. Die Landschaft hat schon ein recht südliches Flair, und ich stelle mir vor, dass es auf Sizilien ganz ähnlich aussehen mag.
In Bechet müssen wir erfahren, dass es hier doch keinen Grenzübergang gibt. Zu dumm, jetzt müssen wir uns über Nebenstraßen entlang der Donau 90 km bis nach Calafat durchschlagen. Das wird aber erst am nächsten Tag aktuell, denn inzwischen ist die Dunkelheit hereingebrochen. Wir entdecken ein gemütliches Gartenrestaurant, in dem noch ein Tisch frei ist. Nach einigen Minuten kommt ein Mann vom Nachbartisch zu uns und fragt etwas, wobei er sich eindeutig auf Frank bezieht. Wir verstehen zunächst nicht, doch dann macht er eine Geste hin zu Franks Brust und möchte diese offenbar berühren, um festzustellen, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelt. Es ist nicht das erste Mal, dass Frank in Rumänien für eine Frau gehalten wird, aber dieser hier will es offenbar ganz genau wissen. In der DDR, in Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn sind lange Haare bei jungen Männern seit Beginn der Siebzigerjahre gang und gäbe, doch in Rumänien ist diese Mode bisher nicht angekommen und wird es auch so bald nicht. Der Mann hat seine Wette verloren, und die Flasche Weißwein, die er dafür bezahlen muss, … spendiert er uns. So kommen wir ein wenig ins Gespräch und können ihm unsere Situation verständlich machen. Er wohnt in einem eben erst fertiggestellten Neubaublock, in dem noch etliche Wohnungen leer stehen. In einer von ihnen können wir unser Lager aufschlagen, doch gibt uns der Mann zu verstehen, dass er uns sehr früh rausschmeißen muss. Detlev und ich verbringen die Nacht ganz bequem auf der Luftmatratze, Frank dagegen hat nur sein Zelt zum Unterlegen.
Es ist noch nicht ganz hell, als uns der Mann weckt und zur Eile drängt. Er muss wohl zur Arbeit und will uns nicht allein hier zurücklassen. An der Straße Richtung Calafat herrscht Totenstille. Erst nach einer Stunde kommen ein paar Lkws und Traktoren vorbei, auf deren Ladeflächen und Anhängern etliche Personen sitzen. Sie fahren aber offenbar nur zur Ernte auf die nahen Felder. Wir haben nichts mehr zu essen, und allmählich macht sich Hunger bemerkbar. Deshalb beschließen Frank und ich, in die Stadt zurückzugehen, um etwas einzukaufen. Detlev bleibt mit dem gesamten Gepäck zurück, und wir vereinbaren, dass er nur in ein Fahrzeug einsteigt, welches bis zum Grenzübergang in Calafat fährt.
Als wir uns dem Zentrum nähern, fährt ein Polski Fiat mit polnischem Kennzeichen an uns vorbei, in dem zwei Personen sitzen. Das ist sicher das einzige Auto, das bis Calafat fährt, denken wir. Wir entdecken eine Bäckerei und stellen uns an die Schlange an, die bis auf die Treppe herausreicht. Doch eine Person nach der anderen dreht sich um, sieht uns und bittet uns mit einer Geste, vorzugehen. Nach weniger als einer Minute stehen wir vor der Verkaufslade. Es gibt hier nur eine einzige Art von Gebäck, große runde, flache Fladenbrote. Wir nehmen zwei Stück und hoffen, noch etwas als Beilage zu finden. An einer Kreuzung unterhalten sich zwei Frauen. Eine von ihnen hält eine große Wassermelone im Arm. Frank geht auf sie zu, um zu fragen, wo es diese zu kaufen gibt. Die Frau setzt kurz zu einer Erklärung an, entschließt sich im nächsten Moment aber anders und drückt Frank die Melone in die Hand. Nun haben wir wenigstens etwas für den Magen.
Als wir zurück an die Ausfallstraße kommen, ist Detlev verschwunden. Vermutlich haben ihn die Polen mitgenommen. Ohne Gepäck kommen auch wir bald weiter, denn ein LKW-Fahrer hält uns offenbar für Einheimische, die nur bis ins nächste Dorf wollen. Nachdem er uns dort abgesetzt hat, erblicken wir in einem Vorgarten Weintrauben von einer solchen Größe, wie ich sie noch nie gesehen habe. So groß werden bei uns kaum die Pflaumen. Die möchten wir unbedingt probieren. Im Garten macht sich eine ältere Frau zu schaffen. Als wir ihr mit Gesten klar zu machen versuchen, dass wir ein paar Trauben pflücken und probieren möchten, stimmt sie etwas zögerlich zu. Sie ist sich wohl nicht ganz sicher, ob sie uns richtig verstanden hat. Riesengroß sind diese Trauben … und herrlich süß.
Die typische ländliche Siedlungsform in Rumänien sind Straßendörfer. Zu beiden Seiten der Landstraße zieht sich, oft kilometerweit, jeweils nur eine einzige Reihe von Häusern, während unmittelbar dahinter Felder liegen. Als wir schon etwa 500 m von jenem Haus mit den Weintrauben entfernt sind und uns dem Dorfausgang nähern, rufen uns einige Dorfbewohner etwas zu und fordern uns auf, zurückzuschauen. Hinter uns eilt die sicher sechzigjährige Frau heran. Ihre Schürze ist prall gefüllt mit riesigen süßen Trauben …
Bald werden wir von einem anderen LKW mitgenommen. Etwa auf halber Strecke zwischen Bechet und Calafat hat es einen Unfall gegeben. Ein Dutzend Personen ist gerade damit beschäftigt, den Polski Fiat wieder auf die Räder zu stellen, der hier in einer S-Kurve offenbar ins Schleudern gekommen ist und sich überschlagen hat. Oh Gott, hoffentlich saß Detlev nicht darin! Doch können wir beim langsamen Vorbeifahren weder von ihm noch von unserem Gepäck irgendeine Spur entdecken. Nach wenigen hundert Metern erreichen wir ein Dorf, und dort liegt an einer Kreuzung tatsächlich unser Gepäck. Daneben steht ein Polizist. Hastig bitten wir den Fahrer anzuhalten und uns aussteigen zu lassen. Kaum stehen wir auf der Straße, läuft uns Detlev von der anderen Straßenseite mit hochrotem Gesicht entgegen. Wir sind jetzt fest überzeugt, dass er in dem Fiat saß und in den Unfall verwickelt war. Doch nichts dergleichen, er ist einfach nur sturzbetrunken.
Durch ein Missverständnis ist er in einen LKW gestiegen, der nur bis hierher fuhr. Als der Wagen plötzlich abbog, musste er aussteigen und stand nun mit Gepäck für drei Personen auf der Straße. Ein paar Bauern sahen ihn, baten den Dorfpolizisten, auf sein Gepäck aufzupassen, schleppten ihn in die Bar gegenüber und spendierten ihm ein hochprozentiges Getränk nach dem anderen. Da Detlev noch nichts gegessen hatte, dauerte es nicht lange, und er war voll bis zum Stehkragen. Als Frank und ich die Bar betreten, spendieren sie auch uns eine Art Sliwowitz. Dann aber verhalten sie sich recht reserviert. Noch zwei weitere Personen mit Schnaps zu bewirten, geht scheinbar doch über ihre Verhältnisse. Wir hingegen können uns noch nicht einmal revanchieren, denn unser rumänisches Geld ist so gut wie alle.
Für unsere Weiterfahrt sorgt der Dorfpolizist. Er hält einfach einen LKW an, fragt, wo er hinfahre und befiehlt, uns mitzunehmen. Während Detlev recht bequem in der Kabine sitzt, haben Frank und ich eine eher ungemütliche Fahrt auf der Ladefläche neben zwei großen, badewannenförmigen Bottichen mit Tomaten zu überstehen. Doch während dieser führen wir ein sehr wichtiges Gespräch. Ich selbst hatte an der ungarisch-rumänischen Grenze meine gesamten Forint ausgegeben, und nun, kurz vor der bulgarischen Grenze, sind auch meine Lei alle. Warum das so ist, weiß ich sehr gut. Doch auch Frank hat es so gehalten, was bei mir unweigerlich zu der Frage führt, wie er nach Hause fahren will, wo doch ein weiterer Umtausch unmöglich ist. Da wir nun schon fünf Tage lang gemeinsam unterwegs sind und ein wenig Vertrauen zueinander gefasst haben, entschließe ich mich auf dieser „Tomatenfahrt“ zu der Frage „Willst du etwa auch abhauen?“ Frank bejaht.
Als wir in Calafat bereits die Grenzkontrolle passiert haben und am Donauufer auf die Fähre warten, sehe ich auch den Polski Fiat in der Autoschlange stehen und gehe zu ihm hin, um mich mit den Insassen zu unterhalten. Außer dass alle Scheiben zerbrochen sind und die Karosserie ein wenig verbeult ist, ist nichts passiert. Die Scheiben haben sie durch Klarsichtfolie ersetzt und sind gewillt, ihre Urlaubsreise fortzusetzen. Auf bulgarischer Seite sehe ich sie allerdings nicht mehr wieder. Gut möglich, dass die bulgarischen Grenzer sie mit diesem Auto nicht haben einreisen lassen. Aber das bekommen wir nicht mehr mit, da wir als Fußgänger zuerst von der Fähre gehen.
Der Campingplatz befindet sich ganz am Südende von Vidin. Am Donauufer entlang müssen wir die gesamte Stadt passieren. Auf der mit Pappeln umgebenen Wiese sind wir die einzigen Camper und haben im Campingplatzverwalter quasi unsere eigene Leibwache. Wir entschließen uns, hier einen Tag Rast einzulegen. Außer einer alten Burg und einer ganz netten Fußgängerzone hat Vidin allerdings nicht viel zu bieten.
Am Freitagmittag brechen wir in Richtung Sofia auf. Bis zum späten Nachmittag sind wir jedoch kaum 30 km weiter gekommen und befinden uns noch immer unmittelbar an der Donau. Als wieder einmal ein kleiner Lieferwagen naht, reißt Frank die Geduld; er kniet sich auf die Straße und macht eine flehende Geste. Der Fahrer schaut ein wenig verblüfft und hält tatsächlich an. Und wie wir erfahren, will er sogar nach Sofia. Diesmal strecke ich mich mit Detlev auf der Ladefläche aus, während Frank auf dem Beifahrersitz Platz nimmt. Bald geht es steil in die Berge, und im Balkangebirge durchfahren wir mehrmals scheinbar bodenlose Schlaglöcher, durch die wir sicher zehn Zentimeter hoch geschleudert werden, um dann unsanft auf die metallene Unterlage zurückzufallen. In Sofia landen wir zunächst auf dem Hauptbahnhof, wo wir bei der Touristeninformation die Adresse eines Campingplatzes am Ostrand der Stadt ausfindig machen. Das ist günstig für uns, denn über die Ausfallstraße, an welcher dieser liegt, wollen wir am darauf folgenden Tag ja ohnehin in Richtung Schwarzes Meer weitertrampen. Auf diesem Campingplatz ist deutlich mehr los als in Vidin, auch ein paar Autos mit westdeutschen Kennzeichen stehen herum. Und ich trinke zum ersten Mal Schweppes-Limonade, die in Bulgarien in Gestattungsproduktion hergestellt wird.
Am Samstagmittag nimmt uns ein Arzt, der sehr gut Deutsch spricht, in einem VW „Käfer“ mit. Kaum hat er erfahren, wo wir herkommen, sagt er: „So viele junge Menschen aus der DDR versuchen am Schwarzen Meer in die Türkei zu fliehen. Versucht das bloß nicht, die werden alle verhaftet!“ Auch Frank hat schon davon gehört, dass die Flucht am Schwarzen Meer ganz leicht sein soll. Später dämmert uns, dass dieses Gerücht von der Stasi systematisch verbreitet wird, um eventuelle fluchtwillige Balkanurlauber in eine Falle zu locken. Vermutlich sind die bulgarischen Grenzer in Absprache mit den entsprechenden Behörden der DDR an dieser Stelle ganz besonders wachsam.
Bald gabelt sich die Hauptstraße, und wir müssen uns entscheiden, ob wir die nördliche Route nach Varna oder die südliche nach Burgas nehmen wollen. Trotz der Warnung des Arztes entscheiden wir uns für die südliche Route und steigen aus dem „Käfer“. Von Burgas aus sind es noch 90 km zur türkischen Grenze, und wir wollen doch zumindest ein wenig die Lage dort erkunden. Bis zum Abend erreichen wir Karlovo am Südrand des Balkangebirges. Irgendwie fühle ich mich in meine frühe Kindheit zurückversetzt, denn alles wirkt hier wie vor 15-20 Jahren in der DDR. Unsere Zelte schlagen wir unweit der Straße in einem Feld auf.
Am nächsten Morgen kommen wir rasch bis Kazanlak weiter und befinden uns jetzt auf halber Strecke zwischen Sofia und Burgas. Bald hält ein Sportwagen, der aber nur einen freien Platz hat. Frank steigt ein, und wir vereinbaren, dass er am nächsten Morgen beim südlichen Ortsausgangsschild von Burgas auf uns wartet. Für Detlev und mich läuft es mit Trampen heute dagegen überhaupt nicht. Es ist Sonntag, der 9. September, bulgarischer Nationalfeiertag. Außer zahlreichen mit Transparenten und Girlanden geschmückten LKWs und Traktoren sind so gut wie keine Fahrzeuge auf der Straße. Nach sieben Stunden vergeblichen Winkens haben wir die Nase voll. So lange musste ich als Anhalter bisher noch nie warten. Wir gehen zum Bahnhof von Kazanlak, wo wir feststellen müssen, dass erst kurz nach Mitternacht ein Zug nach Burgas fährt. Na egal, mit Trampen werden wir es jedenfalls nicht mehr versuchen.
Zum ersten Mal bin ich in einem Land, dessen Währung einen höheren Kurswert als die DDR-Mark hat. Ein Lew kostet vier Mark. Das führt bei der Umrechnung hin und wieder zu falschen Einschätzungen. Eine Fahrkarte zweiter Klasse kostet 4 Lewa, erster Klasse etwas über 5 Lewa. Der Unterschied von gut einem Lew kommt uns ziemlich gering vor, weshalb wir uns für zwei Tickets erster Klasse entscheiden. Als der Zug endlich eintrifft, müssen wir feststellen, dass er nur einen halben Wagen erster Klasse führt und dort in jedem Abteil mindestens eine Person sitzt. In der 2. Klasse dagegen herrscht gähnende Leere. Nach kurzer Strecke entscheiden wir uns daher, auf die Bequemlichkeit der besseren Sitze zu verzichten und uns stattdessen in einem leeren Zweite-Klasse-Abteil zum Schlafen auszustrecken.
Bei Tagesanbruch treffen wir in Burgas ein. Auf dem Bahnhofsvorplatz, auf dem gerade ein Wochenmarkt zum Leben erwacht, gibt ein nicht mehr ganz junger Mann vor zwei Frauen damit an, dass er alle Sprachen spricht, und fragt uns, woher wir kommen. Als wir sagen 'Germanija', gerät er jedoch in ziemliche Verlegenheit. Mühsam stammelt er ein oder zwei deutsche Wörter, die er kennt, und wird von den Frauen spöttisch belächelt.
Ich habe von einem internationalen Jugendlager bei Primorsko, etwa auf halber Strecke zwischen Burgas und der türkischen Grenze, gelesen, wo es mich jetzt hinzieht. Bis dorthin sind wir auf jeden Fall unverdächtig, und vielleicht lässt sich von da aus ja unauffällig die Grenzgegend erkunden …
Als wir gegen sieben Uhr im Bus das Ortsausgangsschild von Burgas passieren, halten wir intensiv Ausschau nach Frank. Doch von dem ist keine Spur zu entdecken. Dabei hätte er hier auf der Wiese im Schutz des Schilfdickichts gut zelten können. Also fahren wir weiter bis Primorsko. Das Jugendlager wirkt mit seinen überwiegend leerstehenden, etwas heruntergekommenen Bungalows im Wald jedoch wenig einladend. Detlev gefällt es hier überhaupt nicht. Es ist das einzige Mal auf unserer gemeinsamen Reise, dass er mir gegenüber seinen Willen durchsetzt. Wie der weitere Lauf der Ereignisse zeigen wird, tut er mir damit einen großen Gefallen. Auf der Busfahrt haben wir einen ganz netten Zeltplatz am Strand gesehen, zu dem wir nun zurückkehren. Vom Eingang aus führt eine Straße geradewegs auf das Strandrestaurant zu, zur Linken sehen wir zahlreiche Bungalows, zur Rechten ziehen sich Sanddünen, auf denen etliche Zelte stehen. Die Hochsaison ist vorbei, so dass hier kein Gedränge mehr herrscht. Das Wetter aber ist wunderbar. Während der fünf Tage, die ich hier verbringen werde, wird sich kein einziges Wölkchen vor die Sonne schieben. Nun können wir endlich ins Meer springen und uns am Strand sonnen.
Am nächsten Tag mache ich mich auf die Suche nach Frank. Zu Fuß durchquere ich das malerische Städtchen Sozopol auf einer Landzunge unweit unseres Campingplatzes. Neben der Einmündung der Ortszufahrt in die Hauptstraße gibt es einen weiteren Campingplatz, auf dem ich nahe am Zaun ein Zelt entdecke, wie Frank es hat. Solche Zelte gibt es hier viele, doch das Handtuch darauf lässt keinen Zweifel, ich habe Frank gefunden. Nachdem er zusammengepackt hat, stellen wir uns an die Straße, um die fünf Kilometer zu unserem Campingplatz zu trampen. Als nach wenigen Minuten ein beiger VW „Käfer“ mit dem Kennzeichen WUN-SR 73 vorbeifährt und bremst, wird Frank ganz aufgeregt und schreit: „Ein Bundi, ein Bundi!“ Der „Bundi“, der nur wenig älter als wir ist und einen bayrisch klingenden Dialekt spricht, setzt uns am Campingplatz Kavatsite ab und fährt weiter Richtung Süden. Am Nachmittag jedoch sehen wir den beigen „Käfer“ durch das Eingangstor des Platzes rollen. Sofort laufen wir zu ihm hin und laden den Fahrer ein, sein Zelt in unserer Nachbarschaft aufzuschlagen. Jürgen freut sich, ein paar junge Leute aus der DDR gefunden zu haben, mit denen er sich unterhalten kann. Bald erzählt er offenherzig, dass er in Bulgarien ist, um eine Freundin aus Reichenbach im Vogtland zu treffen und mal zu schauen, ob sich für ein paar Verwandte nicht ein Loch im „Eisernen Vorhang“ findet. Deshalb ist er am Mittag bis nach Rezovo an der türkischen Grenze gefahren, wo er sich im Gegensatz zu uns gefahrlos aufhalten konnte. Nach seiner Schilderung der Lage dort geben wir endgültig den Plan auf, es in dieser Gegend zu versuchen.

Unweit des Campingplatzes haben wir an Felswänden knapp unter der Wasseroberfläche riesige Kolonien schwarzer Muscheln gefunden und erfahren, dass sie genießbar sind. Irgendwoher treiben wir ein Blech auf und sitzen nach Einbruch der Dunkelheit zusammen mit ein paar ungarischen Zeltnachbarn um ein Feuer herum, schauen den Muscheln zu, wie sie sich eine nach der anderen öffnen, trinken dazu roten Sekt, den es hier überall für eine D-Mark bzw. 1, 50 DDR-Mark pro Flasche zu kaufen gibt, und ziehen nacheinander an einer Haschpfeife, die Jürgen gestopft hat. Es ist das erste Mal, dass ich Haschisch rauche. Im Frühjahr erst haben mich in Prag ein paar Bonner Studenten über die Unterschiede zwischen den verschiedenen Drogen aufgeklärt. Vorher kannte ich diesen Begriff eigentlich nur aus Schlagzeilen in DDR-Zeitungen wie „Zwanzigster Drogentoter in diesem Jahr in Westberlin“. Von Heroin, sagten sie mir, solle ich die Finger lassen, das Zeug sei gefährlich. Haschisch aber sei harmloser als Alkohol. Sie hatten sogar ein kleines Stück in die Tschechoslowakei eingeschmuggelt, es aber leider vor unserer Begegnung schon aufgeraucht. Nun habe ich also endlich Gelegenheit, es auszuprobieren und lasse mir diese natürlich nicht entgehen. Zunächst spüre ich nichts, doch nachdem ich mich fünf Minuten später zum Pinkeln in die Dünen verzogen habe, erfasst mich große Lust, mich abseits der anderen in den Sand fallen zu lassen und dort vorläufig zu bleiben. Ich bin mir jederzeit völlig bewusst, wo ich mich befinde, und doch bin ich in diesem Moment ganz woanders, nämlich in der Schweiz. Die Meeresbrandung vor mir ist das Rauschen eines Wasserfalls, und hinter mir, gleich hinter der Pappelreihe, erheben sich Dreitausender mit schneebedeckten Gipfeln ...
Sicher eine Stunde liege ich so, ehe ich mich entschließe, schlafen zu gehen. Als ich am Feuer vorbeikomme, fragt mich Jürgen etwas. Ich höre jemanden antworten und wundere mich etwas erschrocken: War ich das?
Detlev behauptet am nächsten Morgen, er habe nicht das Geringste gespürt.
Den Mittwoch verbringen wir neben Baden mit einer Segeltour. Ich finde es nur schade, dass wir dabei untätig herumsitzen müssen, während der Eigner des Bootes alle Manöver selbst ausführt.
Frank und ich haben schnell Vertrauen zu Jürgen gefasst und fragen ihn im Laufe des Tages, ob er bereit ist, uns beim Abhauen zu helfen, indem er uns bis zur Grenze mitnimmt. Er ist sofort einverstanden und sagt: „Am Samstag hole ich eine Freundin vom Flughafen ab und bringe sie ins Hotel, danach können wir losfahren.“ Abends sitzen wir zu viert bei rotem Sekt im Strandrestaurant. Es ist Detlevs letzter Abend in Bulgarien, denn am nächsten Tag geht sein Zug nach Dresden. Am Nebentisch sitzen einige junge Polen. Irgendwann drehe ich mich zu einem von ihnen um und frage auf Polnisch nach der Uhrzeit. Damit habe ich offenbar einer Schlägerei vorgebeugt, denn er meint: „Gut, dass du Polnisch sprichst. Meine Kumpels wollten euch schon aufmischen.“ Als wir am Morgen darauf den Strand entlang laufen, grüßt einer von ihnen schon von weitem auf Polnisch: „Hallo DDR!“
Gegen Mittag bringen wir Detlev nach Burgas. Zum Abschied sage ich: „Ich schicke dir dann mal eine Ansichtskarte aus Amsterdam“, woraufhin er an die beiden anderen gewandt mit ironischem Lächeln antwortet: „Ich werde Matthias im Knast besuchen kommen.“
Am späten Nachmittag kehren wir auf den Zeltplatz zurück, wo einer der Polen gerade neben dem Parkplatz steht. Als er den „Käfer“ mit westdeutschem Kennzeichen erspäht und uns darin erkennt, geht ein Ruck durch seinen Körper. Er stürzt in Richtung der Bungalows davon, kommt wenig später zurückgerannt und sagt: „Wir wollen euch zu uns einladen.“ Frank und mir schmeichelt es, dass sie uns jetzt plötzlich für Wessis halten, und wir nehmen gern an. Den Grund ihrer Einladung erfahren wir auch bald: Sie wollen Geld wechseln. Omi hat mir für die Reise 40 D-Mark geschenkt, die ich bisher als eiserne Reserve aufgehoben habe, da wir sie notfalls überall umtauschen können. Um die Polen in ihrem Glauben zu bestärken, erkläre ich mich bereit, 20 Mark gegen Lewa zu tauschen – natürlich zu einem viel besseren Kurs, als ihn Jürgen bei der bulgarischen Staatsbank bekommt.
Detlev hat das Zelt und die Doppelluftmatratze mitgenommen, so dass ich die letzten zwei Nächte in Franks Zelt verbringen muss. Durch den weichen, sandigen Untergrund ist das aber durchaus bequem. Am Freitag machen wir uns zu dritt Gedanken über die beste Fluchtroute. Sehr schnell einigen wir uns auf Rumänien als Ausgangsland.

Die Flucht

Am Samstag, den 15. September 1979 setzt mich Jürgen gegen Mittag zusammen mit Frank an einem Straßencafé in Burgas ab und fährt weiter zum Flughafen. Eine Stunde später kommt er mit seiner Freundin Anke zurück, und zu viert sitzen wir noch eine ganze Weile im Café. Wir reden ihr gegenüber freimütig über unsere Fluchtabsichten, und ich scherze: „Ich bin ja lang, ich winke dann mal über die Berge, wenn wir drüben sind.“ Dann verabschieden wir uns, und Jürgen fährt Anke zu ihrem Hotel. Als Frank und ich zehn Minuten später zu unserem vereinbarten Treffpunkt auf einem Parkplatz schlendern, steht dort schon der beige „Käfer“. Anke und Jürgen packen eilig Ankes Gepäck vom Rücksitz in den Kofferraum. Bevor wir das Auto erreichen, ruft Anke uns schon zu: „Ich komme mit!“ Im Auto erzählt sie, sie habe unsere Worte zunächst nicht für voll genommen. In ihrem Bekanntenkreis redeten ständig Leute von Abhauen, ohne dass jemand das ernst meine. Denn wer es wirklich vorhat, spricht nicht darüber. Schließlich sagt sie: „Aber das würde ich nicht verkraften, wenn du über die Berge winkst, und ich bin noch hier.“
Wir haben Burgas kaum verlassen, als uns ein Rettungswagen nach dem anderen mit Blaulicht und Sirene überholt. Nach einigen Kilometern stoppt uns ein Polizist. Jürgen versteht dessen Anweisung nicht sofort und muss dafür prompt fünf D-Mark Strafe zahlen. Kurz darauf rollen wir langsam über eine Wiese neben der Straße und sehen den schrecklichen Unfall: Ein sowjetischer Reisebus und ein LKW sind frontal zusammengestoßen. Die Vorhänge des Busses haben riesige Blutflecken, von der Fahrerkabine des LKW ist nichts übrig geblieben ...
Spät am Abend erreichen wir Russe an der Donau. Die bulgarischen Grenzer sind etwas verwundert, als sie in einem westdeutschen Auto drei Ostdeutsche antreffen. Aber da wir nach Rumänien unterwegs sind, wissen sie auch nicht, was sie dagegen einwenden sollen. Dann überqueren wir die einzige Brückenverbindung zwischen Bulgarien und Rumänien. Die rumänischen Grenzer interessiert es wenig, aus welchem Teil Deutschlands wir kommen. Schon auf der Hinfahrt haben wir bemerkt, dass vielen Rumänen die deutsche Teilung und die damit verbundene Problematik gar nicht recht bewusst ist. Deutschland ist Deutschland, egal ob auf dem Ausweis ein Adler oder Hammer, Zirkel und Ährenkranz prangt.
Gegen Mitternacht durchqueren wir ein Außenviertel von Bukarest. Straßenbeleuchtung gibt es hier überhaupt nicht, und auch in keinem der Fenster ist Licht zu sehen. Die Scheinwerfer des Autos ziehen halb verfallene, gespenstisch wirkende Häuser aus der Finsternis. Von Bukarest aus nehmen wir die Autobahn nach Piteşti, die wir um diese Nachtzeit ganz für uns allein haben. Obwohl sie viel neueren Datums ist als z.B. die Autobahn von Dresden nach Berlin, ist sie in einem ähnlichen Zustand. Das Auto hüpft von einer durchgebogenen Betonplatte auf die nächste. Hinter Piteşti müssen wir wieder die Landstraße nehmen, die jedoch in einem guten Zustand ist, so dass Anke, Frank und ich etwas Schlaf finden. Im Morgengrauen erwachen wir, und Jürgen sagt: „Jetzt habe ich doch einen Hund überfahren.“
Es ist schon sieben Uhr, als wir bei Drobeta-Turnu Severin wieder die Donau erreichen. Gegenüber liegt nun Jugoslawien. Die Straße führt fast direkt am Ufer entlang. Nur eine kleine Böschung trennt uns vom Wasser, auf der alle hundertfünfzig bis zweihundert Meter ein hölzerner Wachturm steht. Jedoch ist, wie wir zweifelsfrei erkennen können, nur jeweils jeder zweite oder dritte von ihnen besetzt. Nachts könnten wir uns also leicht ins Wasser schleichen und hinüberschwimmen. Allerdings ist der Fluss hier einen Kilometer breit, und uns ist bei dem Gedanken doch etwas mulmig, denn wir sind alle keine ausdauernden Schwimmer.
Nach etwa 15 km knickt die Donau nach links ab, während die Straße an der Trichtermündung eines Nebenflusses geradeaus weiterführt. Nachdem wir ihn auf einer Brücke überquert haben, biegt Jürgen nach links in eine Straße ein, die durch eine Gartenkolonie führt. Sie endet in einer Querstraße, auf der sich ca. 50 m zur Linken ein Kontrollposten mit einer Schranke befindet. Ein paar Soldaten sind eben damit beschäftigt, einen PKW zu kontrollieren. Schnell wenden wir, gerade noch rechtzeitig, um so tun zu können, als hätten wir nicht bemerkt, dass uns einer der Soldaten heranwinkt. Der hat aber vermutlich im selben Moment das westdeutsche Kennzeichen gesehen und die Sache auf sich beruhen lassen. Jedenfalls werden wir nicht verfolgt.
Die Donau bildet nur etwa die Hälfte der rumänisch-jugoslawischen Grenze, der andere Teil ist Landgrenze. Wie wir uns hier am Eisernen Tor überzeugen konnten, ist die Grenzsicherung in Rumänien längst nicht so perfekt und lückenlos wie beispielsweise in der DDR. Denn dort wären wir mit dem Auto wohl gar nicht erst an den Fluss herangekommen. Zudem wäre garantiert jeder Wachturm besetzt, und vor dem Ufer stünden noch zwei Stacheldrahtzäune. Also weist sicher auch die Landgrenze Lücken auf, die wir uns zunutze machen können, ohne zu riskieren zu ertrinken. Um dort hin zu gelangen, müssen wir das Banater Gebirge überqueren. Mittlerweile geht aber der Sprit zur Neige. Mit den letzten Tropfen kommen wir in dem Bergstädtchen Anina an und hoffen, hier tanken zu können. Doch leider gibt es in diesem Ort keine Tankstelle. Wir müssten schon nach Oraviţa
, das 20 km entfernt ist. Glücklicherweise ist die Strecke dorthin durchgängig abschüssig, so dass Jürgen den Motor abstellt und den „Käfer“ rollen lässt.
Nach dem Tanken fahren wir Richtung Nordwesten, nach Moraviţa. Wir wissen, dass die Grenze nicht mehr weit ist, aber dass sie schon so nahe ist, war uns nicht bewusst. Auf halber Strecke erkennen wir zur Linken in wenigen hundert Metern Entfernung eine Reihe von Wachtürmen. Kurz bevor die Straße bei Moraviţa in die Hauptstraße von Timi
şoara nach Belgrad mündet, werden wir von zwei älteren Soldaten angehalten. Hier in der Gegend leben zahlreiche Deutsche, und auch die beiden sind offenbar deutschstämmig, denn sie sprechen recht gut Deutsch, wenn auch in einem uns bislang unbekannten Dialekt. Sie freuen sich, endlich einmal mit Leuten aus Deutschland reden zu können, und nehmen es deshalb mit der Ausweiskontrolle nicht so genau. Als Jürgen ihnen seinen Reisepass und seine Fahrzeugpapiere herausgereicht hat, geben sie sich damit zufrieden. Da wir drei anderen ja auch Deutsch sprechen – ein etwas anderes Deutsch als sie selbst -, wird schon alles seine Richtigkeit haben. Mit den besten Wünschen lassen sie uns weiterfahren.
An der Hauptstraße nehmen wir nicht den Weg Richtung Jugoslawien, da der Grenzübergang schon ganz nahe sein muss, sondern fahren ein paar Kilometer in die entgegengesetzte Richtung. Die Grenze knickt hinter der Straße nach Nordwesten ab, so dass wir uns nicht allzu weit von ihr entfernen. In einem Wäldchen bei Denta warten wir die Nacht ab. Jürgen stellt fest, dass er vor Aufregung den Tankdeckel in
Oraviţa liegen lassen hat. Als es dunkel wird, strecke ich mich mit Frank im Zelt aus, um noch ein paar Stunden zu schlafen, während Anke und Jürgen dasselbe im Auto versuchen. Allerdings wird es sehr schnell entsetzlich kalt. Tagsüber ist das Wetter hier noch sehr angenehm, doch obwohl wir uns nicht einmal mehr im Gebirge befinden, nähert sich die Temperatur jetzt rasch dem Gefrierpunkt, Deshalb flüchte ich mich mit Frank bald zu den beiden anderen ins Auto.
Kurz nach Mitternacht brechen wir zu dritt auf. Wir wollen uns nach Südwesten vorpirschen und hoffen, gegen 4 oder 5 Uhr, wenn die Müdigkeit bei den Wachsoldaten am größten ist, die Grenze zu erreichen. Jürgen soll sich bei Sonnenaufgang auf den Weg zum Grenzübergang machen. Auf jugoslawischer Seite führt dicht an der Grenze eine Straße entlang. Dort soll er auf und ab fahren und nach uns Ausschau halten.
Zunächst bewegen wir uns auf Feldwegen vorwärts, doch nach etwa einem Kilometer schleichen wir uns quer durch die Maisfelder. Wir ahnen nicht, dass in diesem Moment zwei Familien in einem Heißluftballon von Thüringen nach Bayern schweben.
Anfangs verursachen wir beim Laufen durch den Mais noch lautes Rascheln, doch lernen wir schnell, uns fast geräuschlos durch die Felder zu bewegen. Leider kommen wir nicht sehr schnell voran. Als die Morgendämmerung anbricht, erreichen wir eine lange Halle, aus der es nach Schwein stinkt. Von der Grenze ist weit und breit nichts zu erkennen. Jetzt müssen wir versuchen, so schnell wie möglich nach Denta zurückzukommen. Und es gibt tatsächlich jemanden, der um diese Uhrzeit dorthin fährt. Dem Dacia-Fahrer kommt es sicher spanisch vor, dass sich zu so früher Stunde drei Deutsche in dieser Gegend herumtreiben, doch stellt er keine Fragen. Immerhin wollen wir ja von der Grenze weg, nicht zu ihr hin. Er hat uns in Denta kaum an der Hauptstraße abgesetzt, als wir in der Ferne schon den beigefarbenen „Käfer“ aus dem Wäldchen rollen sehen. Mit der Flucht ist es vorerst also nichts geworden, aber wenigstens haben wir uns nicht verloren.
Zuerst einmal müssen wir etwas zum Frühstücken auftreiben. In dem Städtchen Deta ein paar Kilometer weiter finden wir ein Restaurant im ersten Stock, das am Morgen schon geöffnet hat. Auch hier bekommen wir das übliche Grillsteak mit Röstkartoffeln serviert. Über Reşiţa und Anina gelangen wir wieder nach Oraviţa. Von hier aus führt auch eine Straße zu einem kleinen Grenzübergang im Süden. Nach unseren Karten macht sie nach ca. 15 km eine weite Linkskurve und verläuft etwa drei Kilometer vor der Grenze parallel zu dieser. Nach weiteren sechs Kilometern kommt eine Kreuzung, von der es nach rechts zum Grenzübergang geht. An dieser Kreuzung wollen wir abends aussteigen, uns die letzten drei Kilometer neben der Straße entlang schleichen und versuchen, die Grenze möglichst nahe am Kontrollpunkt zu überqueren.
Bald hinter Oraviţa hält uns ein Soldat an. Er ist noch ganz jung und spricht kein Wort Deutsch. Nach unseren Berechnungen sind es noch etwa 10 km bis zur Grenze. Durch die Erfahrung des Vortages haben wir inzwischen eine gewisse Gelassenheit im Umgang mit diesen Posten entwickelt, und vor allem Jürgen reagiert in diesem Moment ausgesprochen cool. Bereitwillig drückt er dem Soldaten ein Dokument nach dem anderen in die Hand: Reisepass, Personalausweis, Führerschein, internationalen Führerschein, Fahrzeugpapiere, Versicherungskarte, Blutspenderausweis... Am Ende hält dieser an die zehn verschiedene Ausweise in der Hand und weiß überhaupt nicht, was er damit anfangen soll. Irgendwie hat er aber noch im Hinterkopf, dass er verpflichtet ist, die Dokumente aller Fahrzeuginsassen zu kontrollieren. Als er gerade zu einer schüchternen Geste ansetzt, die ausdrücken soll, dass er auch von uns anderen einen Ausweis sehen will, bietet ihm Jürgen eine Zigarette an. Sofort vergisst der Soldat seine Pflicht und greift zu. In diesem Moment hören wir eine Stimme aus dem Straßengraben und sehen, wie sich dort ein zweiter junger Soldat erhebt. Selbstverständlich bekommt auch er eine Zigarette. Nun zeigt sich, dass der Soldat scheinbar doch ein wenig Deutsch kann, denn er sagt zum Abschied etwas, was nach „Gute Fahrt!“ klingt. Witzigerweise hat ihnen Jürgen noch nicht einmal Westzigaretten angeboten, auf die die Rumänen noch viel mehr abfahren als die Ostdeutschen, sondern zwei Zigaretten der DDR-Marke „Club“, die Anke im Flugzeug mitgebracht hat. Aber diesen Unterschied werden sie garantiert nicht bemerken, denn im Vergleich zu den in Rumänien erhältlichen Tabakwaren sind „Club“ die reinsten Westzigaretten.
Vor dem nächsten Dorf befindet sich zur Linken ein einsamer Parkplatz. Hier halten wir an, um die Nacht abzuwarten. Am Nachmittag gehe ich mit Frank ins Dorf, um etwas einzukaufen. Jetzt fühlen wir uns schon halb als Wessis, denn die Einheimischen müssen uns ja für solche halten. In dem kleinen Laden, den wir finden, gibt es mehr und bessere Lebensmittel, als ich sie im Rest des Landes gesehen habe. Vermutlich werden die Grenzregionen besser versorgt, um bei den Ortsansässigen, die sich mit der Grenze auskennen, dem Hang zur Flucht möglichst wenig Nahrung zu geben und sie zugleich als Informanten über verdächtige Fremde im Grenzgebiet bei Laune zu halten.
Als es schon fast dunkel ist, fahren wir weiter. Eingangs der lang gezogenen Linkskurve halten wir noch einmal an. Frank und ich werfen unser Gepäck hinter einen Busch, um Jürgen bei der Grenzkontrolle nicht in eine unbequeme Situation zu bringen. Viel ist es ohnehin nicht. Zwei Schlafsäcke und ein paar Kleidungsstücke Made in GDR, ein kleines Zelt Made in Poland … Unsere Dokumente behalten wir natürlich bei uns, auch den grünen Sozialversicherungsausweis, der in Größe und Farbe äußerlich stark dem bundesdeutschen Reisepass ähnelt. Anke dagegen lässt ihre Koffer so, wie sie sie aus Reichenbach mitgebracht hat, im Auto. Jürgen wird schon irgendeine Erklärung dafür einfallen. Hinter der Kurve passieren wir immer wieder Soldaten, die die Straße entlang laufen. Einmal kommt uns ein Mann mit erhobenen Händen entgegen, hinter dem mehrere Soldaten gehen. Einer von ihnen hält ein Gewehr im Anschlag. Oh Gott, wenn es drei Kilometer vor der Grenze schon so zugeht … Als wir die Kreuzung erreichen, an der wir aussteigen wollen, ereilt uns der nächste Schock. Wir stehen nicht drei Kilometer vor dem Grenzübergang, sondern … fünfzig Meter. Später erfahren wir, dass auf sämtlichen in Osteuropa herausgegebenen Straßenkarten die Maßstäbe im Bereich des „Eisernen Vorhangs“ systematisch gefälscht werden. Das ist wohl auch der Grund, warum wir in der Nacht zuvor die Grenze nicht gefunden haben.
Nach einer kleinen Ewigkeit sagt Jürgen: „Jetzt kann ich nur zu der Tankstelle zurückfahren.“ Diese habe ich gar nicht bemerkt, da ich mich ganz auf die Seite zur Grenze hin konzentriert habe. Sie befindet sich etwa 150 m von der Kreuzung entfernt, und außer dem Tankwart, der in seinem Häuschen sitzt, ist dort niemand. Jürgen stellt das Auto in der dunkelsten Ecke ab und geht zu ihm hin, um ihn mit ein paar unsinnigen Fragen abzulenken. Währenddessen schleichen wir uns aus dem Wagen, lehnen die Türen nur an, huschen über die Straße und springen die Böschung hinunter, wo wir vor einem Maisfeld stehen. Jetzt zeigt sich, dass unser misslungener Versuch der vorangegangenen Nacht doch zu etwa gut war, denn wir bewegen uns gewandt und fast geräuschlos zwischen den Maisstengeln. Das Feld ist etwa 50 m breit, direkt dahinter verläuft ein Pfad. Wir stecken unsere Köpfe aus dem Mais und erschrecken schon wieder. Vom Kontrollpunkt her kommt ein Soldat genau auf uns zu. Er ist noch etwa 10 m entfernt. Ich schaffe es, geräuschlos drei bis vier Meter zurück zu eilen, Anke und Frank legen sich fast direkt am Feldrand flach auf den Boden. Beide behaupten hinterher, der Mann habe einen Hund bei sich gehabt. Diesen habe ich aber nicht gesehen.
Als minutenlang alles ruhig bleibt, wagen wir uns vorsichtig aus dem Mais. Der Grenzübergang befindet sich gut 100 m zur Linken in einer Senke. Das ist günstig für uns, denn dadurch kann uns das dortige Licht nicht erreichen. Vor uns liegt ein etwa 200 m breiter Streifen Ödland, welcher scheinbar mehrmals pro Jahr umgepflügt wird. Das letzte Mal liegt aber schon eine Weile zurück, denn er ist mit ziemlich hohem Unkraut überwuchert, in dem wir liegend einigermaßen versteckt sind. Beim Kriechen über den Acker verlassen Frank und mich ein wenig die Kräfte. Mehrmals halten wir inne und versuchen uns mit Galgenhumor zu stimulieren. „Weißt du, was eine gute Abschreckung wäre: wenn hier überall Kreuze stehen würden mit Namen, und darunter 'erschossen am soundsovielten, erschossen am soundsovielten …'“ Einmal drehe ich mich auf den Rücken, schaue in den Himmel und habe das Gefühl, dass uns die Sterne günstig gesonnen sind. Anke ist hier die Aktivste von allen. Sie ist schon zehn Meter vor uns, kommt irgendwann zurückgekrochen und zischt uns an: „Kommt ihr jetzt endlich!“
Vor uns verläuft quer eine Baumreihe. Als wir schon nahe heran sind, erkennen wir davor einen gut zwei Meter hohen Stacheldrahtzaun. Die Stacheln sind weit genug auseinander, so dass wir bequem dazwischenfassen können, und die Bäume und Büsche dahinter bieten ausreichenden Blickschutz. Das Problem ist, dass die alten rostigen Drähte beim Besteigen entsetzlich knarren. Deshalb müssen wir während des Überkletterns mehrmals für einige Minuten innehalten, ehe ein anfahrendes Auto am Grenzübergang unsere Geräusche wieder übertönt.
Hinter den Bäumen zieht sich erneut ein etwa 200m breiter offener Streifen; allerdings ist dieser mit so hohem Gras bewachsen, dass selbst ich mit meinen zwei Metern Größe gut darin versteckt bin. Die rumänische Grenzstation haben wir inzwischen passiert und sehen nun etwa 400m links vor uns auf einer Anhöhe die jugoslawische Kontrollstelle. Jetzt kommen wir ein wenig zügiger vorwärts, und da wir seit Verlassen des Maisfeldes keine weiteren Pfade passiert haben, ist es höchst unwahrscheinlich, dass sich in unmittelbarer Nähe jemand aufhält. Natürlich wissen wir nicht, was uns weiter vorn erwartet, und bewegen uns deshalb so vorsichtig und geräuscharm wie möglich. Kurz vor einem weiteren Saum aus Bäumen endet das hohe Gras abrupt, und wieder stehen wir vor einem Stacheldrahtzaun. Er ist ganz neu und kaum höher als anderthalb Meter. Viel mehr Sorgen macht uns das, was wir dahinter erblicken. Dort verläuft ein etwa fünf Meter breiter vegetationsloser Streifen mit vor kurzem geglätteter Oberfläche. Minen???!
Nachdem wir den Zaun überstiegen haben, zögern wir einen Moment. Doch ein Zurück gibt es nun nicht mehr. Anke hat es heute Abend am eiligsten, in den Westen zu kommen. Sie nimmt ihr Herz in die Hand und stapft plötzlich in großen, vorsichtigen Schritten los. Wir beiden anderen folgen genau in ihren Fußspuren.
Was auch immer noch kommen mag, das Gefährlichste haben wir hinter uns. Nun stehen wir vor einem so dicht verwachsenen Gebüsch, dass ein Weiterkommen auf geradem Wege unmöglich ist. Wir wenden uns nach rechts und müssen etwa hundert Meter laufen, ehe wir einen Durchschlupf finden. Noch immer haben wir keinen weiteren Fußweg passiert und gehen deshalb davon aus, dass wir keinen rumänischen Soldaten mehr begegnen werden, zumal wir uns jetzt schon etwa in Höhe des jugoslawischen Kontrollpostens befinden müssen. Wie es die Jugoslawen mit der Grenzsicherung halten, wissen wir nicht, auch nicht, was sie tun würden, wenn wir ihnen in die Arme liefen. Nach einigen hundert Metern Wildnis gelangen wir zu einem kleinen Friedhof. Die Grabsteine darauf sind … kyrillisch beschriftet. Die Grenze liegt hinter uns.
Nun müssen wir uns einfach nur links halten. Wir haben mit Jürgen vereinbart, dass er am Ortsausgang des jugoslawischen Grenzdorfes auf uns wartet. Bald gelangen wir zu einigen Häusern. In Rumänien ist es jetzt schon Mitternacht, da das Land in der osteuropäischen Zeitzone liegt und zudem bereits die Sommerzeit eingeführt hat, in Jugoslawien ist es erst 22 Uhr. In zahlreichen Fenstern brennt noch Licht, doch auf der Straße ist niemand zu sehen. Während wir am Ortsrand entlang laufen, beglückwünschen wir uns gegenseitig: „Hallo Bundesbürgerin Anke, hallo Bundesbürger Frank, hallo Niederländer Matthias!“
Die Hauptstraße macht eine scharfe Linkskurve und knickt wenig später ebenso scharf wieder nach rechts ab. Als wir diese Kurve passiert haben, erblicken wir vor uns am Straßenrand den „Käfer“. Wir klopfen aufs Dach und sagen „Milizja!“. Jürgen schrickt hoch, springt in langen Unterhosen aus dem Auto und ruft aus: „I packs net!!!“ Beim Weiterfahren erzählt er, jedes Mal, wenn irgendwo ein Hund gebellt hat, sei er er überzeugt gewesen, dass sie uns jetzt haben. Er selbst ist sehr schnell und ohne große Gepäckkontrolle über die Grenze gekommen.
Von nun an durchqueren wir Landschaften und Orte, die kaum ein gebürtiger DDR-Bürger je gesehen hat. Nach anderthalb Stunden erreichen wir Belgrad und müssen uns erst einmal einen neuen Tankdeckel besorgen. Da hier etliche „Käfer“ herumstehen und deren Tankdeckel nicht abschließbar sind, dauert das nicht lange. In Belgrad könnten wir am Vormittag auf die bundesdeutsche Botschaft gehen. Die würde uns Ersatzreisepässe ausstellen, mit denen uns die Jugoslawen nach Österreich oder Italien weiterreisen ließen. Doch das weiß niemand von uns.
Ich erwache, als wir auf einem Parkplatz neben dem „Autoput“ von Belgrad nach Zagreb stehen. Vor uns und hinter uns parken andere Pkws mit bundesdeutschem Kennzeichen, die sicher auf der Rückfahrt aus Griechenland sind. Auch Jürgen braucht jetzt erst einmal ein paar Stunden Schlaf.
Der zweispurige „Autoput“, werde ich später lesen, ist die unfallreichste Straße Europas. An der neuen Autobahn von Belgrad nach Zagreb wird deshalb schon fleißig gebaut, wenn auch in mühevoller Kleinarbeit. Als wir am Vormittag weiterfahren, sehen wir immer wieder ein paar Dutzend Soldaten oder Jugendliche, die neben der Straße eine Schaufel Erde nach der anderen bewegen.
In Jugoslawien sieht alles noch ein wenig westlicher aus als in Ungarn, vor allem gibt es hier viel mehr Autos westlicher Fabrikation. Doch etwa die Hälfte der Fahrzeuge ist osteuropäischer Herkunft. Irgendwann sagt Frank: „Hier fahren mir noch zu viele Wartburgs rum, hier fühle ich mich noch nicht sicher.“
Wir sind uns bewusst, dass die schwierigste Grenze hinter uns liegt. Doch immerhin nennt sich Jugoslawien ein sozialistisches Land, und auch wenn es eine von Moskau unabhängige Politik betreibt, befürchten wir, an die DDR ausgeliefert zu werden, sollte uns hier Polizei oder Grenzschutz aufgreifen.
Bis zum sonnigen Mittag haben wir Zagreb und Maribor hinter uns gelassen und warten wenige Kilometer vor der Grenze zu Österreich auf einer Wiese den Abend ab. Jürgen drückt Frank und mir ein paar Dinar in die Hand und schickt uns damit in einen Dorfladen, um etwas zu essen und zu trinken zu kaufen. Das ist für mich schon richtiges Westgeld, da es frei konvertierbar ist. Und viele der Waren hier im Laden kenne ich aus den Intershops.
In der Abenddämmerung fahren wir zum Grenzübergang. Jürgen kennt Jugoslawien ja schon etwas und nimmt uns die Befürchtung, dass es vor der Grenze schon Kontrollen geben könnte. Auf einem Parkplatz unmittelbar vor dem Kontrollpunkt halten wir. Links der Straße verläuft eine Bahnlinie über die Grenze, haben wir der Karte entnommen. Zu dritt schlagen wir uns in den Wald, müssen ein wenig bergan gehen und stehen nach kurzer Zeit am Gleis. Da sich dahinter eine steile Böschung befindet, laufen wir links der Schienen, um ein wenig Sichtschutz zu haben. Bald befinden wir uns in Höhe der Grenzabfertigungsstelle, die zur Rechten unter uns liegt. Links vor uns sehen wir in einiger Entfernung einen Uniformierten zu einem Häuschen auf einer Anhöhe gehen. Nun bewegen wir uns so vorsichtig wie möglich weiter, doch nach wenigen Metern gelangen wir zu einem Schild neben der Bahnstrecke, auf dem von der anderen Seite das Wort 'Landesgrenze' steht. Wir sind in Österreich. Dadurch werden wir etwas unvorsichtig und unangemessen laut. Ein österreichischer Grenzbeamter, der kaum dreißig Meter entfernt am Kontrollpunkt steht, schaut mehrmals genau in unsere Richtung hinauf. Doch das Licht, das zu uns gelangt, ist zu schwach, als dass er etwas Konkretes erkennen könnte. Als wir den Kontrollpunkt hinter uns haben, stellen wir fest, dass es hier gar nicht so einfach ist, auf die Straße zurück zu gelangen, denn dazu müssten wir etwa fünf Meter in die Tiefe springen. Wir müssen ein ganzes Stück weiter laufen, ehe wir zu einer Tankstelle gelangen, hinter der die Wand nur etwa 2 m hoch ist.
Nun sind wir uns schon sehr sicher, dass wir es geschafft haben, und in diesem Moment werden wir von Emotionen überwältigt. Dabei weiß ich kaum, was in mir stärker ist: Freude oder Trauer. Die Tür in den Westen ist für uns einen Spalt weit aufgegangen, doch unmittelbar hinter uns wieder zugeschlagen. Alles bisherige, von dem mir doch manches lieb und teuer war, ist nun unwiderruflich verloren. Das wird mir nirgends so schmerzhaft bewusst wie auf jenem Parkplatz am Grenzübergang Spielfeld. Jürgen kommt uns schon mit großem Hallo entgegen. Diesmal hat er keine Ängste ausgestanden, sondern war sich sicher, dass wir es schaffen würden. Unsere Freudenbekundungen in hier völlig unbekannten Dialekten – zumindest jenem von Anke und mir – erregen die Aufmerksamkeit und Verwunderung anderer Parkplatzbenutzer.

Da die DDR-Regierung gegenüber der Bundesrepublik auf Geheiß Moskaus auf Distanz bleiben muss, versucht Honecker seit einiger Zeit verstärkt mit Österreich anzubändeln und insbesondere den Wirtschafts- und Kulturaustausch zu intensivieren. Irgendjemand von uns hat sogar gehört, dass es inzwischen einen Auslieferungsvertrag mit Österreich geben soll. Daher ziehen wir es vor, uns hier nicht bei den Behörden zu melden, sondern noch eine weitere grüne Grenze zu überschreiten. Zunächst wollen wir aber furchtbar gern Wien sehen. Jürgen hingegen meint, das sei ein zu großer Umweg. Auf der Autobahn nicken wir ein, irgendwann weckt uns Jürgen und sagt: „Jetzt sind wir doch in Wien gelandet.“ Wir fahren einen breiten, prächtigen Boulevard entlang. Alles ist glänzend, farbenfroh und hell erleuchtet. Der Westen eben, wie wir ihn erwartet haben. Am Straßenrand stehen einige Prostituierte, die Jürgen bereitwillig den Weg zur Autobahn nach Salzburg erklären.
Gegen halb vier am Morgen haben wir Salzburg passiert, und Jürgen hält fünfhundert Meter vor dem Grenzübergang direkt auf der Autobahn. Anke und ich steigen aus, doch Frank sagt, er sei zu geschafft, und will im Auto bleiben. Jürgen hat erzählt, dass an diesem Grenzübergang oft durchgewunken wird. Darauf hofft Frank nun. Für Anke und mich stellt die Überschreitung der Grenze keinerlei Problem dar. Unmittelbar hinter den Abfertigungsgebäuden führen Waldpfade von Österreich nach Deutschland. Auf deutscher Seite stellen wir uns ein gutes Stück hinter der Kontrollstelle direkt an die Autobahn und warten auf die beiden. Doch sie lassen sich nicht blicken. Nach etwa einer halben Stunde kommt aus einem Waldweg ein dunkelgrüner „Käfer“, dem ein sehr junger und ein älterer Polizist entsteigen. Ich habe ein mulmiges Gefühl, denn ich bin überzeugt, dass es sich um österreichische Polizisten handelt, die uns nachgefahren sind. Bundesdeutsche Polizeiuniformen habe ich im Fernsehen schon gesehen, doch diese hier sehen anders aus. Ich kann ja nicht wissen, dass die Uniformen von einem Bundesland zum anderen variieren. Während der ältere Polizist am Auto wartet, kommt der junge auf uns zu und spricht uns in schwer verständlichem Bayrisch an: „Sie haben doch vorhin da oben gestanden, haben Sie mal einen Ausweis?“ Wir drücken ihm unsere blauen DDR-Ausweise in die Hand. Er blättert vor, er blättert zurück, er blättert wieder vor und ruft irgendwann aus: „DDR???“ Es klingt, als würde er sagen: „Vom Mars???“ „Ja, Flüchtlinge“, bestätigen wir. Stolz geht er auf seinen Vorgesetzten zu, hält unsere Ausweise hoch und sagt schon von weitem: „Zwomal grüne Grenze!“ Wir müssen in den Käfer einsteigen und werden etwa einen Kilometer zu einem Revier gefahren. Der Anblick ihres Büros ernüchtert mich. Das Mobiliar ist ein wenig gediegener, das Telefon moderner, doch ansonsten unterscheidet sich dieser Raum in nichts von den Büros der Volkspolizei, die ich dutzendweise kennen lernen musste. Die beiden sind ein wenig ratlos, wie sie jetzt weiter mit uns vorgehen sollen. Wir sagen: „Rufen Sie doch mal am Grenzübergang an, dort müssen noch zwei von uns sein.“ Das tun sie nach einigem Zögern auch und werden von dort aufgefordert, uns zur Kontrollstelle zu bringen.
Hier sehen wir unseren beigen „Käfer“ in der Mitte zwischen den beiden Fahrstreifen stehen und begrüßen uns mit großem Hallo. Frank und Jürgen erzählen, wie es ihnen ergangen ist. Frank hatte auf seine „Reiseanlage für den visafreien Reiseverkehr“, auf der wie bei mir mit Schreibmaschine
15 Tage VR Ungarn
15 Tage SR Rumänien
15 Tage VR Bulgarien
stand, mit Kugelschreiber dazugeschrieben:
15 Tage Jugoslawien
15 Tage Österreich
90 Jahre Bundesrepublik Deutschland.
Zusammen mit seinem blauen Personalausweis reichte er diese bei der Kontrolle dem Grenzbeamten. Der schaute Jürgens Ausweis an, schaute Franks Ausweis an und gab beide zurück. Frank sagte daraufhin: „Aber das da mit Kugelschreiber habe ich selbst geschrieben, das ist ungültig." Doch der Grenzbeamte verstand immer noch nicht. Erst als Jürgen erklärte, das sei ein Flüchtling, ging ihm ein Licht auf und er antwortete: "Ach Flüchtling! Ja da fahren Sie doch mal bitte rechts ran."
Wir müssen hier bis acht Uhr warten, dann wollen uns irgendwelche zuständige Personen aus der nahen Kreisstadt abholen. Die Beamten am Übergang sind viel netter und freundlicher als die beiden Polizisten. Sie freuen sich ganz offensichtlich mit uns, dass es mal wieder welche geschafft haben. Wir können uns in dem Kontrollgebäude frei bewegen und dürfen sogar auf die österreichische Seite zurückgehen, wo uns Jürgen in einem Restaurant ein Frühstück spendiert. Zum ersten Mal esse ich ein „original“ Wiener Schnitzel. Als ich später mit Anke im Auto sitze, kommt Frank plötzlich angestürzt und keucht: „Guckt mal da, guckt mal da!!!“ Wir drehen uns um. Am Kontrollpunkt steht ein supermoderner PKW amerikanischer Bauart von einer enormen Länge und Breite mit … Ostberliner Kennzeichen. Ich sehe nur noch, wie der Fahrer seinen Pass gelassen herein nimmt und aufs Gas tritt. Frank meint: „Ich wäre dem am liebsten in die Frontscheibe gesprungen.“ Es kann sich eigentlich nur um Devisenbeschaffer Schalck-Golodkowski gehandelt haben, von dessen Existenz wir zu diesem Zeitpunkt jedoch noch nichts wissen. Wer sonst in der DDR hatte einen solchen Schlitten und durfte damit frei in Westeuropa herumreisen?
Die Beamten, die kurz nach acht Uhr eintreffen, behandeln uns ebenfalls sehr freundlich. Es ist vermutlich nicht das erste Mal, dass sie einen solchen Fall haben, aber allzu oft kommt es wohl auch nicht vor. Sie fahren uns in ein Büro in Bad Reichenhall, wo sie unsere Personalien aufnehmen und uns ein provisorisches Dokument ausstellen, aus dem hervorgeht, dass wir uns bei den Behörden der Bundesrepublik gemeldet haben und angewiesen wurden, umgehend das Notaufnahmelager Gießen aufzusuchen. Während der Herr mit Schreiben beschäftigt ist, bekommt er einen Anruf. Am anderen Ende ist vermutlich einer der beiden Polizisten, die uns am Morgen festgenommen haben, denn ich höre ihn sagen: „Nein, nein, das übernehmen wir schon, da brauchen Sie weiter nichts zu machen … Nein, nein, die Meldefrist wurde ja eingehalten.“ Wenig später können wir unsere Fahrt in Jürgens „Käfer“ fortsetzen.

Epilog

Gegen Mittag erreichen wir Selb in Oberfranken, wo Jürgen aufgewachsen ist. Er parkt den „Käfer“ am Marktplatz, bittet uns, kurz zu warten, steigt aus und geht davon. Nach einigen Minuten kommt er zurück und führt behutsam seine Mutter im Arm. Sie schaut ins Auto, ist einen Moment verblüfft und sagt dann: „Die Anke!“
Nur 50 km Luftlinie sind es bis zu Ankes Geburtsort Reichenbach im Vogtland, doch erst nach einer über 4'000 km weiten abenteuerlichen Reise konnte sie, ebenso wie wir beiden anderen, hierher gelangen.
Kaum hat Jürgens Mutter ihre Überraschung überwunden, sagt sie: „Habt ihr schon gehört, da sind welche mit einem Heißluftballon abgehauen; die sind ganz hier in der Nähe gelandet, bei Naila.“ Wir sind nicht sehr begeistert. Eben erst haben wir es geschafft, in den Westen abzuhauen und fühlen uns als kleine Helden, da stehen wir auch schon im Schatten von anderen. Noch weniger erfreut sind wir, als wir etwas später hören, dass diese Leute vom Magazin „Stern“ sofort 90'000 DM für ein Exklusivinterview bekommen haben sollen. An einem Interview mit uns wird sich niemand interessiert zeigen, schon gar nicht gegen Bezahlung. Schließlich sind wir, wie ich wenige Tage darauf in Gießen lesen werde, nur drei von etwa achtzehntausend, denen seit 1961 die Flucht über Balkanstaaten gelungen ist.****

Wir wurden zwar angewiesen, schnellstmöglich das Notaufnahmelager Gießen aufzusuchen, doch auf ein, zwei Tage kommt es nicht an, ließ der Herr durchblicken. Also bleiben wir zunächst in Selb und kommen in der Wohnung von Jürgens Oma unter. Sie ist vor Überraschung und Freude ganz aufgeregt und reißt sich fast ein Bein aus, um uns einen angenehmen Aufenthalt zu bieten. Den Abend verbringen wir in Jürgens Stammkneipe, wo wir natürlich im Mittelpunkt des Interesses stehen.
Als wir am Morgen in kurzen Abständen das Haus verlassen, steht dort ein Herr mit drei Briefumschlägen in der Hand und sagt: „Herzlich willkommen in der Bundesrepublik! Ich bin nicht der Bundespräsident, aber … herzlich willkommen in der Bundesrepublik!“ Diese Worte wiederholt er dreimal und drückt jedem von uns einen Umschlag in die Hand, in dem sich jeweils 60 DM befinden. Er ist ein Verwandter von Jürgen, ein Konstrukteur aus Bamberg. Dann lädt er uns in seinen Audi ein, um uns die Stadt und die Umgebung zu zeigen. Es ist ein ganz neues Modell. Der neueste Schrei in der Autobranche sind elektrische Scheibenheber, und natürlich ist dieses Auto damit ausgestattet, was er uns mehrmals stolz vorführt.
Wir wissen, dass jedem DDR-Bürger 150 DM Begrüßungsgeld zustehen. Doch mit dem Papier, das uns in Bad Reichenhall ausgestellt wurde, bekämen wir das erst in Gießen ausgezahlt, wird uns gesagt. Irgendeine Behörde in Hof stattet uns aber zumindest mit Fahrkarten dorthin aus. Am nächsten Morgen besteigen wir den Zug nach Frankfurt. Als wir in Gießen ankommen, ist es Freitagnachmittag, und wir erkennen, dass es ein Fehler war, heute schon hierher zu kommen. Es ist Wochenende, und wir müssen nun zwei Tage untätig hier herumsitzen. Immerhin hat die Caritas geöffnet, bei der wir uns einige neue Kleidungsstücke aussuchen können, und auch unser Begrüßungsgeld bekommen wir bald ausgezahlt.
Auf der Straße vom Lager ins Stadtzentrum befinden sich fast ausschließlich Sex-Shops, Pornokinos und Bars mit Animierdamen. Natürlich kann auch ich dieser Versuchung nicht widerstehen und lasse dort einige Zehner liegen. Von den Pornofilmen, die ich sehe, bin ich allerdings enttäuscht. Ich hatte erwartet, dass diese mit ein paar Verführungsszenen beginnen und dadurch Spannung aufgebaut wird. Aber nein, ausziehen, rein, raus, rein, raus …
Gießen empfinde ich als eine ziemlich reizlose Stadt und verbringe deshalb unangemessen viel Zeit bei Apfelkorn in der Lagerkantine, wo ich mich mit anderen Ostdeutschen unterhalte, die eben erst im Westen eingetroffen sind. Fast alle sind freigekaufte Häftlinge.
Am Montagmorgen beginnt endlich das Aufnahmeverfahren und ich erfahre, dass ich seit meiner Geburt Bürger der Bundesrepublik Deutschland bin, da diese die DDR-Staatsbürgerschaft nicht anerkennt. Als ich erkläre, dass ich aber in die Niederlande will, sagt der Beamte: „Kein Problem, Holland gehört zur Europäischen Gemeinschaft. Wenn sie dort Arbeit und eine Wohnung finden, dürfen Sie sich dort gerne niederlassen.“ Vorstellungen hat der Mann! Wie soll ich, der doch im Westen nichts und niemanden kennt, in Holland eine Arbeit und eine Wohnung finden? Und welcher Holländer würde den Unterschied zwischen mir und einem Hamburger oder Kölner begreifen? Ganz anders sähe es aus, wenn ich in Holland politisches Asyl erhalten und anfangs eine gewisse Betreuung erfahren hätte. So muss ich mich also vorerst doch in der Bundesrepublik niederlassen. Da möchte ich aber wenigstens in der Nähe von Jürgen und Anke und Frank bleiben. Doch nicht einmal das geht. Die einzelnen Bundesländer haben bestimmte Aufnahmequoten, und da Bayern ein begehrtes Zuzugsland ist, ist dessen Quote ständig ausgeschöpft. Das erste Bundesland kann uns zugewiesen werden, erfahre ich. Anke und Frank können in Selb bleiben, da sie keine Verwandten in anderen Bundesländern haben. Ich jedoch habe einen Großonkel in Giengen an der Brenz, den ich noch nie in meinem Leben gesehen habe. Also muss ich nach Baden-Württemberg, basta. Später könne ich meinen Wohnort ja frei wählen.

Nach fünf Tagen, am Mittwoch, dem 26. September, kann ich das Notaufnahmelager Gießen endlich verlassen. Ich habe eine Fahrkarte nach Rastatt bekommen, wo sich das zentrale Aufnahmelager des Landes Baden-Württemberg befindet. Mit mir fährt ein junger Mann, der erzählt, er habe in der DDR schon einige Semester studiert, sei dann bei einem Fluchtversuch verhaftet und nach etwa zweijähriger Haft freigekauft worden. Zusammen mit ihm und einem jungen Flüchtling aus Rumänien bewohne ich eine Woche lang ein kleines Zimmer mit zwei Doppelstockbetten im Zentrum von Rastatt. In dieser Zeit unternehme ich zwei kurze Reisen.
Zunächst fahre ich nach Giengen, um endlich meinen Großonkel kennen zu lernen und das Grab meines Opas zu besuchen, der hier acht Jahre zuvor auf seiner zweiten Reise als Rentner in den Westen verstorben ist. Ein oder zwei Jahre davor hatte er beim Zeitunglesen mir gegenüber noch gewitzelt: „Da ist mal wieder einer sozialistisch gestorben. Hat geackert bis 65 und kurz danach den Löffel abgegeben, um dem Staat bloß nicht lange auf der Tasche zu liegen.“ Bald darauf war er selbst „sozialistisch“ gestorben. Inzwischen habe ich mich mit seinem Tod abgefunden, auch wenn er mir noch lange im Traum erscheinen wird. Vor dem schlichten Grabstein mit der Aufschrift 'Rudolf Behlert, 1904-1971' nehme ich endgültig von ihm Abschied.
Die zweite Reise mache ich zusammen mit meinen beiden Zimmergenossen. Wir haben noch keine bundesdeutschen Papiere, wollen aber mal schauen, ob wir nicht trotzdem nach Frankreich gelangen können. Bis zum Rhein sind es etwa 8 km, die wir per Anhalter zurücklegen. Der französische Fahrer, der uns mitnimmt, ist den Grenzern bekannt und wird durchgewunken. Über eine Pontonbrücke rollen wir nach Frankreich. Noch einen Monat zuvor hatte ich in meinem ganzen Leben gerade mal drei Länder bereist; nun sind es schon zehn. Am frühen Nachmittag erreichen wir Straßburg, besichtigen das Münster und die malerische Altstatt. Als wir später über die Rheinbrücke nach Kehl laufen und den deutschen Grenzern unsere beiden DDR-Personalausweise und den rumänischen Pass vorlegen, sind diese ziemlich perplex. Zwar haben wir alle drei auch ein Dokument, aus dem hervorgeht, dass wir in der Bundesrepublik gemeldet und registriert sind, doch sagt einer von ihnen kopfschüttelnd: „Die Beamten dort oben hätten euch niemals über die Grenze lassen dürfen.“ Damit ist die Sache jedoch auch schon erledigt, und wir treten auf der deutschen Rheinseite per Anhalter den Rückweg nach Rastatt an.
Wenige Tage darauf werde ich zusammen mit meinem Zimmergenossen aus der DDR in ein geräumigeres Wohnheim in Endingen am Kaiserstuhl verlegt. Mittlerweile habe ich einen bundesdeutschen Personalausweis und erhalte Arbeitslosengeld, das danach berechnet wurde, wie viel ich in meinem letzten Beruf im Durchschnitt in der Bundesrepublik verdient hätte.
Irgendwoher habe ich sehr schnell ein Fahrrad bekommen, fahre damit in der goldenen Oktobersonne mehrmals über den romantischen Kaiserstuhl zum Rhein, esse in einer Dorfschänke auf der elsässischen Seite zu Mittag und mache mich anschließend wieder auf den Rückweg. Hätte ich gewusst oder auch nur geglaubt, dass ich bald wieder in Dresden sein kann, es wäre sicher eine wunderbare Zeit geworden. So aber werden all die schönen Erlebisse überschattet von tiefer Trauer über das unwiederbringlich Verlorene.
Ich möchte als erstes das Abitur nachholen und erhalte die Adresse einer Beratungsstelle für Weiterbildung in Pforzheim. Dort wird mir gesagt, die jungen Leute aus der DDR würden erfahrungsgemäß im Englischunterricht nicht mitkommen, und da ich erwähnt habe, dass ich etwas Russisch und Polnisch spreche, sucht die Dame für mich ein Gymnasium mit angeschlossenem Internat in Düsseldorf heraus, in dem diese beiden Sprachen unterrichtet werden. Mitte Oktober reise ich kurz dort hin, um mich vorzustellen, und werde sofort aufgenommen. Daher packe ich am 20. Oktober endgültig meine Sachen und ziehe nach Düsseldorf. Es wird ein Schlag ins Wasser.
Der Polnischunterricht, der dort angeboten wird, ist auf so genannte Spätaussiedler aus Polen zugeschnitten, also auf Personen, für die Polnisch quasi Muttersprache ist, da sie zuvor mindestens zehn Jahre auf polnische Schulen gegangen sind. Hier hänge ich also noch viel mehr durch, als es im auf deutsche Schüler zugeschnittenen Englischunterricht hätte der Fall sein können. Auch in weiteren Hinsichten fühle ich mich in jenem Gymasium völlig fehl am Platze.
Aber das ist bereits eine andere Geschichte ...




* Die wenigen nach dem Mauerbau noch verbliebenen Schlupflöcher an der innerdeutschen Grenze waren bis Ende der Siebzigerjahre weitestgehend abgedichtet und andere Methoden wie Tunnelgrabungen oder Schleusung in Fahrzeugen durch Inbetriebnahme entsprechender Sensoren unmöglich gemacht worden. Es blieben somit im Wesentlichen nur drei Fluchtwege mit einer gewissen - wenn auch teilweise trügerischen - Aussicht auf Erfolg: über andere Ostblockstaaten, über die Ostsee oder durch die Luft.
Im Segelflugzeug hatte es vor dem Jahr 1979 nur eine einzige DDR-Flucht gegeben, nämlich am 23. Juni 1973, als sich der mehrfache DDR-Meister im Streckenflug Udo Elke während der DDR-Meisterschaften im mecklenburgischen Neustadt-Glewe gen Westen absetzte.
Während die beiden Segelflugzeugfluchten vom Mai bzw. Juni 1979 sowie die Flucht eines Agrarpiloten mit drei weiteren Personen in einem Düngemittelstreuer im Juli 1979 noch ratlos und zähneknirschend hingenommen wurden, provozierte die Flucht des Dresdner Ingenieurs mit seiner Familie von Annaberg aus heftige Reaktionen, die in Insiderkreisen unter der Bezeichnung "Militärputsch" bekannt sind.
Alle Sportarten, die sich potentiell militärisch ausbeuten ließen - nicht zuletzt also sämtliche Luftsportarten - unterstanden der "Gesellschaft für Sport und Technik" (GST). Diese stellte die notwendige Ausrüstung und diktierte zugleich die Bedingungen, unter denen diese genutzt werden durfte. Unmittelbar nach Bekanntwerden der zuletzt genannten Flucht am 24. August 1979 (dem Tag übrigens, an dem ich die DDR in Richtung Bulgarien verließ) erging ein absolutes Startverbot an alle Sportflugplätze. Dies betraf insbesondere die damals 78 Segelflugplätze. Für 43 von ihnen bedeutete es das völlige Ende des Flugsports bis zum Zusammenbruch der DDR oder darüber hinaus. Auf den verbliebenen 35 Plätzen durfte ab Mai 1980 wieder geflogen werden. Jedoch wurden der Flugbetrieb sowie die Sicherung der Flugplätze und des Inventars nun nach strikt militärischen Prinzipien organisiert, und die Flugwege der Piloten wurden peinlich genau überwacht. Dennoch kam es in den 1980er Jahren zu zwei weiteren Fluchten mit Flugzeugen der GST. Zudem hatte sich die DDR damit selbst noch ein wenig unattraktiver gemacht und ein Stück weit ihr eigenes Grab geschaufelt. Konnten bis 1979 noch Tausende das Segelfliegen als Freizeitsport betreiben, durch den sie während der wärmeren Monate jedes Wochenende die harsche DDR-Realität für eine Weile unter sich zurückließen, war das Fliegen seither nur noch einem ausgewählten Personenkreis zugänglich und diente fast ausschließlich der vormilitärischen Ausbildung. Auch wenn diese Maßnahmen nicht unmittelbar die breiten Massen trafen, leisteten sie dem wachsenden Frust und DDR-Verdruss doch spürbaren Vorschub.
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** Abschnittsbevollmächtigter (ABV) - für eine oder mehrere Gemeinden bzw. einen Stadtteil zuständiger Volkspolizist, ähnlich dem Kontaktbereichsbeamten (KOB) in der Bundesrepublik
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*** Wenige Wochen nach meiner Ankunft in der Bundesrepublik berichtete mir ein rumäniendeutscher Flüchtling von einem Fall, den er scheinbar aus erster Hand kannte. Zwei DDR-Bürger waren bei dem Versuch festgenommen worden, im Banat die Grenze von Rumänien nach Jugoslawien zu überschreiten. Da ein Dolmetscher anwesend war, konnten sie bei einer umgehenden Vernehmung ihre Situation schildern. Kurze Zeit später wurden sie ohne weitere Konsequenzen - insbesondere ohne Mitteilung an die Behörden der DDR - freigelassen. Sie erhielten lediglich eine eindringliche Warnung mit auf den Weg, es ja nicht noch einmal zu versuchen.
Zu vermuten ist, dass dies kein Einzelfall war und es hier eine nicht näher zu ermittelnde Zahl von zwar gescheiterten, jedoch ungeahndeten Fluchtversuchen gab. Allerdings sind mir mittlerweile auch Fälle bekannt, die mit der Verhaftung und Auslieferung an die DDR endeten.
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**** Mittlerweile gehe ich davon aus, dass diese Zahl viele Personen einschloss, die zwar ebenfalls über Balkanstaaten, jedoch auf andere Weise geflüchtet sind, beispielsweise mit einer Reiseerlaubnis für Jugoslawien, die zu Beginn der Sechzigerjahre noch recht leicht zu bekommen war, oder durch Flucht in die Botschaft eines westlichen Staates auf dem Balkan. Somit dürfte die Anzahl der Flüchtlinge, die wie wir tatsächlich den „Eisernen Vorhang“ im engeren Sinne überwunden haben, weitaus geringer sein. Die sehr empfehlenswerte Arbeit „Die verlängerte Mauer“ von Monika Tantzscher beispielsweise nennt auf S. 82 für das Jahr 1979 lediglich 161 gelungene DDR-Fluchten "über andere Ostblockstaaten" (denen in diesen Ländern 1'162 gescheiterte Fluchten gegenüber stehen).
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Dieses 2012 entstandene Video zeigt die letzten Kilometer vor der Stelle, an der wir die Grenze von Rumänien nach Jugoslawien überquerten: https://www.youtube.com/watch?v=rnKfELcNrrU
Die Aufnahme beginnt etwa 5 km hinter dem Dorf Răcăşdia, in dessen Nähe wir die Dunkelheit abgewartet haben. Zwischen 0:10 und 0:40 haben wir noch einmal angehalten, um uns einiger verräterischer Gepäckstücke zu entledigen. Hinter dem Dorf Nicolinţ (0:49 bis 1:45) patroullierten in unregelmäßigen Abständen Soldaten auf der Straße. Irgendwo zwischen 3:00 und 5:00 kam uns auf der anderen Straßenseite ein Mann mit erhobenen Händen entgegen, der von Soldaten abgeführt wurde. Bei 6:25 ist rechts die Zufahrt zum Grenzübergang zu erkennen.
Zunächst ging ich davon aus, dass das bei 6:16 zur Linken zu sehende rundum verglaste Häuschen Teil der Tankstelle war und wir die Straße etwa bei 6:20 überquert haben. Auf den Satellitenaufnahmen befindet sich die betonierte Fläche der ehemaligen Tankstelle jedoch kurz vor diesem Häuschen (welches wahrscheinlich erst später errichtet wurde). Bei 6:10 und 6:15 sind die beiden Zufahrten zur Tankstelle zu sehen. Nahe der letzteren haben wir unbemerkt das Auto verlassen und uns über die Straße geschlichen.
Zu beachten ist, dass diese Aufnahme im Winter entstand und die abgeernteten Felder einen relativ weiten Blick gestatten. Unsere Sicht war hingegen durch die zahllosen Maisfelder zu beiden Seiten der Straße stark eingeschränkt. Beispielsweise konnten wir die Gebäude des Grenzkontrollpunktes wie auch das von dort ausgehende Licht erst wahrnehmen, als wir an der Kreuzung rechts abbogen.



Hier ein Satellitenfoto des Grenzübergangs Naidăş/Kaluđerovo mit unserem etwaigen Fluchtweg und Erläuterungen (zum Vergrößern zweimal darauf klicken und gegebenenfalls etwas warten, bis sich die Schärfe einstellt):

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